Wenn jemand in kurzer Zeit das Wesentliche über Martin Hohmann und seine umstrittene Rede vom Tag der Deutschen Einheit 2003 recherchieren möchte, etwa per Internet, dann läuft er durchaus Gefahr, Informationen zu erhalten, die ihn zunächst einmal gründlich in die Irre führen. In einer chronologischen Auflistung aller Ereignisse in dieser Affäre eröffnet beispielsweise der Spiegel mit folgendem Geschehnis als Stein des Anstoßes: „3. Oktober 2003: Hohmann bezeichnet in Neuhof bei Fulda die Juden als ‘Tätervolk´. Er sagt im Zusammenhang mit Verbrechen während der kommunistischen Revolution in Rußland: „Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als ‘Tätervolk´ bezeichnen.“
An dieser Stelle reißt der zitierte Auszug aus der Rede ab. Der Leser erhält somit den Eindruck, daß die Sätze dem Tenor der Rede entsprechen oder zumindest eine seiner Stützen darstellen. In diesem Licht stehen fortan sämtliche folgenden Ereignisse der Spiegel-Chronik, beispielsweise die Abkanzelung der Rede durch Angela Merkel als völlig inakzeptabel und unerträglich, die Rücktrittsforderung von Jürgen Rüttgers, die Rüge durch Präsidium und Vorstand der Union, die Entlassung des Bundeswehrgenerals Günzel, nachdem dieser Hohmanns Rede in einem Brief an ihn gelobt hatte, Paul Spiegels Erklärung, Hohmann habe sich mit seinen Worten in eine Reihe mit „rechtsextremen, antisemitischen Brandstiftern“ gestellt, und schließlich der Antrag, Hohmann aus der CDU-Bundestagsfraktion auszuschließen. Ein lediglich über diese Chronik informierter Leser muß zu dem Eindruck kommen, daß all diese Reaktionen daher rührten, daß Hohmann eine in Deutschland lebende Minderheit, Überlebende eines Völkermordes, als „Tätervolk“ diffamierte. Wahrscheinlich wird er die erfolgten Reaktionen demnach als verständlich, wenn nicht als zwingend einschätzen. Viele weitere Artikel weisen in eine ähnliche Richtung.
Zu einem gänzlich anderen Eindruck gelangt man, wenn man die in den Medien zitierte Passage im Original betrachtet: „Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als ‘Tätervolk´ bezeichnen.“ So weit reichte auch das Zitat in der Spiegel-Chronik. Hohmann spricht allerdings weiter: „Das mag erschreckend klingen. Es würde aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet.“ Wohlgemerkt: Er spricht bei seiner These von Juden als Tätervolk zum einen im Konjunktiv. Vor allem aber erklärt er auch, daß diese These derselben Logik folge, mit der man die Deutschen als Tätervolk bezeichnet – was Hohmann offensichtlich zutiefst ablehnt. Anlaß seiner Rede war es also, bestehende Kollektivschuldzuschreibungen dadurch auszuhebeln, daß er das Unstatthafte der Verallgemeinerung möglichst krass veranschaulichte.
Aus diesem Grund fährt er fort: „Meine Damen und Herren, wir müssen genauer hinschauen.“ Die Juden, die Täter geworden seien, hätten zuvor ihre religiösen Bindungen gekappt, ähnlich wie die Nationalsozialisten. Und er kommt zu dem zentralen Schluß: „Daher sind weder ‘die Deutschen´, noch ‘die Juden´ ein Tätervolk. Mit vollem Recht aber kann man sagen: Die Gottlosen mit ihren gottlosen Ideologien, sie waren das Tätervolk des letzten, blutigen Jahrhunderts. Diese gottlosen Ideologien gaben den ‘Vollstreckern des Bösen´ die Rechtfertigung, ja das gute Gewissen bei ihren Verbrechen. So konnten sie sich souverän über das göttliche Gebot ‘Du sollst nicht morden´ hinwegsetzen.“ Weshalb er für eine Rückbesinnung auf religiöse Wurzeln und Bindungen plädiert und für eine Aufnahme des Gottesbezuges in die europäische Verfassung.
