Könnte man sich ein vergleichbares Projekt für die Gegenseite vorstellen? Ein „Lexikon rechter Leitfiguren“, das von Antigone über Bismarck und de Gaulle bis zu Kardinal Ratzinger reicht, den lunatic fringe von Benn über Eliot, die Brüder Jünger bis zu Botho Strauß verzeichnet, Edgar Jung und Stauffenberg als Blutzeugen erwähnt und Vorstöße zu Barrès, Niekisch, Sorel und Spengler unternimmt, vielleicht noch Joris van Severen einbezieht, aber konsequent die Behandlung von Franco, Mussolini und Hitler meidet? Wohl kaum. Dabei erklärt nicht fehlende moralische oder intellektuelle Dignität die Lücke. Entscheidend ist vielmehr ein Prozeß des Verschwindens der rechten als einer denkbaren geistigen und politischen Position.
Dieses Verschwinden ist zunächst die Folge einer „Linksmystik“ (Peter Richard Rohden), die in Frankreich schon vor dem Ersten Weltkrieg zum Kollaps aller Parteien führte, die sich bis dahin offen der Rechten zugeordnet hatten und nun bestenfalls als „Mitte“, als „Radikale“ oder als „Sozialisten“ aufzutreten wagten. Aber ist dieses Unsichtbarwerden der Rechten als Auslöschung zu verstehen, als Endsieg der „ewigen Linken“? Die Formel „ewige Linke“ hat Ernst Nolte gewählt, um die eigenartige Stabilität linker Zielvorstellungen zu charakterisieren, die seit den Streiks der Arbeiter an den Pyramiden und der Gesellschaftskritik der Propheten des Alten Testaments unverändert blieben. Immer ging und geht es darum, soziale Gleichheit herzustellen, verknüpft mit der Annahme, daß sich die Welt – die natürliche wie die vom Menschen geschaffene – zu dem Zweck unbegrenzt vervollkommnen lasse.
Nolte hat es vermieden, der „ewigen Linken“ eine „ewige Rechte“ gegenüber zu stellen, etwa als Repräsentanten der herrschenden Klassen. Die Zusammensetzung der Rechten habe sich im Lauf der Zeit sehr stark verändert, und mit ihr die der rechten Weltanschauungen und Programme. Diese Heterogenität hat der Rechten den Ruf eingetragen, die Partei der Ungleichheit und des wahllosen Konservatismus zu sein. Aber schon oberflächliche Betrachtung zeigt, daß die Rechte nicht die Ungleichheit als solche verteidigt und daß sie nicht jede Ordnung bejaht.
Die Ablehnung des zentralen Inhalts linker Ideologie ist für die Rechte vielleicht zuerst eine Stilfrage. Man empfindet Gleichheit als Gleichförmigkeit, als Uniformität und die als ästhetisch störend. Die Wertschätzung der Höflichkeit, der nuancierten Signale von Über- und Unterordnung ist insofern typisch rechts. Die Bevorzugung des Geschlossenen gegenüber dem Diffusen steht dazu nur scheinbar im Widerspruch, weil Geschlossenheit eine Gestalt verbürgt, die das Einzelne eingliedert und zum Teil eines Ganzen macht, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Für die Rechte ist die Hierarchie schön und mit ihr der liturgische Ausdruck. Es rührt aus dieser Wahrnehmung auch die Sympathie für authentische Volkskulturen einerseits und die Ablehnung des Multikulturalismus andererseits. Die Rechte sieht in der Kultur immer ein Gesamt von Herkunft, Heimat und spezifischen Ausdrucksweisen, für die Linke ist die Kultur patchwork, dessen Elemente man um der Buntheit willen beliebig vertauschen kann.
