Vergangenheitspolitik hängt zusammen mit der „monumentalen“ (Friedrich Nietzsche) Auffassung von Geschichte, die nicht oder nicht in erster Linie Interesse daran hat, wie es eigentlich gewesen ist – auch wenn sie den Wahrheitsanspruch notwendig erhebt –, sondern daran, welche Effekte sich durch Erinnerung und Vergessen erzielen lassen. Vergangenheitspolitik muß deshalb Einzigartigkeiten behaupten und den historischen Kontext aufheben. Auch das wurde am „Fall Hohmann“ exemplarisch deutlich. Allerdings zeigte der Konflikt auch, daß Vergangenheitspolitik als Teil der Politik niemals unumstritten ist, sondern herrschende Deutungsmuster der Geschichte durch konkurrierende in Frage gestellt werden. Dabei verspricht die sachliche Argumentation nur begrenzten Erfolg. Veränderungen in vergangenheitspolitischen Konzepten sind nicht oder nicht nur das Ergebnis von Aufklärung, sondern lassen sich auch zurückführen auf die Verschiebung von Interessenlagen, atmosphärische Einflüsse, Mentalitätswandel.
Für die westdeutsche Vergangenheitspolitik der Nachkriegszeit stand immer die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime im Mittelpunkt, ohne daß die grundsätzliche Bewertung dieser Ära strittig gewesen wäre. Entgegen einer heute verbreiteten Auffassung sah die Bevölkerung Hitler und sein Regime kurz nach dem Zusammenbruch ausgesprochen negativ. In Erhebungen, die die Besatzungsbehörden durchführten, zeigte sich, daß die überwältigende Mehrheit die früheren Verhältnisse ablehnte und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wissen wollte. Das erklärt auch, warum sogar die Nürnberger Prozesse auf Zustimmung stießen. Die Einschätzung wurde erst in der folgenden Jahren und nur teilweise korrigiert – die Umstände der Entnazifizierung, der Okkupation überhaupt, die Vertreibung, die Teilung und die Probleme des Wiederaufbaus – trugen dazu bei. Auch wenn man die Meinung für überzogen hält, die Westdeutschen hätten die braune Vergangenheit in den fünfziger Jahren „kommunikativ beschwiegen“ (Hermann Lübbe), ist zuzugeben, daß diese erste Phase die Vergangenheitspolitik nicht mit jener Ausschließlichkeit auf die nationalsozialistische Herrschaft konzentriert war wie die späteren Phasen und daß vor allem jede Art von Kollektivschuldbehauptung auf entschiedenen Widerspruch traf.
Die Gründe dafür lagen in der Unmittelbarkeit jener Erfahrungen, die die Deutschen mit dem totalitären Regime und als Opfer ihrer militärischen Gegner gemacht hatten. Die wiederum sahen sich im Kalten Krieg gezwungen, Rücksicht auf „ihre“ Deutschen zu nehmen, deren militärische Hilfe sie wünschten und mit deren Gerechtigkeitsgefühl sie aus politischen Gründen zu rechnen hatten. Bezeichnend ist das Vorgehen des Justizministers Thomas Dehler (FDP), an dessen Ablehnung der NS-Diktatur kein Zweifel sein konnte, der aber bei dem Versuch der Alliierten, Druck durch neue Kriegsverbrecherprozesse auszuüben, eine Tu-quoque-Akte anlegen ließ, in der Tausende von Verstößen amerikanischer und britischer Soldaten gegen das Kriegsvölkerrecht festgehalten waren. Dehler durfte sicher sein, daß diese Art von „Aufrechnung“ allgemeine Zustimmung gefunden hätte.