Das abgerissene Zitat und das Unterschlagen von Hohmanns Schlußfolgerung führen zu dem Eindruck, daß der Tenor seiner Rede in die exakt entgegengesetzte Richtung geht, als es tatsächlich der Fall ist. Selbst die hochangesehene Tagesschau arbeitet hier fahrlässig, wenn sie etwa formuliert: „Der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann hat in einer Rede zum Tag der deutschen Einheit Verbrechen während der russischen Revolution mit dem Holocaust verglichen. Im Zuge dessen nannte er die Juden ein ‘Tätervolk´.“
Später formuliert der Spiegel zurückhaltender, befördert jedoch auf semantischer Ebene dieselben Assoziationen. So heißt es in einem Folgeartikel: „Hohmann hatte in einer Rede zum Jahrestag der deutschen Einheit Juden in Zusammenhang mit dem Begriff ‘Tätervolk´ gebracht.“ Das ist sicherlich richtig. Hohmann hatte ausgeführt, die Juden seien kein Tätervolk. Damit schuf er, wie vom Spiegel behauptet, einen deutlichen Zusammenhang: eine Negation. Wenn Bundeskanzler Schröder allerdings über Roland Koch sagen würde, dieser sei wahrlich kein Genie, würde der Spiegel dann formulieren, Schröder habe Koch in den Zusammenhang mit Genialität gebracht? Gerade im Bereich politischer Existenz gibt es keinen schwereren Vorwurf als den, Antisemit zu sein. Die Negation eines Zusammenhangs zu unterschlagen, kommt deshalb einem Rufmord gleich.
Die immer wieder als entscheidend betrachtete Frage ist die, ob Hohmanns Rede antisemitischen Charakter hatte. Hier scheinen die Meinungen weit auseinander zu gehen. So betrachtete der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz die Ansprache als „Lupenreines Exempel“ (Süddeutsche Zeitung vom 11. November 2003) für einen antisemitischen Text. Aber Benz Interpretation wird nicht von jedem geteilt, der sich mit der Rede gründlich auseinandersetzte.
Der amerikanische Politikwissenschaftler jüdischer Herkunft Norman Finkelstein äußerte sich am 9. November 2003 bei Sabine Christiansen: „Diese ganze Debatte ist für mich ein billiges Streben nach Sensation, orchestrierte Hysterie. Ich sehe nicht den geringsten Zusammenhang zwischen dem, was in Ausschwitz passiert ist, und der Rede von Herrn Hohmann. In seiner Rede sagt er an keiner Stelle, die Juden seien eine Täterrasse oder ein Tätervolk. Er sagt, die Atheisten, die Gottlosen seien das. Ich weiß nicht, ob die Deutschen die Rede wirklich gelesen haben. Ich habe eine Übersetzung bekommen und habe sie sorgfältig studiert.“ Andere Personen, die sich an dieser Debatte beteiligt haben, gelangen zu derselben Auffassung – so etwa die mehr als 1600 zum Teil prominenten Unterzeichner der Initiative „Kritische Solidarität mit Martin Hohmann“.
Hohmanns Rede enthält nichts, was gewöhnlich als Merkmal des Antisemitismus betrachtet wird: „die Juden“ als minderwertige Gruppe zu zeichnen oder zu Sanktionen gegen sie aufzurufen. Es bleibt mithin offen, ob der behauptete Antisemitismus aus der Rede heraus- oder nicht vielmehr in sie hineingelesen wird. Selbstverständlich hat jeder Journalist das Recht, die Rede als „problematisch“ oder „umstritten“ zu bezeichnen. Auch ist Verfassern von Kommentaren oder anderen Texten, welche erkennbar die Meinung ihres Verfassers wiedergeben, zuzugestehen, daß sie in ihrer Einschätzung scharf werden dürfen, aber Nachrichtenredakteure sind zur Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit verpflichtet. Würden sie diese Zurückhaltung aufgeben, dann wäre die Grenze von der Vermittlung von Informationen überschritten, hin zur politischen Indoktrinierung der Leser. Insofern ist bemerkenswert, wie die führenden politischen Medien unseres Landes auf die Hohmann-Rede Bezug nahmen.
