Kälteschock – Gehlenlektüre und Gegenwartsanalyse

pdf der Druckfassung aus Sezession 4 / Januar 2004

Von Arnold Gehlen gestellt worden zu sein, ist ein seltsamer Zustand...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Es ist erhe­bend, sei­ne Gedan­ken zu begrei­fen. Es ist fas­zi­nie­rend, anhand sei­ner Maß­stä­be die Aus­drucks­for­men mensch­li­chen (vor allem: poli­ti­schen) Han­delns neu zu deu­ten. Aber gleich­zei­tig ist es beängs­ti­gend, die Aus­brei­tung des kal­ten Den­kens im eige­nen Gehirn letzt­lich nur beob­ach­ten zu kön­nen und zu sehen, daß der roman­ti­sche Impuls als bis­her gül­ti­ge Dis­po­si­ti­on wie ein Krü­mel von der Tisch­plat­te gefegt wird.

Dabei gibt es doch an Ver­hal­tens­leh­ren der Käl­te in Deutsch­land kei­nen Man­gel, die Jün­ger- oder Ben­n­lek­tü­re war wuch­tig und befrem­dend, weil sie mit ätzen­dem Spott dort jede Gemüt­lich­keit zer­stör­te, wo sich Kraft­lo­sig­keit als Rück­zug in den kul­tu­rel­len Bereich tar­nen woll­te. Der frü­he Jün­ger und Benn: Auch ihre Sät­ze ver­brei­ten kei­ne Nest­wär­me, sie des­il­lu­sio­nie­ren und ver­ein­zeln den Leser und las­sen ihn – wenn auch nicht auf ver­lo­re­nem Pos­ten – in weit vor­ge­scho­be­ner Linie zurück. Jedoch wohnt bei­den ein Pathos der Ver­ein­ze­lung inne, und Benn stei­gert sich gera­de in den Tex­ten, die den „kal­ten Stil“ begrü­ßen, in einen unver­wech­sel­ba­ren, sprach­li­chen Rausch.
Aus Arnold Geh­lens Arbei­ten zur phi­lo­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie und Sozio­lo­gie aber ist jedes Wär­me­rest­chen zuguns­ten eines Käl­te­blicks gewi­chen, der kei­ne Aus­flüch­te zuläßt. Wer Geh­lens Grund­le­gun­gen gele­sen hat, kann sich über das Wesen des Men­schen und über die prak­ti­schen Ablei­tun­gen dar­aus kei­ne Illu­sio­nen mehr machen. Mit Geh­len hat die poli­ti­sche Rech­te jenen Anti-Rous­se­au, den sie für ihre Geg­ner­be­kämp­fung eigent­lich so drin­gend benö­tigt. Und es sagt viel über die Rech­te in Deutsch­land aus, daß sie sich Geh­len nicht stellt.
Arnold Geh­len wur­de vor hun­dert Jah­ren, am 29. Janu­ar 1904, gebo­ren, stu­dier­te Ger­ma­nis­tik, Kunst­ge­schich­te und Phi­lo­so­phie und wur­de nach Pro­mo­ti­on und Habi­li­ta­ti­on am 1. Novem­ber 1934 Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie in Leip­zig. Er wand­te sich in den fol­gen­den Jah­ren der Sozio­lo­gie zu, die in Deutsch­land nicht als eigen­stän­di­ges Fach, son­dern nur in For­schungs­in­sti­tu­ten existierte.
1940 erschien Der Mensch, sein groß­an­ge­leg­ter Ver­such, die Phi­lo­so­phie als „Wirk­lich­keits­wis­sen­schaft“ neu zu begrün­den und ihr auf die­sem Wege die Deu­tungs­ho­heit zurück­zu­ge­ben, die sie über Jahr­hun­der­te inne­hat­te. Denn daß die gro­ßen sys­te­ma­ti­schen Ent­wür­fe mit den empi­risch erwor­be­nen Erkennt­nis­sen aus Poli­tik und Natur­wis­sen­schaft nicht mehr Schritt hiel­ten, hat­te Geh­len in sei­nem Amt als Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor in Leip­zig (1934), Königs­berg (1938) und Wien (1939) erkannt. Einen Aus­weg sah er dar­in, aus den anthro­po­lo­gi­schen Kon­stan­ten des Men­schen unver­än­der­ba­re Ver­hal­tens­mus­ter abzu­lei­ten und über die Deu­tung die­ses „So-sein-Müs­sens“ das mensch­li­che Sein empi­risch zu begründen.

