Es ist erhebend, seine Gedanken zu begreifen. Es ist faszinierend, anhand seiner Maßstäbe die Ausdrucksformen menschlichen (vor allem: politischen) Handelns neu zu deuten. Aber gleichzeitig ist es beängstigend, die Ausbreitung des kalten Denkens im eigenen Gehirn letztlich nur beobachten zu können und zu sehen, daß der romantische Impuls als bisher gültige Disposition wie ein Krümel von der Tischplatte gefegt wird.
Dabei gibt es doch an Verhaltenslehren der Kälte in Deutschland keinen Mangel, die Jünger- oder Bennlektüre war wuchtig und befremdend, weil sie mit ätzendem Spott dort jede Gemütlichkeit zerstörte, wo sich Kraftlosigkeit als Rückzug in den kulturellen Bereich tarnen wollte. Der frühe Jünger und Benn: Auch ihre Sätze verbreiten keine Nestwärme, sie desillusionieren und vereinzeln den Leser und lassen ihn – wenn auch nicht auf verlorenem Posten – in weit vorgeschobener Linie zurück. Jedoch wohnt beiden ein Pathos der Vereinzelung inne, und Benn steigert sich gerade in den Texten, die den „kalten Stil“ begrüßen, in einen unverwechselbaren, sprachlichen Rausch.
Aus Arnold Gehlens Arbeiten zur philosophischen Anthropologie und Soziologie aber ist jedes Wärmerestchen zugunsten eines Kälteblicks gewichen, der keine Ausflüchte zuläßt. Wer Gehlens Grundlegungen gelesen hat, kann sich über das Wesen des Menschen und über die praktischen Ableitungen daraus keine Illusionen mehr machen. Mit Gehlen hat die politische Rechte jenen Anti-Rousseau, den sie für ihre Gegnerbekämpfung eigentlich so dringend benötigt. Und es sagt viel über die Rechte in Deutschland aus, daß sie sich Gehlen nicht stellt.
Arnold Gehlen wurde vor hundert Jahren, am 29. Januar 1904, geboren, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie und wurde nach Promotion und Habilitation am 1. November 1934 Professor für Philosophie in Leipzig. Er wandte sich in den folgenden Jahren der Soziologie zu, die in Deutschland nicht als eigenständiges Fach, sondern nur in Forschungsinstituten existierte.
1940 erschien Der Mensch, sein großangelegter Versuch, die Philosophie als „Wirklichkeitswissenschaft“ neu zu begründen und ihr auf diesem Wege die Deutungshoheit zurückzugeben, die sie über Jahrhunderte innehatte. Denn daß die großen systematischen Entwürfe mit den empirisch erworbenen Erkenntnissen aus Politik und Naturwissenschaft nicht mehr Schritt hielten, hatte Gehlen in seinem Amt als Philosophieprofessor in Leipzig (1934), Königsberg (1938) und Wien (1939) erkannt. Einen Ausweg sah er darin, aus den anthropologischen Konstanten des Menschen unveränderbare Verhaltensmuster abzuleiten und über die Deutung dieses „So-sein-Müssens“ das menschliche Sein empirisch zu begründen.
Die Schlüsselbegriffe – deren Herleitung Hunderte von Seiten beansprucht – sind bei Platon, Herder, Scheler und anderen bereits vorgedacht, bei Gehlen jedoch mit unübertroffener Präzision in ein zwingendes Verhältnis gebracht und gedeutet: Der Mensch sei ein „Mängelwesen“, im Vergleich zum instinktsicheren Tier „unspezialisiert“, „weltoffen“ und „unsicher“ angelegt und damit wesensmäßig, von Natur aus, gezwungen, sich zu verhalten „zu sich selbst, lebensnotwendig, wie dies kein Tier tut. Nicht zum Spaß und nicht zum Luxus des Nachdenkens, sondern aus ernster Not.“ Der Mensch hat also handelnd stets die Umwelt zu „entgiften“, es ist dies sein prometheischer, kulturschaffender Auftrag: Denn als Natur-Mensch ist der Mensch undenkbar, und deshalb lautet Gehlens antirousseauistische Formel: „Die Natur des Menschen ist die Kultur“. Der ganze Gehlen kann von hier aus abgeleitet werden, und es ist faszinierend und von großem Wert, daß den optimistischen Gesellschaftsentwürfen der linken Politik-Labor-Arbeiter ein realistisches Denkgebäude entgegengestellt werden kann: systematisch, folgerichtig und weit davon entfernt, nur aus klug formulierten Bruchstücken zu bestehen.