(1) Der Spiegel spricht mehrfach von den „antisemitischen Äußerungen des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann“ oder dem „wegen antisemitischer Äußerungen in die Kritik geratene CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann“.
(2) Der Bericht aus Berlin vermeldet, die Union habe „zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Abgeordneten, nämlich den Abgeordneten Martin Hohmann, wegen seiner antisemitischen Rede und seiner Unfähigkeit, das Problem einzusehen, von der Bundestagsfraktion der CDU/CSU ausgeschlossen“.
(3) Die Welt vermeldet am 6. November 2003, daß die Evangelische Kirche „wegen der antisemitischen Rede“ einen Fraktionsausschluß Hohmanns fordere, und im folgenden Satz, daß auch Bundeskanzler Schröder Hohmanns „antisemitische Äußerungen“ gerügt habe.
(4) Die Süddeutsche Zeitung spricht von einem „wegen seiner antisemitischen Rede umstrittenen Parlamentarier“.
Diese Beispiele sind mehr oder weniger zufällig herausgegriffen; sie lassen sich noch durch zahlreiche weitere Texte dieser Art erweitern: taz oder der Hessische Rundfunk, die Stuttgarter Zeitung oder die News der Yahoo-Website: In beinahe allen Medien sind dieselben Begriffsverknüpfungen oder Sinnverkürzungen zu finden.
Im Laufe der Berichterstattung wird so eine eigene Wirklichkeit erzeugt, ganz so, als ob der eine der beiden Interprationsstränge zur Hohmann-Rede zwingend wäre. Suggeriert wird, daß es sich um ein erwiesenes, wenn nicht gar offensichtliches und nicht mehr diskussionswürdiges Faktum handle: Die „antisemitische Rede Martin Hohmanns“ steht so auf einer Stufe mit einer Wendung wie etwa „die grüne Bundestagsabgeordnete Claudia Roth“ oder „der hessische Ministerpräsident Roland Koch“.
Es gibt in der Berichterstattung der Medien allerdings noch andere diskursive Strategien, um eine sehr ähnliche Wirkung zu erzeugen. Manchen Journalisten erscheint es offenbar doch zu gewagt, ihre eigene Meinung so sehr in eine angebliche Sachinformation einfließen zu lassen, wie das viele ihrer Kollegen tun. Sie wählen daher Formulierungen wie „in seiner als antisemitisch kritisierten Rede“ (FAZ) beziehungsweise „in den als antisemitisch verstandenen Äußerungen“ (Phoenix, heute, Spiegel, ntv und viele andere). Wenn man die Berichterstattung über Möllemanns Äußerungen mit der über Hohmanns Äußerungen vergleicht, fällt einem auf, daß Abmilderungen wie diese nun wesentlich häufiger vorkommen. Das Problem bei diesen Abmilderungen bleibt indes, daß sie nur Tünche sind. Auffälligerweise fehlt bei den fraglichen Wendungen regelmäßig das semantische Subjekt: Es ist eben nicht von „den von Paul Spiegel als antisemitisch verstandenen Äußerungen“ oder den „von Wolfgang Benz als antisemitisch kritisierten Äußerungen“ die Rede. Stattdessen wird beim Rezipienten der Eindruck erweckt, daß alle oder zumindest der weit überwiegende Teil der Zuhörer/Leser Hohmanns Äußerungen als antisemitisch verstanden habe. Daß man nach derselben semantischen Logik von „den nicht als antisemitisch verstandenen Äußerungen“ hätte sprechen können, indem man hier eben auch das semantische Subjekt (beispielsweise Norman Finkelstein) wegläßt, wird bei der flüchtigen, naiven Aufnahme von Sätzen wie diesen gar nicht klar.