Die Schlüs­sel­be­grif­fe – deren Her­lei­tung Hun­der­te von Sei­ten bean­sprucht – sind bei Pla­ton, Her­der, Sche­ler und ande­ren bereits vor­ge­dacht, bei Geh­len jedoch mit unüber­trof­fe­ner Prä­zi­si­on in ein zwin­gen­des Ver­hält­nis gebracht und gedeu­tet: Der Mensch sei ein „Män­gel­we­sen“, im Ver­gleich zum instinkt­si­che­ren Tier „unspe­zia­li­siert“, „welt­of­fen“ und „unsi­cher“ ange­legt und damit wesens­mä­ßig, von Natur aus, gezwun­gen, sich zu ver­hal­ten „zu sich selbst, lebens­not­wen­dig, wie dies kein Tier tut. Nicht zum Spaß und nicht zum Luxus des Nach­den­kens, son­dern aus erns­ter Not.“ Der Mensch hat also han­delnd stets die Umwelt zu „ent­gif­ten“, es ist dies sein pro­me­t­hei­scher, kul­tur­schaf­fen­der Auf­trag: Denn als Natur-Mensch ist der Mensch undenk­bar, und des­halb lau­tet Geh­lens anti­rous­se­au­is­ti­sche For­mel: „Die Natur des Men­schen ist die Kul­tur“. Der gan­ze Geh­len kann von hier aus abge­lei­tet wer­den, und es ist fas­zi­nie­rend und von gro­ßem Wert, daß den opti­mis­ti­schen Gesell­schafts­ent­wür­fen der lin­ken Poli­tik-Labor-Arbei­ter ein rea­lis­ti­sches Denk­ge­bäu­de ent­ge­gen­ge­stellt wer­den kann: sys­te­ma­tisch, fol­ge­rich­tig und weit davon ent­fernt, nur aus klug for­mu­lier­ten Bruch­stü­cken zu bestehen.