Was die Vergangenheitspolitik der fünfziger und frühen sechziger Jahre kennzeichnet war aber nicht nur das differenzierte Bild der NS-Zeit, sondern mehr noch das Bemühen, eine vollständige Verdunkelung der deutschen Geschichte zu verhindern. Deshalb prägte eine gewisse „Behutsamkeit“ alle offiziellen Stellungnahmen: das verletzte Selbst der Deutschen sollte nicht weiter beschädigt werden, sondern heilen. Viele, gerade viele ausländische Beobachter, fürchteten, daß eine dauernde Demütigung unter Verweis auf die NS-Zeit die Deutschen zu unkalkulierbaren Reaktionen treiben würde, und es gab in Deutschland selbst gar keine Stimme von Gewicht, die in Frage stellte, daß das „Dritte Reich“ nur ein Teil – und zwar ein kleiner Teil – der Nationalgeschichte gewesen sei und daß diese Nationalgeschichte insgesamt einen Trost für das Desaster biete. Als die Katholische Akademie Bayerns im Frühjahr 1960 ein Symposion zum Thema „Gibt es ein deutsches Geschichtsbild?“ veranstaltete, äußerte der Historiker Hans Buchheim, „… daß nicht die Idee der Nation und nicht das Prinzip nationaler Politik zur Katastrophe von 1945 geführt haben, sondern erst deren totalitäre Pervertierung“. Buchheim ging sogar noch weiter und erklärte, das Regime Hitlers biete im Grunde weniger eine Lektion in deutscher Geschichte als eine im Hinblick auf die Geschichte der Moderne und deren Fatalitäten: „Daß sich unsere Jugend gegen die Ideen aus dem Inkubationsbereich des Nationalsozialismus als weitgehend immun erweist, sollte noch keinen Anlaß zum Optimismus geben. Denn, wenn sie auch auf nationalistische Phrasen, antisemitische Hetze, Volkstumsromantik und dergleichen nicht mehr anspricht, so zeigt sie doch auch einen erschreckenden Mangel an Verständnis für Politik. Was nützt ihre erfreuliche Bereitschaft, die Wahrheit über das Dritte Reich zu hören, was nützt ihre Abscheu vor den Verbrechen, die damals begangen worden sind, wenn diese mit der gleichen Neigung zu unpolitischem Denken und moralischem Rigorismus verbunden sind, die die Generation ihrer Väter dem Nationalsozialismus verfallen ließen! Was nützt es, wenn sie das Dritte Reich verurteilt, ohne zu verstehen, wie leicht auch sie selbst den Täuschungen und der Verführung totalitärer Argumentation erliegen kann. Diesmal sind andere Köder ausgeworfen, die Taktik aber ist die gleiche geblieben.“
Prophetische Worte, ausgesprochen nicht von irgend jemanden, sondern von einem Mann, der zur Gründergeneration des Münchener Instituts für Zeitgeschichte gehörte und bei den Auschwitz-Prozessen als Gutachter herangezogen wurde. Wie Buchheim dürfte zu Beginn der sechziger Jahre noch eine Mehrheit der westdeutschen Historiker gedacht haben, aber sie geriet zunehmend in Bedrängnis. Dabei spielten vor allem zwei Faktoren eine Rolle: Die Abschottung der Bundesrepublik nach dem Mauerbau, verbunden mit ihrer weltpolitische Marginalisierung durch die Détente, und ein Generationenkonflikt, in dessen Verlauf sich die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit als ausgezeichnete Waffe der Jüngeren im Kampf gegen die Älteren erweisen sollte. Daß dabei einige Ältere eine wichtige Rolle als Wegbereiter spielten – Karl Jaspers mit seiner Abhandlung Freiheit und Wiedervereinigung (1960), in der der Verzicht auf die nationale Einheit als Buße für die Verbrechen des NS-Regimes empfohlen wurde, und Fritz Fischer mit seinem Buch Griff nach der Weltmacht (1961) über die angebliche Kontinuität deutscher Außenpolitik von Wilhelm II. zu Hitler – sei nur am Rande erwähnt, im Kern ging es um den Versuch der Dreißig- bis Vierzigjährigen, mit einer bestimmten Art vergangenheitspolitischer Argumentation ihre eigene Deutungshoheit nicht nur fachwissenschaftlich, sondern auch politisch durchzusetzen.