Viele Autoren suggerieren eine (Volks-)Gemeinschaft, wo überhaupt keine besteht. So behauptet etwa Axel Vornbäumen in der Frankfurter Rundschau: „Die erste Empörungswelle rollt über das Land. Alle finden es unerträglich.“ Wer „alle“ ist, wird nicht enträtselt. Alle, mit denen Vornbäumen in der Redaktion über das Thema gesprochen hat? Ähnlich wie bei Möllemann belegen Meinungsumfragen trotz des hier skizzierten Sperrfeuers der Medien ein weit differenzierteres Bild im Hinblick auf die Auffassungen der Bevölkerung. Man kann sogar von einem „doppelten Meinungsklima“ (Elisabeth Noelle-Neumann) sprechen, wenn man die massiven Angriffe aus den Spitzen von Politik und Gesellschaft vergleicht mit der Zustimmung, die Hohmann an der Basis widerfährt. Laut einer Forsa-Umfrage etwa teilt sich die Zahl der Befragten ziemlich exakt bei der Frage, ob Hohmann nach seinen Äußerungen noch in der Partei bleiben dürfe. Die Süddeutsche Zeitung vermeldet gar unter Bezug auf eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest-dimap: „Auf die Frage, ob Aussagen wie in der Hohmann-Rede ‘in Deutschland heute möglich sein müßten, ohne daß man gleich als Antisemit verurteilt wird´, antwortete jeder zweite CDU-Anhänger (49 Prozent) mit Ja; 44 Prozent teilten diesen Standpunkt nicht. Unter der Gesamtbevölkerung sprachen sich 42 Prozent der Befragten für die Hohmann-Äußerungen aus.“
Bei ihren eigenen Umfragen indes greift die Süddeutsche Zeitung zu Wahlverfahren, wie wir sie eher von den Blockparteien sozialistischer Staaten kennen. So dürfen sich die Besucher ihrer Website bei der Frage „Soll die Union Hohmann rauswerfen?“ entscheiden zwischen „Nein, die Rüge reicht“ (wurde am meisten gewählt), „Ja, und zwar aus Partei und Fraktion“, „Nur aus der Bundestagsfraktion“, „Nur aus der CDU“ sowie „Ist mir egal“. Bezeichnenderweise gab es keine Möglichkeit, mit der man durch seine Antwort signalisieren konnte, entweder mit Hohmann einer Ansicht oder aber anderer Ansicht zu sein, seine Äußerungen aber als Teil der Meinungsfreiheit überhaupt nicht, also nicht einmal mit einer Rüge, sanktioniert sehen zu wollen. Ausgerechnet die Vortäuschung einer offenen Meinungsumfrage wurde hier verwendet, um es als gegeben darzustellen, daß die Vorwürfe gegen Hohmann schon ihre Berechtigung hatten – 42 Prozent der Bevölkerung, die das anders sahen, zum Trotz.
Ähnlich wie beim Fall Jürgen Möllemanns nutzten die Medienmacher noch ein weiteres Mittel, das eigentlich für kontroversen Meinungsaustausch steht, um einen in Wahrheit nicht vorhandenen Grundkonsens zu suggerieren: die politische Talkshow. Normalerweise ist dieses Format dazu gedacht, daß unterschiedliche Standpunkte aufeinanderprallen und in der Diskussion miteinander entweder versucht wird, gemeinsam einer Wahrheit näherzukommen oder zumindest den Zuschauer über die verschiedenen Perspektiven zu informieren, in denen man ein Problem sehen kann, um ihn durch die vorgetragenen Argumente zu ermuntern, sich einer dieser Perspektiven anzuschließen. Daß in Talkshows tatsächlich häufig nur rhetorische Sprechblasen ausgetauscht werden, ist bekannt und bedarf hier keiner näheren Erörterung.