Noch in Der Mensch führt Geh­len aus, daß allen Kul­tur­tech­ni­ken, die der Mensch ent­wi­ckel­te, der Antrieb zugrun­de lie­ge, die stän­di­ge Bedrän­gung durch Ein­drü­cke, letzt­lich: die „Wir­kungs­macht“ der Welt zu ban­nen. Von Johann Gott­fried Her­der über­nahm Geh­len Über­le­gun­gen zur zen­tra­len Bedeu­tung der Spra­che in die­sem Zusam­men­hang: Bezeich­nun­gen zwi­schen sich und die Umwelt zu brin­gen, bedeu­tet, sich Distanz zu ver­schaf­fen und sich vom unmit­tel­ba­ren Ein­druck zu entlasten.
Es ist der Begriff der „Ent­las­tung“, der zu Geh­lens Insti­tu­tio­nen­leh­re und damit zu sei­nem zwei­ten Haupt­werk, zu Urmensch und Spät­kul­tur über­lei­tet. Dar­in führt er aus, daß der Mensch ein „instinkt­ähn­li­ches Bedürf­nis nach Umwelt­sta­bi­li­tät“ habe, was nichts ande­res bedeu­tet, als daß er bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen gegen die bedrän­gen­de Umwelt nicht jedes­mal wie­der neu erfin­den muß, son­dern aus einem ein­ge­üb­ten Bestand an Kul­tur­tech­ni­ken aus­wäh­len kann.
Sol­che auf Dau­er gestell­ten Hand­lun­gen sind Insti­tu­tio­nen, und in die­ser sim­pel klin­gen­den Fest­stel­lung steckt Anti-Rous­se­au­is­mus von gewal­ti­ger Wucht: Geh­len spricht dem ein­zel­nen Men­schen ab, in jeder Situa­ti­on „sach­ge­recht“ han­deln zu kön­nen. Die „Außen­sta­bi­li­sie­rung“ einer Gesell­schaft kann nur dann von Dau­er sein, wenn ihre ein­zel­nen Mit­glie­der eine Erzie­hung im Sin­ne der insti­tu­tio­nel­len Orga­ni­sa­ti­on erfah­ren. Was hier auf­ge­wor­fen wird, sind die Fra­gen nach den Gren­zen der Frei­heit des Ein­zel­nen vor den Ansprü­chen des Gan­zen, nach Erzie­hungs­mo­del­len, Hier­ar­chien, Ver­bo­ten, nach der Dis­zi­pli­nie­rungs­macht und der Gefahr der Erstarrung.
Vor allem aber ging es Geh­len um die Fra­ge, wie die für lebens­not­wen­dig erach­te­ten Insti­tu­tio­nen in ihrem Bestand gesi­chert wer­den könn­ten. Er lös­te die Fra­ge, indem er von einer reli­giö­sen Scheu vor der Ver­let­zung eines Geset­zes sprach, ohne die der Respekt vor den Insti­tu­tio­nen nicht zu erklä­ren sei. Geh­lens Her­lei­tung der Insti­tu­tio­nen geht auf die Ent­ste­hung des Tabus, des Kults und des Totems zurück, von dort kom­me ihr numi­no­ser Aspekt, und wenn die­ser heu­te besei­tigt sei, las­se sich den­noch kei­ne Insti­tu­ti­on auf Dau­er den­ken, die nicht in irgend­ei­ner Wei­se „über­de­te­mi­niert“ sei, also: mehr bedeu­te als rei­ne Zweckerfüllung.
Ohne das Voka­bu­lar Geh­lens zu stra­pa­zie­ren, läßt sich auch der „Fall Hoh­mann“ anhand vor allem die­ses Aspekts der Insti­tu­tio­nen­leh­re inter­pre­tie­ren. Wenn Josch­ka Fischer und ande­re vom Holo­caust als dem Grün­dungs­my­thos der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land spre­chen und dar­in einen alle poli­ti­schen Berei­che mit­prä­gen­den Auf­trag sehen, haben wir es mit einer Insti­tu­ti­on ers­ten Ran­ges zu tun. Ihre sta­bi­li­sie­ren­de Wir­kung ist außer­or­dent­lich, ihre Über­de­ter­mi­niert­heit durch Geschichts­schrei­bung und Geden­kri­ten voll­zo­gen, ihr numi­no­ser Aspekt gesetz­lich abge­si­chert. Wer wie Hoh­mann ans Tabu rührt –, und dabei genügt es, den hei­li­gen Bezirk als Uner­wünsch­ter zu betre­ten – kann aus Grün­den der Bestands­si­che­rung der Insti­tu­ti­on mit Gna­de nicht rech­nen. Bei­na­he zynisch klingt es in die­sem Zusam­men­hang, wenn Geh­len von der „wohl­tä­ti­gen Frag­lo­sig­keit“ spricht, die durch die „Innen­sta­bi­li­sie­rung“ einer Gesell­schaft über star­ke Insti­tu­tio­nen erreicht werde.
Daß Geh­len die Insti­tu­tio­nen ins­ge­samt in Gefahr sah und ihren Unter­gang mit gera­de­zu pro­phe­ti­schem Blick vor­aus­ahn­te, führt zum Kern sei­nes kal­ten Den­kens. Geh­len hat den Men­schen begrif­fen wie kaum ein ande­rer, wenn er aus­führt, daß gut funk­tio­nie­ren­de Insti­tu­tio­nen letzt­lich den Beginn ihrer Zer­stö­rung aus sich selbst her­aus gebä­ren. Nie­mals in der Geschich­te hat die Ent­las­tung des Men­schen durch insti­tu­tio­nell orga­ni­sier­te Hand­lungs­ab­läu­fe so gut funk­tio­niert wie in der Gegen­wart. Not in mate­ri­el­ler Hin­sicht ist so voll­stän­dig gebannt, daß der moder­ne Mensch Luxus­gü­ter für Grund­be­dürf­nis­se hält und eine Frei­heit zum fol­ge­lo­sen Expe­ri­ment vor­fin­det, die jeder Anstren­gungs­be­reit­schaft for­dern­den Insti­tu­ti­on den Boden gründ­lich und schnell ent­zie­hen mußte.