Es ist zu Recht auf die Rolle hingewiesen worden, die in diesem Zusammenhang Privatdozenten und Hochschulassistenten spielten, die durch Studienaufenthalte in den USA entscheidend geprägt worden waren. Soweit es sich um Historiker oder Politikwissenschaftler handelte, leiteten sie jenes „Umschreiben der Geschichte unter dem Gesichtspunkt der demokratisch verfaßten Gesellschaftsordnungen des Westens“ (Wolfgang Mommsen) ein, dem auf unterer Ebene die Durchsetzung einer Ideologie entsprach, die als Substrat der reeducation die Vorstellung enthielt, die ganze deutsche Geschichte sei ein Irrweg gewesen, der am gegebenen Ziel – einer Gesellschaftsordnung nach westlichem Muster – vorbei stracks in die Vernichtungslager führte. Daß die Universitäten von Berlin, Frankfurt und Heidelberg von der amerikanischen Besatzungsmacht als Stätten der „Umorientierung“ geplant waren und dann zu Ausgangspunkten der radikalen Studentenbewegung wurden, war insofern kein Zufall, das eine hing mit dem anderen zusammen. Die Übertragung von Versatzstücken des amerikanischen Hochschulsystems trug dazu ebenso bei wie die Implantation einer bestimmten Art des politischen Denkens, das sich durch den Glauben an die Machbarkeit auszeichnete und durch die Fremdheit gegenüber historischen Bedingungen. Bereits 1948 hatte die britische Seite vor den Folgen jener „übereifrigen Reform“ gewarnt: sie schädige „… in erster Linie die Gesellschaft selbst. Der Schaden ist um so gefährlicher, als er erst nach Ablauf einer Generation ganz zum Vorschein kommt und dann kaum mehr zu beheben ist“ (Blaues Gutachten zur Neugestaltung des deutschen Hochschulwesens).
Man darf die große gesellschaftliche Umwälzung, die Mitte der sechziger Jahre begann, nicht als einen Prozeß vorstellen, der sich ohne Widerstand vollzog. Soweit die neue Vergangenheitspolitik offen antipatriotisch war oder auf dem fußte, „was der rote Großvater erzählt“, blieb sie ohne Aussicht auf breitere Zustimmung. Anders war das mit dem Vorschlag, die deutsche Geschichte zu „demokratisieren“, den sich vor allem der aus der SPD hervorgegangene Bundespräsident Gustav Heinemann zu eigen machte und mit der Autorität seines Amtes durchzusetzen suchte. In einer Ansprache zum hundertsten Jahrestag der Reichsgründung schlug er eine Reihe alternativer Erinnerungsdaten vor: den Bauernkrieg an Stelle der Reformation, Blum an Stelle von Bismarck, 1919 an Stelle von 1871, den Widerstand des Proletariats an Stelle desjenigen der Offiziere. Aber auch das traf noch auf wohlbegründeten Einspruch. Für die Opposition gab der CDU-Abgeordnete Richard von Weizsäcker eine Stellungnahme ab, der zu Folge das Bismarckreich die einzige Form des deutschen Nationalstaats war und dessen Wiederherstellung durch das Grundgesetz geboten sei.
In seiner Rede zum 8. Mai 1985 unterwarf sich derselbe Richard von Weizsäcker, nun seinerseits als Bundespräsident, einem Geschichtsdenken, das er in Person, aber eigentlich das ganze bürgerliche Lager, bis dahin als falsch und feindlich bekämpft hatte. Mit der Anerkennung, daß man 1945 keinen „Zusammenbruch“, sondern eine „Befreiung“ erlebt habe, war die entscheidende Kehre der deutschen Vergangenheitspolitik vollzogen. Alles, was bis in die sechziger Jahre unbestritten gewesen war und danach im Konflikt behauptet werden konnte, wurde beiseite geschoben. An die Stelle der alten traten neue Axiome zur Deutung der deutschen Geschichte: dieser wohnt insgesamt eine negative Tendenz inne, ihre traditionell als wertvoll betrachteten Aspekte (etwa die Zeit der sächsischen oder der staufischen Kaiser, die Reformation, der Aufstieg Preußens, die Romantik, die Freiheitskriege, die nationale Einigung) sind wertlos, wenn überhaupt, dann kann man sich nur an den – allerdings regelmäßig gescheiterten – progressiven Ansätzen orientieren, im Grunde wäre es sowieso besser, die deutsche Geschichte auf zwei Epochen zu reduzieren: die vor 1945 (Schreckbild) und die nach 1945 / 1968 (Vorbild); von den Deutschen als „Volk“ ist nur dann zu sprechen, wenn sie als Schuld- oder Haftungsgemeinschaft auftreten.