Die Betonung der Differenz geht einher mit der Neigung zum Konkreten und begründet die Fremdheit der Rechten gegenüber systematischen Weltdeutungen. Ihre Basis mißtraut den Ideologen und beruft sich auf Erfahrung und gesunden Menschenverstand. Schon in der bäuerlichen Konterrevolution der Vendée, im hemdsärmeligen Haß der Arbeiter auf den Kommunismus und im Mißtrauen des Kleinbürgers gegen Weltverbesserer steckte eine Wirklichkeitsauffassung, die derjenigen vieler Gebildeter überlegen war. Die Beeindruckbarkeit und Irritierbarkeit der Intellektuellen ruft aber auch bei den Köpfen der Rechten Widerwillen hervor und läßt die paradoxe Neigung entstehen, sich als „Antiintellektuelle“ zu begreifen, was nichts mit Verachtung des Geistes zu tun hat, sondern mit einem scharf ausgeprägten Bewußtsein für die Grenzen der Ratio. Von den „Antiphilosophen“ des 18. bis zu den „Antisoziologen“ des 20. Jahrhunderts arbeitete die Rechte an einer Gegen-Aufklärung, die vor allem über die problematischen Folgen der Aufklärung – insbesondere ihre nihilistische Tendenz – aufzuklären suchte.
Die Rechte ist also nicht prinzipiell theoriefeindlich, aber sie benutzt Theorien als Hilfsmittel, sieht in ihnen keinen Glaubensersatz. Deshalb zog sie viele Begabungen an sich, deren Disziplinen von Hause mit der Vielfalt der Erscheinungsformen zu tun haben, neben der Geschichte die Religionswissenschaft, die Volks- und Völkerkunde, die Germanistik und die Philologien überhaupt. Man wird das sogar für die Psychologie behaupten dürfen, soweit sie außerhalb der Freudschen Schule Ansätze fand. Diesen Wissenschaften ist aber nicht nur Aufmerksamkeit für die Phänomene gemeinsam, sondern auch die anthropologische Interessiertheit. Und zu den Leitmotiven des rechten Denkens gehört ohne Zweifel die Suche nach dem sachgerechten Bild des Menschen.
Landläufig wird der Unterschied von linkem und rechtem Menschenbild auf den Gegensatz von Optimismus und Pessimismus gebracht, und tatsächlich hat die Linke immer wieder behauptet, daß der Mensch seinem Wesen nach „frei, gleich, gut, gesund und glücklich“ (Rousseau) leben sollte. Wo die Umstände das nicht erlaubten, müßten sie geändert werden. Die vordergründige Plausibilität dieses Programms erklärt viel von der Anziehungskraft der Linken, ihre Neigung, dessen utopischen Kern als Handlungsanweisung zu verstehen, erklärt viel von ihrem Scheitern. Deshalb ist die Linke nicht nur Schrittmacher der Demokratisierung, sondern auch Schrittmacher totalitärer Systeme. Der Jakobinismus wie der Sowjetkommunismus und alle möglichen staatssozialistischen Modelle der Dritten Welt hatten und haben die Rechtfertigung als Erziehungsdiktaturen gemeinsam. Sie sollten dem kommenden „Reich der Freiheit“ den Weg bereiten, und die Entstehung einer „neuen Klasse“ (Milovan Djilas), einer allmächtigen Nomenklatura, wurde regelmäßig damit begründet, daß das Ideal wegen widriger Verhältnisse noch nicht verwirklicht werden könne; bis die Zeit vollendet sei, müßten einige – wie die Schweine auf Orwells Farm der Tiere – „gleicher“ sein als andere.
Die Linke neigt dazu, das Paradies innerweltlich herzustellen, was es schwer macht, ihre Leitvorstellungen anders als in theologischen Begriffen zu beschreiben. Demgegenüber erkennt die Rechte den „Fall“ an, selbst da, wo sie sich vom Glauben abgewendet hat, und akzeptiert die Notwendigkeit, unter gegebenen Bedingungen zu existieren. In gewissem Sinn kann es das richtige Leben nur im falschen geben. Die Linke will die „Entfremdung“ – auch das ein ursprünglich religiöser Begriff – ganz aufheben, während die Rechte danach fragt, wie ein sinnvolles Dasein trotz Entfremdung möglich ist. Faßt man „Identität“ als Gegenbegriff zu Entfremdung, so sieht die Linke darin einen finalen Zustand, eine Erlösung. Der Einzelne durchschaut alle Bindungen und befreit sich von ihnen oder nimmt sie nach Maßgabe seines Willens an, dagegen betrachtet die Rechte Identität als Übereinstimmung mit sich selbst, die erreicht wird durch Anerkennung dessen, was Anspruch darauf erheben kann: eine Autorität, eine Institution und letztlich ein Schicksal oder eine Fügung.