Es sind die­se Auf­lö­sungs­ten­den­zen in Fami­lie, Recht und Ord­nung, Arbeits­ethik, Reli­gi­on, Tra­di­ti­on, Sit­te und­so­wei­ter, die einem kon­ser­va­tiv ange­leg­ten Men­schen schwer im Magen lie­gen. Auch Arnold Geh­len hat aus sei­nem Unbe­ha­gen und sei­nem Ekel vor dem frei­ge­las­se­nen Men­schen kei­nen Hehl gemacht. Jedoch kommt sein Käl­te­blick auch hier zum Tra­gen, wenn er sagt, daß es letzt­lich kei­ne Kul­tur­kri­tik gebe, die gegen jene Ten­denz in Stel­lung gebracht wer­den kön­ne. Wie recht er mit die­sem Gedan­ken hat, zeigt ein Blick auf das so belieb­te Lamen­tie­ren über die Zustän­de. Im Ergeb­nis wären aber die meis­ten kul­tur­kri­ti­schen Gegen­vor­schlä­ge bloß eine Ver­schie­bung der eher „lin­ken“ hin zu einer eher „rech­ten“ Verhausschweinung.
Geh­len hat mit sei­ner Posi­ti­on so etwas wie einen „tech­no­kra­ti­schen Kon­ser­va­tis­mus“ begrün­det: uto­pie­feind­lich, rea­lis­tisch, empi­risch begründ­bar. Hier­zu gehört, daß mit den gege­be­nen Umstän­den gelebt wer­den muß. Das klingt banal, stellt jedoch schwer­wie­gen­de Fra­gen an jene, die Deutsch­land als geschicht­lich mani­fes­tier­tes Gebil­de wenigs­tens durch­hal­ten, bes­ser aber in ein neu­es, spe­zi­fi­sches Selbst­be­wußt­sein ver­setzt sehen möch­ten. Geh­len wür­de vie­len, die es gut mei­nen, selbst­ver­schul­de­ten Macht­ver­lust nach­wei­sen und die­sen Zustand als Deka­denz bezeich­nen, „als die Unfä­hig­keit bzw. Unwil­lig­keit eines Vol­kes, die sach­lich aku­ten Auf­ga­ben zu sehen und deren Geset­ze in sich selbst ratio­nal, zweck­haft und sys­te­ma­tisch zur Gel­tung zu brin­gen, sei es auch unter bewuß­ter Opfe­rung von Wer­ten, deren Fest­hal­ten mit der Auf­ga­be sach­lich unver­träg­lich wäre. Dies ist der Weg zur Größe“.
Und es folgt eine die­ser Ana­ly­sen, die Geh­len so sprö­de und unbarm­her­zig machen: „Kul­tur dage­gen ist dop­pel­sin­nig: sie kann die Ver­klä­rung der Grö­ße eines Vol­kes sein, aber auch die Lebens­form der Ent­mach­te­ten.“ Es sind sol­che ätzen­den Ein­sich­ten, die als vehe­men­ter Rück­ruf in die Poli­tik ver­stan­den wer­den müs­sen. Geh­len hat nicht grund­los sein gan­zes Gewicht in die poli­ti­sche Waag­scha­le gewor­fen, als er sah, daß im Gefol­ge des Jah­res 1968 „wie­der ein Schritt vor­wärts auf dem Wege der Ent­hem­mung einer fürch­ter­li­chen Natür­lich­keit“ gemacht wer­den würde.

Über die Absicht und die Wir­kung sei­nes letz­ten gro­ßen Werks Moral und Hyper­mo­ral han­delt der Bei­trag von Karl­heinz Weiß­mann auf den Sei­ten 48/49 in die­sem Heft. Und erst­mals ist in den Aus­füh­run­gen Geh­lens so etwas wie ein per­sön­li­cher Klang, eine trau­ri­ge End­gül­tig­keit im Blick auf die deut­sche Ent­wick­lung, kon­zen­triert auf den Begriff des „Staats“: „Seit der Anti­ke bezeich­net das Wort ein Gebil­de, des­sen Sinn letz­ten Endes nur als ratio­nal orga­ni­sier­te Selbst­er­hal­tung eines geschicht­lich irgend­wie zustan­de gekom­me­nen Zusam­men­hangs von Ter­ri­to­ri­um und Bevöl­ke­rung bestimmt wer­den kann … Es ist die bedeu­tends­te geschicht­li­che Leis­tung einer Nati­on, sich über­haupt als eine so ver­faß­te geschicht­li­che Ein­heit zu hal­ten, und den Deut­schen ist sie nicht geglückt.“
Das Gewicht der Argu­men­ta­ti­on Geh­lens ist gewal­tig. Er setzt dort den Schluß­strich, wo gegen­wär­ti­ges, auf die deut­sche Nati­on bezo­ge­nes Han­deln noch ein­mal anset­zen will. Und als Geh­len 1976 starb, war die so voll­stän­di­ge Aus­räu­mung des natio­na­len Gebäu­des noch nicht ein­mal abseh­bar. Jedoch ist die Ent­schei­dung, die Nati­on (noch) zu hal­ten, etwas, das grund­sätz­lich ent­schie­den wer­den muß und auf das hin dann alle Hand­lung aus­ge­rich­tet ist. Auch Geh­len hät­te zuge­stimmt, daß sich die­ses Han­deln zunächst gegen bestehen­de Insti­tu­tio­nen wird rich­ten müssen.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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