Die Linke, der ursprüngliche Träger dieses Konzepts, hat mit seiner Durchsetzung allen älteren Vorstellungen eines eigenen Patriotismus und einer entsprechenden Vergangenheitspolitik abgeschworen: angefangen bei den Ideen der traditionellen Sozialdemokratie über die „nationalrevolutionären“ Ansätze in Teilen der APO bis hin zum Entwurf der Friedensals gesamtdeutscher Bewegung Anfang der achtziger Jahre. Zuletzt war die Versuchung überstark, den Gegner mit dem Hinweis auf historische Versäumnisse niederzuhalten und die Mischung aus Antifaschismus und Antipatriotismus als letzten denkbaren Konsens angesichts schwindender ideologischer Glaubwürdigkeit zu nutzen.
Die bürgerlichen Gegner unterwarfen sich der neuen Art von Vergangenheitspolitik weniger aus Einsicht als aus Opportunismus. Nach dem Eklat um Kohls Berufung auf die „Gnade der späten Geburt“ bei seinem Staatsbesuch in Israel und dem gescheiterten Versuch, als Bundeskanzler an den Siegesfeiern der Alliierten in der Normandie teilzunehmen, nach der sogenannten Bitburg-Affäre und der Auseinandersetzung um die Ansprache des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 9. November 1988 wurde eine Kurskorrektur vorgenommen. Die erschien unumgänglich, weil es eben keine Mehrheit für jene „geistig-moralische Wende“ gab, die nach der Regierungsübernahme der schwarz-gelben Koalition versprochen worden war, und schon gar keine Unterstützung für weitergehende vergangenheitspolitische Vorstöße (Franz Josef Strauß: die Deutschen müßten aus „dem Schatten Hitlers heraustreten“, Alfred Dregger: „Die Schuld liegt zurück.“). Die Unionsspitze hat entsprechende Konsequenzen gezogen, wie spätestens am Frontverlauf im „Historikerstreit“ zu erkennen war, der im Juni 1986 begann und sich bis zum Beginn der neunziger Jahre erstreckte. Dabei ging es im Kern weder um das „faktische Prius“ des roten Klassen- gegenüber dem braunen Rassenmord, noch um die „Singularität“ der nationalsozialistischen Verbrechen, sondern um eine metapolitische Auseinandersetzung, die mit der Niederlage des bürgerlichen Lagers endete. Dessen Weigerung, die Gruppe von Wissenschaftlern um Ernst Nolte, Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand und Michael Stürmer gegen die von Jürgen Habermas geführte Kampagne zu decken, etablierte eine Vergangenheitspolitik, die sich qualitativ von allen früheren unterschied.
Auch links wird heute zugegeben, daß erst seit der Ära Kohl „… von einer bewußt betriebenen ‘Gedächtnispolitik´“ (Helmut Dubiel) gesprochen werden kann. Das Sondergesetz gegen die „Auschwitzlüge“, die Einrichtung besonderer Gedenktage (27. Januar, 9. November), die permanente pädagogische Auseinandersetzung, das alles hat seinen Ursprung in den achtziger Jahren ebenso wie die Konzentration der öffentlichen Debatte auf die entsprechenden Themen; um nur einige der letzten Beispiele zu nennen: die Auseinandersetzung um den Appell „Gegen das Vergessen“ (1995), die Goldhagen-Kontroverse über die Deutschen als „willige Vollstrecker“ (1996), der Konflikt um die Wehrmachtsausstellung (1997– 2000), der Streit zur Walserrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (Herbst 1998), die Diskussion über die Entschädigung für Zwangsarbeiter (Sommer 1999 / Winter 2000), die Debatte um die „Holocaust-Industrie“ (Winter 1999 / Frühjahr 2000) und nicht zuletzt der andauernde Zank um das Mahnmal in Berlin.