Noch in Der Mensch führt Gehlen aus, daß allen Kulturtechniken, die der Mensch entwickelte, der Antrieb zugrunde liege, die ständige Bedrängung durch Eindrücke, letztlich: die „Wirkungsmacht“ der Welt zu bannen. Von Johann Gottfried Herder übernahm Gehlen Überlegungen zur zentralen Bedeutung der Sprache in diesem Zusammenhang: Bezeichnungen zwischen sich und die Umwelt zu bringen, bedeutet, sich Distanz zu verschaffen und sich vom unmittelbaren Eindruck zu entlasten.
Es ist der Begriff der „Entlastung“, der zu Gehlens Institutionenlehre und damit zu seinem zweiten Hauptwerk, zu Urmensch und Spätkultur überleitet. Darin führt er aus, daß der Mensch ein „instinktähnliches Bedürfnis nach Umweltstabilität“ habe, was nichts anderes bedeutet, als daß er bestimmte Verhaltensweisen gegen die bedrängende Umwelt nicht jedesmal wieder neu erfinden muß, sondern aus einem eingeübten Bestand an Kulturtechniken auswählen kann.
Solche auf Dauer gestellten Handlungen sind Institutionen, und in dieser simpel klingenden Feststellung steckt Anti-Rousseauismus von gewaltiger Wucht: Gehlen spricht dem einzelnen Menschen ab, in jeder Situation „sachgerecht“ handeln zu können. Die „Außenstabilisierung“ einer Gesellschaft kann nur dann von Dauer sein, wenn ihre einzelnen Mitglieder eine Erziehung im Sinne der institutionellen Organisation erfahren. Was hier aufgeworfen wird, sind die Fragen nach den Grenzen der Freiheit des Einzelnen vor den Ansprüchen des Ganzen, nach Erziehungsmodellen, Hierarchien, Verboten, nach der Disziplinierungsmacht und der Gefahr der Erstarrung.
Vor allem aber ging es Gehlen um die Frage, wie die für lebensnotwendig erachteten Institutionen in ihrem Bestand gesichert werden könnten. Er löste die Frage, indem er von einer religiösen Scheu vor der Verletzung eines Gesetzes sprach, ohne die der Respekt vor den Institutionen nicht zu erklären sei. Gehlens Herleitung der Institutionen geht auf die Entstehung des Tabus, des Kults und des Totems zurück, von dort komme ihr numinoser Aspekt, und wenn dieser heute beseitigt sei, lasse sich dennoch keine Institution auf Dauer denken, die nicht in irgendeiner Weise „überdeteminiert“ sei, also: mehr bedeute als reine Zweckerfüllung.
Ohne das Vokabular Gehlens zu strapazieren, läßt sich auch der „Fall Hohmann“ anhand vor allem dieses Aspekts der Institutionenlehre interpretieren. Wenn Joschka Fischer und andere vom Holocaust als dem Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland sprechen und darin einen alle politischen Bereiche mitprägenden Auftrag sehen, haben wir es mit einer Institution ersten Ranges zu tun. Ihre stabilisierende Wirkung ist außerordentlich, ihre Überdeterminiertheit durch Geschichtsschreibung und Gedenkriten vollzogen, ihr numinoser Aspekt gesetzlich abgesichert. Wer wie Hohmann ans Tabu rührt –, und dabei genügt es, den heiligen Bezirk als Unerwünschter zu betreten – kann aus Gründen der Bestandssicherung der Institution mit Gnade nicht rechnen. Beinahe zynisch klingt es in diesem Zusammenhang, wenn Gehlen von der „wohltätigen Fraglosigkeit“ spricht, die durch die „Innenstabilisierung“ einer Gesellschaft über starke Institutionen erreicht werde.
Daß Gehlen die Institutionen insgesamt in Gefahr sah und ihren Untergang mit geradezu prophetischem Blick vorausahnte, führt zum Kern seines kalten Denkens. Gehlen hat den Menschen begriffen wie kaum ein anderer, wenn er ausführt, daß gut funktionierende Institutionen letztlich den Beginn ihrer Zerstörung aus sich selbst heraus gebären. Niemals in der Geschichte hat die Entlastung des Menschen durch institutionell organisierte Handlungsabläufe so gut funktioniert wie in der Gegenwart. Not in materieller Hinsicht ist so vollständig gebannt, daß der moderne Mensch Luxusgüter für Grundbedürfnisse hält und eine Freiheit zum folgelosen Experiment vorfindet, die jeder Anstrengungsbereitschaft fordernden Institution den Boden gründlich und schnell entziehen mußte.
