Wie gut auch immer diese Geschichte verbürgt sein mag, sie wirft ein Licht auf die Einschätzung der Lage durch den späten Gehlen, der noch einmal, unter Aufgabe bis dahin geübter Zurückhaltung, direkt in die politische Debatte eingriff, mit seinem 1969 erschienenen Buch Moral und Hypermoral. Es handelte sich dabei nicht nur um die Grundlegung einer „pluralistischen Ethik“ wie im Untertitel angekündigt, sondern um eine scharfe Polemik gegen das, was Gehlen den „Humanitarismus“ nannte, jene wirklichkeitsfremde, dauernd mit großen und größten Worten hantierende Weltanschauung, die die Bedingungen des individuellen wie des gesellschaftlichen Daseins verkannte, aber seit dem Beginn der sechziger Jahre zunehmend Einfluß gewann. An die Stelle des Versuchs, ein Leben ohne Bedingungen zu führen, setzte Gehlen die alte Einsicht, daß jede realistische Ethik von mehreren Lebenskreisen auszugehen habe, deren Verwechslung fatale Folgen nach sich ziehen müsse. Insbesondere verwarf er die Idee, man könne das staatliche Leben nach den Maßstäben der Privatmoral – der „Kleingruppenethik“ – beurteilen; die Eigengesetzlichkeit des Politischen verlange zwar keine Amoral, wie gelegentlich behauptet, aber eine spezifisch politische.
Die Wirkung von Moral und Hypermoral war außerordentlich. Rasch mußte nach Erscheinen der ersten eine zweite Auflage gedruckt werden. Selbstverständlich war die Kritik von links scharf, als nicht untypische Mischung aus Anerkennung und Haß breitete Jürgen Habermas eine Entgegnung auf vierzehn Druckseiten im Merkur aus („Nachgeahmte Substanzialität“). Er rechtfertigte den Aufwand damit, daß ein „im Dreieck Carl Schmitt, Konrad Lorenz, Arnold Gehlen entwickelter Institutionalismus … leicht … Breitenglaubwürdigkeit erhalten“ könnte. Das war aber nur alarmistisch. Tatsächlich gab es kaum direkte Parteinahmen für Gehlen. In der FAZ warf man ihm allen Ernstes vor, kein Vertrauen in den „natürlichen Ausgleich“ (Uwe Schultz) von Interessen und Tendenzen zu haben, und Rüdiger Altmann, häufig als Konservativer gehandelt, fürchtete in der gegebenen Situation vor allem „die zu erwartende Wendung nach rechts“.
Es war letztlich nur eine sehr kleine Zahl konservativer Intellektueller, die die Kälte der Analyse Gehlens zu schätzen wußte. Aus diesem Kreis um Caspar von Schrenck-Notzing kam die Initiative, die im Juli 1970 zum Erscheinen der ersten Nummer der Zeitschrift Criticón führte. Das Thema der Ausgabe war „Rückkehr zur Ratio“, auf dem Umschlag druckte man einen Artikel von Armin Mohler mit der Überschrift „Gehlens ‘Moral und Hypermoral´ – eine Wegmarke“. Was Mohler zu der Auffassung führte, es handele sich bei Moral und Hypermoral um eine „Wegmarke“, war die Mischung aus „stärkendem Zynismus und beißendem Spott“, die Konkretion im Gegensatz zur Vagheit der Linken, die Schärfe der Analyse gegen die Impotenz der modischen „Kritik“. Man konnte tatsächlich glauben, daß hier ein neuer politischer Stil begründet wurde, und Criticón hat über sehr lange Zeit die Funktion gehabt, der gehlenschen Rechten ein Forum zu bieten.
Allerdings hat Gehlen selbst immer vor dem Vertrauen in die Macht des Arguments gewarnt, und diese Warnung zeigte ihre Berechtigung auch im Hinblick auf seine eigene Form von Gegen-Aufklärung. Was sich als Ernüchterung oder sogar als „Tendenzwende“ in Reaktion auf den Terrorismus und die Ölkrise Anfang der siebziger Jahre abzeichnete, entsprach keineswegs dem, was er als notwendig betrachtet hatte, um die Korrektur der Fehlentwicklungen zu erreichen. Alles, was dann noch kam, entsprach ziemlich genau seinen Befürchtungen. Deshalb ist Moral und Hypermoral auch nicht abgetan. Vielmehr sollte man es heute wiederlesen und sich nicht nur begeistern an der Treffsicherheit der Formulierungen, dem außerordentlichen Kenntnisreichtum und den bleibenden Einsichten in die Funktion der menschlichen Gesellschaft, die hier vermittelt werden: Man sollte Moral und Hypermoral als prophetisches Buch lesen, mindestens als Anstoß, um darüber nachdenken, wie es möglich war, daß Gehlen schon vor dreißig Jahren die „stets wache Presse- und Rundfunkpolizei“ verantwortlich machen konnte für das Sterben der echten Debatte und absah, daß die Propaganda für acceptance – eine angeblich schrankenlose Toleranz – zur Etablierung jener „humanitären Religion“ führe, deren Ketzer „als Ungeheuer“ erschienen, so „… wie jemand im Mittelalter als Ungeheuer erschienen wäre, der die Göttlichkeit Jesu geleugnet hätte“, und deren letzte Konsequenz in einer zwar nicht intendierten, aber zwangsläufigen Machtergreifung der Perversion liege: „Auf einmal zeigt sich als überraschende Erscheinung, daß ein permanenter Kult des Bösen entsteht, eine wirklich diabolische Tendenz, vor allem im Film gepflegt, in dem … das Publikum das Böse selbst genießt … In den Menschen, die sich gegnerschaftsunfähig machen und nur das bekommen wollen, was sie selbst gewähren, nämlich Schonung, bleibt etwas wie ein kleiner diabolischer Keim, der die Freude an der Vernichtung des Wehrlosen bedeutet“.
Gehlen starb am 30. Januar 1976. Es trat niemand an seine Stelle, es gab und gibt keine Gehlen-Schule. Das ist zum Teil auf tragische Umstände zurückzuführen, in erster Linie aber die Folge der geistigen Lage, in der sich Westdeutschland befindet. Selbstverständlich haben viele von Gehlen profitiert, wenige haben ihm die Anregung gedankt, kaum einer war bereit, Konsequenzen aus der Analyse zu ziehen. Auch das hätte Gehlen nicht überrascht. Er war skeptisch im Hinblick auf die durchgängige Rationalität des Menschen, und er war skeptisch im Hinblick auf die Möglichkeit überhaupt politisch zu agieren. Jemand, in dessen Theorie die Handlung eine so bedeutende Rolle spielte, äußerte wenige Jahre vor seinem Tod: „‘Rechts´ ist jetzt Atmosphäre, die keine Partei ist, aber die Moral auf ihrer Seite hat.“