Wenn von einer neuen Qualität im Hinblick auf die Vergangenheitspolitik gesprochen werden muß, dann aber nicht nur wegen der Häufung, sondern auch wegen der steigenden Intensität der vergangenheitspolitischen Initiativen; die ist vor allem durch drei Merkmale gekennzeichnet:
(1) Die Instrumentalisierung, die sich historischer Argumente ganz offen als Mittel im Kampf gegen den weltanschaulichen Feind bedient. So etwa beim „Aufstand der Anständigen“ die Behauptung, daß „Rassismus und idiosynkratische Fremdenfeindlichkeit … mit Antisemitismus und Holocaust zwar nicht identisch, aber doch irgendwie in deren Nähe angesiedelt“ (Dan Diner) seien, was die Chance eröffnete, praktisch jede unliebsame Auffassung zu isolieren, da „Rassismus“, „Fremdenfeindlichkeit“, „Antisemitismus“ vollkommen entleerte Begriffe sind, die aber „doch irgendwie“ in die „Nähe“ der Judenvernichtung gehören.
(2) Die Emotionalisierung, die immer weniger wert auf Fakten legt, sondern ganz auf Einfühlung setzt. Als unlängst eine Lübecker Lehrerin Grundschüler mit grünen Pfeilen markierte und ihnen ein angeblich amtliches Schreiben vorlas, aus dem hervorging, daß ihre Taschen beschlagnahmt seien und sie so gezeichnet kein Geschäft oder Kino betreten dürften, sah die vorgesetzte Behörde trotz der Elternproteste von einer Disziplinierung ab. Der originelle didaktische Ansatz hatte immerhin die Betroffenheit der Kinder erhöht. Die gefühlsmäßige Aufladung hat selbstverständlich auch mit der kontinuierlich wachsenden Macht der Bilder zu tun. Wirklich ist, was gezeigt wird, unwirklich, was nicht gezeigt wird. Und dieser Vorgang wiederum steht in Verbindung mit der „Amerikanisierung“ (Peter Novick) des Holocaust, jenem Prozeß, bei dem die Medien vor allem die Empathiebereitschaft ausnutzen: „Wie auf den säkularen Rationalismus der französischen Aufklärer der romantische Idealismus folgt, so kündigt sich in der Faszination, die Kitsch und Tod für uns besitzen, ein neues romantisches Zeitalter an, das antirational, sentimental und kommunitarisch sein wird.“ (Ian Buruma)
(3) Die Dogmatisierung, die den Kern einer neuen Zivilreligion bildet. Während die Funktionstüchtigkeit von Bürgerreligionen normalerweise dadurch gewährleistet wird, daß die Kultgenossen den Kult vorschriftsmäßig vollziehen – den Eid auf die Verfassung ablegen, die Hymne singen, das Schulgebet sprechen –, ist im Fall der deutschen Vergangenheitspolitik die Lehre an die Stelle der Praxis getreten. Das heißt, daß das Befolgen der Regeln nicht genügt. Auch das war am Fall Hohmann deutlich zu erkennen, dessen Eskalation dadurch zustande kam, daß die Verwendung der richtigen Formeln das Mißtrauen der Inquisition gerade hervorrief und jedenfalls nicht vor der Ausstoßung bewahrte. Der Angeklagte war theologisch ungeschult und kannte keine der notwendigen Distinktionen.