Es ist in dieser Anerkennung ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit wirksam, das den „Dezisionismus“ der Rechten ebenso zu erklären hilft wie ihr Mißtrauen gegenüber dem „Diskurs“. Das Pathos der Entscheidung und die Skepsis gegenüber der Debatte, die die Entscheidung vorbereiten, aber keinesfalls ersetzen kann, gründen außerdem in der Erfahrung, daß das große Palaver regelmäßig Macht und Verantwortung verschleiert oder auflöst. Die Anwendung von Macht ist aber so unumgänglich wie die Übernahme von Verantwortung. Legitime Gewalt gehört zu den Kennzeichen jeder guten Ordnung. Ihr Gebrauch steht nicht im Widerspruch zur Freiheit des Individuums, vorausgesetzt die Freiheit wird im sittlichen Zusammenhang verstanden.
Daß die Rechte der linken „Freiheit wovon“ die „Freiheit wozu“ entgegenstellt, ist auf die Sorge vor den denkbaren und wahrscheinlichen Folgen eines verkehrten Freiheitsbegriffs zurückzuführen, aber auch darauf, daß die Gewährung schrankenloser Freiheit dem Menschen nicht gemäß ist. Inhumanität ist aus rechter Perspektive die letzte Folge linker Ideologie. Egalitarismus gehört zum Reich der Lüge, er zerstört tief im Menschen angelegte Bedürfnisse: das Bedürfnis, sich auszuzeichnen ebenso wie das, einer Sache mit Anstand zu dienen. Man kann Rechtsgleichheit religiös, philosophisch oder pragmatisch begründen, aber jeder Versuch, Gleichheit über diesen Bereich auszudehnen, sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, daß die Menschen im Hinblick auf ihre entscheidenden – intellektuellen, kreativen und moralischen – Qualitäten nicht gleich sind. Die Linke hat immer wieder versucht, dem durch Umverteilung, Erziehung und Therapie zu begegnen, ohne daß man die Ergebnisse überzeugend nennen dürfte, häufig sind sie zerstörerisch. Wenn Menschen ihre Verschiedenheit gegen eine dogmatische Auffassung von Gleichheit behaupten müssen, wird die Entfaltung ihrer geistigen und schöpferischen Fähigkeiten behindert und wird der Zweifel an einer hinreichend klaren Bestimmung von Gut und Böse wachsen. Insofern die Rechte glaubt, daß der Mensch am besten gedeiht, wenn er seinen Fähigkeiten entsprechend behandelt wird, und weiter annimmt, daß der Mensch durchaus moralisch zu handeln vermag, ist ihre Anthropologie in der Konsequenz optimistischer als die der linken.
Vollständige Gleichheit gibt es nur im Tod. Auch wenn egalitäre Ideologien sich den Anschein von Vitalität geben, tritt ihr lebensfeindlicher Charakter über kurz oder lang hervor. Zwar wurden die Erfolge der „Neuen Linken“ in den sechziger Jahren von der „sexuellen Revolution“ begleitet und ermöglicht, aber es sah nur auf den ersten Blick nach Entfesselung dionysischer Energien aus. Im Laufe der Zeit hat sich die Freudlosigkeit der Libertinage ebenso enthüllt wie die bedenklichen Folgen weiblicher Emanzipation, der Skandal massenhafter Abtreibungen ebenso wie die Aporien der Fortpflanzungstechnologie oder die Konsequenzen, die der Geburtenschwund haben muß. Noch gar nicht abzusehen ist, was die Privilegierung der Homosexualität bedeutet. Die wird begleitet von der „Dekonstruktion“ der Geschlechtlichkeit, in der die Anthropologie der Linken offenbar an ihr letztes Ziel kommt: der Aufhebung aller Anthropologie in der als Selbstbestimmung ausgegebenen Machbarkeit des Menschen.
