Derlei Inszenierungen sind demokratischen Parteien fremd. Insbesondere im linken Parteienspektrum munitionieren sich im Rahmen von Grundsatzdebatten die Chefideologen der jeweiligen Parteiflügel mit Gesellschaftsanalysen, Begriffsbestimmungen und Diskurstechniken auf, um sich dann mit Verve heftigste Grabenkämpfe und Scharmützel zu liefern, auch wenn die Parteispitze solcherlei intellektuelles Treiben insgeheim belächelt und im Kampf um den Machterwerb pragmatisch handelt. Der Wert der Theoriedebatten zeigt sich erst nach Erringen parlamentarischer Mehrheiten. Dann ist das ideologische Rüstzeug zur Hand, um zu entscheiden, in welche Richtung es eigentlich gehen soll.
Auf der Seite der Rechten stehen derlei Theoriegebäude und Grundsatzdebatten nicht hoch im Kurs. Welche Folgen das haben kann, zeigte die Kohl-Ära; mangels eigenständiger Wertebasis erschöpfte sich der legendäre Aufruf zur „geistig-moralischen Wende“ in der nur leicht gebremsten Fortführung linker Gesellschaftsentwürfe. Da dieser Tatbestand nach 1998 kaum als Defizit wahrgenommen wurde, scheiterte Friedrich Merz mit seinem Vorstoß zur Präzisierung einer deutschen Leitkultur grandios, weil den Christdemokraten nicht viel mehr als die Beherrschung der deutschen Sprache und die Einhaltung der Gesetze als Merkmale der Leitkultur einfielen. Entsprechend setzte die Ankündigung der CDU-Parteivorsitzenden Angela Merkel, eine Patriotismus-Debatte führen zu wollen, auch keine intellektuelle Energie frei, obgleich eine solche Diskussion zu Beginn der 21. Jahrhunderts angebracht wäre und die Union sich diese Auseinandersetzung angesichts einer desaströsen rot-grünen Politik leisten könnte. Wie die Identifikation der Individuen mit der Nation gefördert werden kann, welchen Beitrag die gefühlsmäßige Bindung der Bürger an Werte und Traditionen des eigenen Volkes zur Dämpfung der härter werdenden Verteilungskämpfe in der Gesellschaft leisten kann, ob der Patriotismus zur Bestimmung der Maßstäbe eines sozialen Miteinanders herangezogen werden sollte, das sind Fragen, die die Debatte lohnen. Ebenso verlangt die deutsche Sonderfrage nach einer Klärung, ob die Vaterlandsliebe nur noch als kulturelle Kategorie taugt, während sie als politische Kategorie durch einen EU-Patriotismus zu ersetzen wäre.
Solche Themen stoßen aber kaum auf Resonanz in einer Union, die wenig Wert auf eine theoretische Fundierung ihrer Gesellschaftspolitik legt. Schon der Zeitpunkt der Anregung eines Nachdenkens über den Inhalt und den Stellenwert des Patriotismus in Deutschland ließ auf ein rein taktisches Motiv schließen.
Deutlicher als es die Abstimmung in der CDU/CSUBundestagsfraktion über den Ausschluß Martin Hohmanns zum Ausdruck brachte, sorgte die Verstoßung des konservativen CDU-Abgeordneten aus Fulda für Unmut in der Partei. Und als es Fritz Schenk gar gelang, den Groll an der Parteibasis zu organisieren, war es angebracht, den ohnehin weitgehend marginalisierten und zerstreuten konservativen Christdemokraten eine Beruhigungspille anzubieten. Dabei zeigte sich, daß allein schon Merkels Ankündigung einer Patriotismus-Debatte sowie ihr Eintreten für ein Vertriebenenzentrum in Berlin voll und ganz ausreichten, um die Reste des rechten CDU-Flügels zu besänftigen. Die CDU-Rechten haben ohnehin in diesen Tagen kein Interesse an eigenen Beiträgen zu Grundsatzfragen. Diejenigen, die allzu deutlich Sympathie für Martin Hohmann gezeigt hatten, leben in der Furcht, vom Parteifreund Bosbach die „harte Kante“ gezeigt zu bekommen, und schweigen; die Rechten, die bisher geschwiegen haben, schweigen weiter, um nicht auf die watch-list zu geraten, oder sie distanzieren sich vom „Bösen“, um ihre Linientreue unter Beweis zu stellen. Daher hätte auch schon vor dem Parteitag mangels interessierter Diskutanten die Patriotismus-Debatte für beendet erklärt werden können.