Natürlich gibt es gegen die hier geschilderten Tendenzen Widerspruch. Die deutlichste Absage an die vorherrschende Form der Vergangenheitspolitik stammt ohne Zweifel von dem österreichischen Philosophen Rudolf Burger, der vor zwei Jahren einen Essay mit dem Titel Die Irrtümer der Gedenkpolitik – Ein Plädoyer für das Vergessen veröffentlichte, in dem es abschließend hieß: „Real ist die Nazizeit so versunken wie Karthago, das mumifizierende Gedenken verzaubert sie zum Mythos. … Wie die Dinge liegen, wäre Vergessen nicht nur ein Gebot der Klugheit, sondern auch ein Akt der Redlichkeit; und es wäre eine Geste der Pietät. Schlimme Folgen hätte es keine, nur vielleicht für das Geschäft.“ Die Aussicht darauf, daß solche Stimmen gehört werden, ist allerdings gering. Burger argumentiert als Aufklärer, und das macht die Schwäche seiner Position aus; entscheidend ist ja nicht, daß vergessen wird, sondern was vergessen wird und wer das festlegt.
Wenn überhaupt ein Wandel erhofft werden kann, dann auf anderem Wege. Während bisher alle Versuche, das seit Mitte der achtziger Jahre vorherrschende Konzept der Vergangenheitspolitik direkt in Frage zu stellen, scheiterten, weder die Wiedervereinigung als solche noch das Hinzutreten beeinflußungsresistenter Mitteldeutscher oder die Vorstöße einiger „Normalisierungsnationalisten“ (Peter Glotz) zu irgend etwas führten, wird man aber zugestehen müssen, daß die krisenhafte Zuspitzung der Lage nicht nur Veränderungen in der ökonomischen und institutionellen Basis, sondern auch im Überbau erzwingt. Einer, der solche Konsequenzen frühzeitig abgesehen hat, war Ignaz Bubis, der verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden, der ausgerechnet beim ersten Wahlsieg der rot-grünen Koalition vor einer Revision des deutschen Geschichtsbildes warnte. Bubis fürchtete vor allem die Unbekümmertheit der Linken, die nie sich selbst, sondern immer nur die anderen – etwa „die Deutschen“ – als haftbar für die Geschichte betrachtete. Der rationale Kern dieser Angst lag ohne Zweifel darin, daß die Herausforderungen, denen die „Berliner Republik“ zwangsläufig ausgesetzt wird, mit den Mitteln der bis dahin etablierten Vergangenheitspolitik nicht zu bewältigen sind.
Fraglos kommen Schröder und Fischer aus der antipatriotischen Tradition, sicher ist Fischer derjenige von beiden, der seine früheren Auffassungen bestenfalls in Richtung auf den linksliberalen Konsens korrigiert hat, während Schröder in dem Maß, in dem ihm die Möglichkeit entgleitet, die politischen und wirtschaftlichen Probleme mittels social engineering zu lösen, auf eine neue Art emotionaler Unterfütterung für das Gemeinwesen setzt. Dabei kopiert er ein Modell, das seit längerem von allen möglichen Bürgerinitiativen genutzt wird, in der Hoffnung, daß der Appell an die Tugenden der Trümmerfrauen und Kriegsheimkehrer bewirken werde, daß ein Ruck durch die Deutschen gehe. Sehr erfolgreich war das alles nicht, zumal man ängstlich den Eindruck zu vermeiden suchte, hier werde eine Art neuer Nationalismus propagiert. Solche Vorbehalte sind Schröder fremd, seine bisherigen Erfahrungen mit dem „eigenen deutschen Weg“ dürften ihn in der Auffassung bestärken, daß die vergangenheitspolitischen Tabus, die man so wirksam aufgerichtet hat, für das eigene Lager gar nicht gelten. Sein Besuch der Premiere von Sönke Wortmanns Film Das Wunder von Bern, die Erklärung, daß es eine „patriotische“ Pflicht sei, die Haushaltspolitik der Regierung zu unterstützen, das alles sind Indizien für die Vorbereitung eines neuen vergangenheitspolitischen Konzepts.