Im Kern ist die Linke lebensfeindlich und Leben der „im höchsten, religiösen Sinn konservative Begriff“ (Thomas Mann), – eine irritierende Feststellung, wenn man im Konservatismus vor allem Nostalgie und Festhalten an Beständen sieht. Ohne Zweifel sehnt sich die Rechte nach goldenen Zeitaltern, wird der Schmerz über den Verlust des Vertrauten tiefer empfunden, gibt es eine besondere Pietät gegenüber den Alten. Aber die Zahl der Archaiker ist immer klein gewesen, eine „antigeschichtliche“ (Julius Evola) Position läßt sich kaum konsequent durchhalten. Schon die erste konservative Reflexion führte zur Einsicht in die bestimmende Kraft des Wandels. Allerdings nimmt der Wandel das Frühere in sich auf und bildet es um. Die ganze Romantik war fasziniert von dieser Idee „organischer“ Entwicklung, wobei weder die Metapher des pflanzlichen Wachstums im Vordergrund stand noch der später so einflußreich gewordene Naturalismus, der Darwins Lehren auf die menschliche Gesellschaft übertrug. „Das Wesen des Organischen“, so Adam Müller, „ist, daß es sich bis ins Unendliche organisiert“, das heißt, das Organische verbürgt den Zusammenhang verschiedener und verschiedenartiger Elemente, die – wie von selbst – zur Einheit „organisiert“ werden.
Wir sind gewohnt, Organisation im Sinn eines planenden Ausgreifens zu verstehen, während es hier als umfassende, gerade nicht „mechanische“ Ganzheit aufgefaßt wird. Die Vorliebe konservativer Theoretiker für den Makroanthropos, den Großen Menschen, als Sinnbild von Volk oder Staat oder Kirche hat im Organismusgedanken ebenso ihre Wurzeln wie die Menge der Lebensreform‑, Heimat- und Naturschutzbewegungen, die „Ökologie“ bereits zum Orientierungspunkt machten, als es diesen Begriff noch gar nicht gab. Ökologie als linkes Projekt aufzufassen, ist nur möglich, wenn man die Bewahrung des Lebens mit Sentimentalität verwechselt und vor wichtigen Schlußfolgerungen zurückscheut. Daß Ökologie kaum mit Selbstentfaltung zusammengeht, daß Artenschutz schlecht auf bedrohte Pflanzen und Tiere beschränkt werden kann, ist von Konservativen immer wieder ins Feld geführt worden. Der Name Herbert Gruhls gehört in diesem Zusammenhang, aber auch derjenige von Konrad Lorenz. Lorenz hat sich nicht gescheut, die eigentliche Gefährdung jeder Organisation durch „Dekadenz“ aufzuzeigen. Unter Dekadenz verstand er als Biologe die „Störung der Systemganzheit“, auf den menschlichen Bereich bezogen hat er vor allem im Abbruch der Tradition eine Ursache für diese Art von Störung gesehen. Es ist aufschlußreich, daß Lorenz ausdrücklich von der Empfindlichkeit der Kultur sprach, ein für die Rechte typischer Gesichtspunkt, während die Linke Kultur im Grunde für selbstverständlich hält und deren Belastbarkeit glaubt ungestraft erproben zu dürfen. Allerdings hielt Lorenz den Prozeß der Dekadenz nicht für zwangsläufig. Überhaupt neigt die Rechte nur ausnahmsweise zur Vorstellung einer Involution, eines unvermeidbaren Niedergangs, so skeptisch sie im übrigen den „Fortschritt“ sieht. Im Regelfall hat man es mit der Idee eines Wechselspiels von Aufstieg und Verfall zu tun, einem alternierenden Prozeß, in dem Dekadenz und Regeneration sich ablösen.
Es gibt deshalb auf der Rechten nicht nur eine Neigung, die Tradition zu verteidigen, sondern auch ein besonderes Interesse an „kadmeischen Feldern“ (Ernst Moritz Arndt), das heißt an Situationen, in denen neue, lebensfähige Ordnungen geschaffen wurden durch Heroen, Wundermänner, geschichtliche Persönlichkeiten. Deren Übereinstimmung mit ihrer Zeit und deren außerordentliche Fähigkeit respektiert man und glaubt nicht, daß sie ersetzt werden könnten oder an den gewöhnlich geltenden Maßstäben gemessen werden dürften. In dieser Ehrfurcht vor der „bildenden“ Tat findet die sonst für die Rechte typische Präferenz zu Gunsten des Bestehenden und der Institutionen ihre Grenze.