Es sind diese Auflösungstendenzen in Familie, Recht und Ordnung, Arbeitsethik, Religion, Tradition, Sitte undsoweiter, die einem konservativ angelegten Menschen schwer im Magen liegen. Auch Arnold Gehlen hat aus seinem Unbehagen und seinem Ekel vor dem freigelassenen Menschen keinen Hehl gemacht. Jedoch kommt sein Kälteblick auch hier zum Tragen, wenn er sagt, daß es letztlich keine Kulturkritik gebe, die gegen jene Tendenz in Stellung gebracht werden könne. Wie recht er mit diesem Gedanken hat, zeigt ein Blick auf das so beliebte Lamentieren über die Zustände. Im Ergebnis wären aber die meisten kulturkritischen Gegenvorschläge bloß eine Verschiebung der eher „linken“ hin zu einer eher „rechten“ Verhausschweinung.
Gehlen hat mit seiner Position so etwas wie einen „technokratischen Konservatismus“ begründet: utopiefeindlich, realistisch, empirisch begründbar. Hierzu gehört, daß mit den gegebenen Umständen gelebt werden muß. Das klingt banal, stellt jedoch schwerwiegende Fragen an jene, die Deutschland als geschichtlich manifestiertes Gebilde wenigstens durchhalten, besser aber in ein neues, spezifisches Selbstbewußtsein versetzt sehen möchten. Gehlen würde vielen, die es gut meinen, selbstverschuldeten Machtverlust nachweisen und diesen Zustand als Dekadenz bezeichnen, „als die Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit eines Volkes, die sachlich akuten Aufgaben zu sehen und deren Gesetze in sich selbst rational, zweckhaft und systematisch zur Geltung zu bringen, sei es auch unter bewußter Opferung von Werten, deren Festhalten mit der Aufgabe sachlich unverträglich wäre. Dies ist der Weg zur Größe“.
Und es folgt eine dieser Analysen, die Gehlen so spröde und unbarmherzig machen: „Kultur dagegen ist doppelsinnig: sie kann die Verklärung der Größe eines Volkes sein, aber auch die Lebensform der Entmachteten.“ Es sind solche ätzenden Einsichten, die als vehementer Rückruf in die Politik verstanden werden müssen. Gehlen hat nicht grundlos sein ganzes Gewicht in die politische Waagschale geworfen, als er sah, daß im Gefolge des Jahres 1968 „wieder ein Schritt vorwärts auf dem Wege der Enthemmung einer fürchterlichen Natürlichkeit“ gemacht werden würde.
Über die Absicht und die Wirkung seines letzten großen Werks Moral und Hypermoral handelt der Beitrag von Karlheinz Weißmann auf den Seiten 48/49 in diesem Heft. Und erstmals ist in den Ausführungen Gehlens so etwas wie ein persönlicher Klang, eine traurige Endgültigkeit im Blick auf die deutsche Entwicklung, konzentriert auf den Begriff des „Staats“: „Seit der Antike bezeichnet das Wort ein Gebilde, dessen Sinn letzten Endes nur als rational organisierte Selbsterhaltung eines geschichtlich irgendwie zustande gekommenen Zusammenhangs von Territorium und Bevölkerung bestimmt werden kann … Es ist die bedeutendste geschichtliche Leistung einer Nation, sich überhaupt als eine so verfaßte geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist sie nicht geglückt.“
Das Gewicht der Argumentation Gehlens ist gewaltig. Er setzt dort den Schlußstrich, wo gegenwärtiges, auf die deutsche Nation bezogenes Handeln noch einmal ansetzen will. Und als Gehlen 1976 starb, war die so vollständige Ausräumung des nationalen Gebäudes noch nicht einmal absehbar. Jedoch ist die Entscheidung, die Nation (noch) zu halten, etwas, das grundsätzlich entschieden werden muß und auf das hin dann alle Handlung ausgerichtet ist. Auch Gehlen hätte zugestimmt, daß sich dieses Handeln zunächst gegen bestehende Institutionen wird richten müssen.