Das war aber auch im Zusammenhang mit der Hohmann-Affäre der Fall. Im ARD-Presseclub vom 9. November 2003 verurteilten unter der Moderation von WDR-Intendant Fritz Pleitgen sämtliche eingeladenen Journalisten Hohmanns Äußerungen einhellig als „antisemitisch“. Abweichler von dieser Meinung hatten offenbar keine Gelegenheit erhalten, sich zu äußern. Auf ähnliche Weise suchte wenige Tage später, am 13. November, Maybrit Illners Berlin Mitte einer Kontroverse zu entgehen. Jürgen Rüttgers befand dort, Hohmann habe der Union „unsäglich“ geschadet, Heiner Geißler bekundete Zustimmung zu Hohmanns Rauswurf aus der Bundestagsfraktion der Union, Peter Struck rechtfertigte die Entlassung Günzels, der Hohmann zugestimmt hatte, und der Schriftsteller Rafael Seligmann attackierte Hohmann unwidersprochen auf persönlicher Ebene: „Im Endeffekt ist dieser Mann inhuman. Er ist ein Hetzer und deshalb hat er in keiner demokratischen Partei etwas zu suchen.“ Der Verfasser fühlte sich bei diesen und ähnlichen Sendungen wie bei einem jener Schauprozesse, die in totalitären Staaten üblich sind: Sämtliche Teilnehmer vertreten die Anklage, niemand die Verteidigung, und zum Abschluß folgt – wenig überraschend – der Schuldspruch.
In einer Gesellschaft, die sich so viel auf Kommunikation und Empathie zugute hält, war das Verhalten gegenüber Martin Hohmann niemals von Gesprächs- oder Verständigungsbereitschaft bestimmt. Stattdessen kam es zu einer Eskalation der Darstellung des in Frage stehenden Sachverhalts, die von der inhaltlichen Kritik sehr schnell zu einer Hetzjagd gegen den Menschen Hohmann wurde. Man kann die Schritte, die dazu notwendig waren, folgendermaßen charakterisieren:
(1) Am Anfang steht das, was ich im bisher Gesagten dargelegt habe: Die Interpretation der Rede als „antisemitisch” wird durch die vorgestellten Techniken als allgemeingültig etabliert. Eng damit verbunden ist die Behauptung, die Rede sei als antisemitische Rede angelegt und geplant gewesen. Wer so kritisiert, argumentiert mit der Behauptung, Hohmann habe sich zwar verbal von der unterstellten Aussage (Juden seien ein Tätervolk) distanziert, er habe diese Distanzierung jedoch nur vorgetäuscht, damit man ihm nichts Entsprechendes anhängen könne. Diese Annahme ist letztlich weder zu beweisen noch zu widerlegen und bietet ein gutes Beispiel für die „Herrschaft des Verdachts“ (Hegel), bei der die Richter hinter den Aussagen das Angeklagten dessen eigentliches Meinen selbst bestimmen. Verteidigung ist dadurch unmöglich geworden. Dementsprechend wurde die Behauptung, Hohmann habe sich nur vordergründig entschuldigt, durch den Hinweis unterfüttert, daß dieses beanstandete Verhalten für die Neue Rechte typisch sei. In einem zweiten Schritt vollzieht sich eine Vereinfachung und Emotionalisierung. So heißt es etwa im Spiegel: „Als Martin Hohmann in Neuhof gegen ‘die Juden´ hetzte, klatschten 160 Menschen.“ Der Eindruck, der beim Leser dieses Satzes suggeriert wird, ist der eines polemischen, vielleicht bierseligen Agitators, der sein Publikum zu Haß gegen Juden aufstachelt und von diesem dafür zustimmenden Beifall erhält. Wieder erscheinen „die Juden“ in Gänsefüßchen, als sei diese Kollektivbildung ein durchgängiges Zitat in der Hohmann-Rede. Zugleich werden die Menschen, die Hohmann applaudierten, eben weil sie in seinen Äußerungen nichts Antisemitisches erkannten, in den Skandal eingemeindet: Wer Hohmann applaudierte, ist entweder selbst ein Judenhasser oder schlicht zu dumm, um die Hetze zu durchschauen.