Es gibt durchaus Verhältnisse, die nicht bewahrt werden dürfen und Einrichtungen, die zwar noch vorhanden, aber längst unfähig sind, ihre lebensdienliche Aufgabe zu erfüllen. Das erste Kriterium für Lebensdienlichkeit ist das Vermögen, Dauer zu schaffen. Die Rechte hat im Laufe ihrer Entwicklung ganz verschiedene Größen – die Kirche, die Krone, die Stände, das Volk – als Garanten der Dauer angesehen und ihnen Ewigkeit zugesprochen, aber im Grunde nie vergessen, daß diese äußeren Gestalten endlich sind und unter Umständen eine „konservative Revolution“ nötig sein kann.
Aufs Ganze gesehen ist die Zahl der denkbaren politischen Positionen klein, jedenfalls, wenn man sich auf Idealtypen beschränkt und die zahllosen Varianten, die Kombinationsmöglichkeiten und Extremformen außer acht läßt, die auf der Linken wie auf der Rechten dazu tendieren, den Kerngehalt der Position, der man sie zurechnet, aufzulösen. Man kann das an den nationalistischen und militaristischen Elementen des Stalinismus ebenso ablesen wie umgekehrt an den egalitären und progressiven Elementen des Faschismus oder des Nationalsozialismus. Soweit es aber nur um den erwähnten Kerngehalt geht, bleiben die Umrisse relativ klar erkennbar. Für die Rechte wird dieser Kerngehalt am deutlichsten durch die Konservativen vertreten, insofern man das Konservative in dem oben abgesteckten Rahmen versteht.
Dieser Vorbehalt ist nötig, weil es das Konservative nicht nur als politische und weltanschauliche Position, sondern auch als „Einstellung zu den Dingen“ (Georg Quabbe) gibt. In diesem Sinn hat das Konservative in den letzten beiden Jahrzehnten eine Konjunktur erlebt, die auch zu den Ursachen für die Kraftlosigkeit der Rechten gehört. Eine Rolle spielte dabei spontane Regeneration, wichtiger ist aber, daß diejenigen, die vorgestern auf den Barrikaden standen und die Auslöschung des Bestehenden forderten, heute wohlgekleidet umhergehen und den Genuß schätzen. Die Linke als Establishment nutzt selbstverständlich die Möglichkeiten, die Machtbesitz bietet und bildet Verhaltensweisen aus, die vor allem den bürgerlichen Menschen beruhigen. Die Vorstellung von einem selbstverständlichen Konservatismus als Folge menschlicher Reife hat etwas für sich, aber in diesem Fall geht es nicht um gewonnene Einsicht, sondern um eine Pseudomorphose. Das Konservative wird als Dekor mißbraucht, von der Anerkennung seiner Leitgedanken ist man weit entfernt. Das wird besonders deutlich, wenn es um die Beurteilung von Krisenerscheinungen geht und um die Vorschläge zur Abhilfe.
In einer Rede des Dichters Rudolf Borchardt vom Anfang der dreißiger Jahre hieß es: „Die ganze Welt wird reißend konservativ, aus Selbstschutz, aus Erbschutz, aus der Pflicht heraus, … die durcheinandergerüttelten Elemente … unter die Hand des nationalen Kontinuums wieder einzufangen, jeder auf einem anderen Wege, wir auf dem schwersten, der Wiederumstürzung des Umsturzes, der negierten und negierenden Negation …“. Die Verheißung ist nicht in Erfüllung gegangen, der Prozeß des kulturellen Abbruchs, den Borchardt ganz besonders schmerzlich empfand, war noch lange nicht beendet. Erst heute kommt die Entwicklung zu einem Abschluß. Das zeigt das Ausmaß der Gefährdung, eröffnet aber auch Möglichkeiten. Zur Vorbereitung mag der „Selbstschutz“ aus Einsicht in die Lage und ihre Gefährdungen gewisse Dienste leisten, aber wichtiger ist die Bereitschaft, den schwersten Weg einzuschlagen: die „Wiederumstürzung des Umsturzes“.