Aber so wie Frau Merkel als Machtpolitikerin unterschätzt wird, wird ihre Qualität als Programmatikerin unterbewertet. Sie nutzte die Gelegenheit, um im Schatten der Hohmann-Affäre auf dem Leipziger Parteitag en passant der Union eine Patriotismusbestimmung zu verordnen, mit der endgültig der Anschluß an das 68er- Weltbild vollzogen wurde. Sie erklärte „die fortwirkende Anerkennung des Unaussöhnlichen, die Singularität des Holocausts“ zur Grundlage der CDU und verstieg sich zu der Feststellung: „Die Anerkennung der Singularität des Holocausts hat uns doch zu dem gemacht, das wir heute sind – frei, vereint, souverän.“
Daß letztere Aussage einer geschichtswissenschaftlichen Analyse des Wiedervereinigungsprozesses nicht standhält, steht außer Frage; aber für die Errichtung eines patriotischen Gebäudes ist einzig von Bedeutung, daß „auf solchen, kühnen Bögen“ (Johannes Leithäuser in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Dezember 2003) ein nationales Selbstwertgefühl gezimmert wird, das seine Identität primär aus dem Holocaust beziehungsweise der deutschen Schuld saugt. Damit ist die CDU noch nicht vollständig auf Kurs der deutschen Linken, – diese zieht aus Auschwitz den Schluß: Auflösung Deutschlands in postnationale Identitäten und Strukturen, während die CDU-Parteivorsitzende scheinbar das deutsche Projekt nach 1945 als ewigen Versuch der Abarbeitung einer unsühnbaren Schuld versteht und daraus die deutsche Identität ableitet -, aber die CDU ist nunmehr so tief in das Fahrwasser des Zeitgeistes eingetaucht, daß die Linke um ihre Hegemonie auf dem Feld der Geschichtsinterpretation nicht fürchten muß und „nationalistische Entgleisungen“ der Partei ausgeschlossen sind. Wer den Patriotismus aus dem Abscheu vor dem Bösen konstruiert, gelangt zwangsläufig zum Beispiel zur Monumentalisierung der Holocaust-Gedenkstättenkultur. Und wie ein solcherart geformtes nationales Bewußtsein in der Außenpolitik umzusetzen ist, verdeutlichte Frau Merkel ebenfalls. Sie lehnt es schlichtweg ab, sich „eine unter welcher Überschrift auch immer geführte Diskussion um angebliche Benachteiligungen Deutschlands vor dem Hintergrund unserer Geschichte aufdrängen zu lassen“.
Derlei Ansichten könnten zu Diskussionen anregen oder gar Widerspruch herausfordern; aber auf dem Parteitag entfaltete sich keine inhaltliche Debatte. Und der Raum für eine solche Debatte, also ein Verfahren, bei dem durch die Erörterung unterschiedlicher Auffassungen ein Konsens gefunden werden soll, war ohnehin kaum gegeben. Indem die Parteivorsitzende ihre Patriotismusüberlegungen in das Verdikt über Hohmann einbettete, erzeugte sie vielleicht nicht ungewollt bei manchen Delegierten den Eindruck, daß ein Abweichen von der Linie der Vorsitzenden den Betreffenden sehr rasch an den Rand des Verdachts der Sympathisantenschaft mit antisemitischen Positionen geraten läßt, was bekanntlich zum endgültigen Ausschluß aus dem Kreis der Demokraten führt. So nickte denn der Parteitag widerspruchslos Merkels Ausführungen ab, und die CDU hat ihre 68er- Dogmatik verpaßt bekommen. Eine weitere Debatte hat sich damit erübrigt, – in Ermangelung unterschiedlicher Auffassungen. Auch so kann ein neuer Konsens geschaffen werden.