Aussicht auf Erfolg hat es, weil die Deutschen auf einen entsprechenden Appell seit langem warten, weil sie zermürbt sind von der Schuldrhetorik und weil die Opposition kaum etwas anderes anzubieten weiß. Allerdings wäre der Preis für den Erfolg hoch. Hatte der Antipatriotismus immerhin den Vorteil, die Erinnerung daran wachzuhalten, daß es eine deutsche Geschichte vor dem Jahr 1945 gab, wird der neue Patriotismus alles abtreiben, was an die fernere Vergangenheit erinnern könnte. Wer daran zweifelt, der sollte sich vor Augen führen, wie die Bundesregierung auf die Anliegen deutscher Zwangsarbeiter oder auf den Plan für das Zentrum gegen Vertreibungen reagiert hat. Hier wird wohl der Versuch gemacht, eine neue emotionale Grundlage für das Gemeinwesen zu schaffen, aber dieses Gemeinwesen soll genau jene „Konstruktion“ sein, als die man die Nationen zu betrachten lehrt: eine Kommunikations- und Wirtschaftseinheit, deren psychische Gesundheit durch wohl erwogene Therapien oder die Verabreichung von Sedativa gewährleistet wird.
Was gegen einen Erfolg Schröders spricht, sind die schwindenden Grundlagen für eine Vergangenheitspolitik im bisherigen Sinn überhaupt. Wie der Streit über die EU-Studie zum Thema „Antisemitismus“ schon zeigt, führt mutwillig geschaffene kulturelle und ethnische Heterogenität zu einer Fragmentierung, die jeden Versuch der Identitätsstiftung aussichtslos macht. Nimmt man die Ergebnisse der Untersuchung ernst, muß man die Einwanderer aus dem islamischen Bereich als „Feinde“ brandmarken, was aber wiederum mit den Prinzipien der bisherigen – multikulturellen – Vorgaben unvereinbar wäre; sieht man von der Exklusion ab, droht das Antisemitismusverbot unhaltbar zu werden; es sei noch vermerkt, daß sich diese Problemstellung seit geraumer Zeit abgezeichnet hat, in Gestalt jener Neubürger, die partout keine Verantwortung für die deutsche Vergangenheit (an der ihre Vorfahren eben unbeteiligt waren) übernehmen wollen und vor allem die geforderte Einfühlung verweigern. Ein anderer Sachverhalt, der gegen die Aussichten von Schröders Modell spricht, ist die erkennbar werdende Tendenz des „doppelten Meinungsklimas“ (Elisabeth Noelle-Neumann). Die Stellungnahmen des peuple réel in der Hohmann-Affäre wichen so offenkundig und so demonstrativ von denjenigen der politischen Klasse ab, daß man darin einen Indikator für den Umschwung der Stimmung überhaupt sehen kann. Allerdings sei vor allzu großem Optimismus gewarnt. Um die Deutungshoheit wird immer zwischen Eliten und Gegeneliten gestritten, tiefgreifende Veränderungen gerade auf dem Feld der Vergangenheitspolitik kommen nicht naturgesetzlich oder auf Grund von Mehrheitsverhältnissen zustande, die können nur unterstützend wirken.
In seiner berühmten und oft zitierten, aber selten genau gelesenen Rede über das Wesen der Nation hat Ernest Renan die Nation nicht nur als Ergebnis eines „täglichen Plebiszits“ bestimmt, sondern auch auf die Bedeutung hingewiesen, die der „Kult der Ahnen“ – die Erinnerung – und das Vergessen – „jeder Franzose muß die Bartholomäusnacht und die Massaker des 13. Jahrhunderts im Süden vergessen“ – für das Leben der Nation haben, daß weder die Erinnerung noch das Vergessen sich von selbst verstehen, daß es sich notwendigerweise um Streitfelder handelt. Wenn eine Partei in diesem Streit ihren Anspruch aufgibt, wird das, was sie für erinnernswert hält, abgeräumt. Es gibt für diesen Vorgang zahllose Beispiele, es gibt allerdings auch zahllose Beispiele dafür, daß die zähe und entschlossene Behauptung einer Minderheitenposition im Meinungskampf zum Erfolg führt, weil die Veränderung der Lage das eben noch Verfemte in neuem Licht erscheinen läßt.