(2) Als nächstes wird Hohmanns Rede mit unbestritten antisemitischen Delikten gekoppelt. So schreibt Wolfgang Benz in der Frankfurter Rundschau: „Entgegen der im Hohmann-Skandal oft und gern geäußerten Vermutung, Antisemitismus sei in Deutschland ein in kontinuierlichem und neuerdings raschem Wachstum befindliches Phänomen, zeigen seriöse Meinungsumfragen keinen solchen Trend. Im Gegenteil. Freilich steht der langfristigen tendenziellen Abnahme die Vehemenz einzelner Manifestationen gegenüber, sei es durch Gewalt- und Propagandadelikte, sei es durch die bislang einzigartige Artikulation antisemitischer Stereotypen durch einen Angehörigen der politischen Elite des Landes, den nunmehr fraktionslosen Abgeordneten Martin Hohmann.“ Hier erscheinen „Gewalt- und Propagandadelikte“ wie Körperverletzungen, Schändungen von Friedhöfen und rassistische Schmierereien in einem Atemzug mit Hohmanns Äußerungen. Durch die sprachliche Verknüpfung in einem Satz wird außerdem inhaltlich Nähe hergestellt. Dazu dient auch die Extrem-Skandalisierung „bislang einzigartige Artikulation antisemitischer Stereotypen“, in der die Vorwürfe hyperbolisch bis ins Allerhöchste hinein gesteigert werden.
(3) Im folgenden Schritt wird Hohmann in seiner gesamten Persönlichkeit auf die umstrittenen Passagen seiner Rede reduziert. Dies geschieht etwa, wenn das Boulevardblatt Bild als Deutschlands meistgelesene Zeitung schlagzeilt „CDU-Politiker fordern: Der Hetzer muß die Partei verlassen“ oder „Merkel wirft CDU-Hetzer raus!“. In den begleitenden Artikeln wird Hohmann mehrfach und immer wieder als „Hetzer“ apostrophiert. Aus einem Mann, der Äußerungen tätigte, die manche für antisemitisch hielten, andere nicht, war für die öffentliche Wahrnehmung der „Hetzer Hohmann“ geworden. Die Ausgrenzung erreichte nun eine beängstigende Nähe zur medialen Vernichtung eines Menschen.
Kardinal Lehmann wies die Behauptung als falsch zurück, er habe Hohmann einen „Sündenbock“ geheißen. Dabei wäre dieser Vergleich gar nicht so falsch gewesen. Der Sündenbock war ein Tier, das mit der Schuld der ganzen Gemeinschaft beladen und hinaus in die Wüste geschickt wurde, um stellvertretend für alle zu büßen. Das war exakt die Rolle, die Hohmann für viele erfüllte. Auf ihn als Einzelnen wurden etliche Rassismen, Verdrängungen, Schuldgefühle, Ängste, Aggressionen und was noch alles im deutschen Wesen herumirrt projiziert und stellvertretend ausgetrieben. Und es mochte gut möglich sein, daß auch Hohmanns Kritiker lediglich versuchten, mit der Last der deutschen Schuld fertig zu werden: Indem sie besondere Verve und Erbarmungslosigkeit darauf verwendeten, einen Menschen niederzumachen, dessen Äußerungen auch nur in die Nähe von Judenfeindschaft kamen, versicherten sie sich ihrer eigenen absoluten Unschuld. Vielleicht kann man in diesen Überreaktionen einen aus der Bahn geratenen Versuch verstehen, Buße zu tun. Dieser Versuch wird aber weder dem Menschen Hohmann noch dem Problem Antisemitismus gerecht.
„Hauptsache, Sie verlieren als ehemaliger Fallschirmjäger jetzt nicht die Nerven“ unkte Tobias Kaufmann höhnisch in einem mit „Tschüss, Herr Hohmann“ betitelten offenen Brief, der unter anderem im Kölner Stadtanzeiger, in der Jüdischen Allgemeinen und auf der Homepage Henryk M. Broders veröffentlicht wurde. Möllemanns Selbstmord und die Gefahr, daß Hohmann dazu getrieben werden könnte, sich ebenfalls etwas anzutun, verkommen hier zur makabren Schlußpointe.