In der Scheu vor allzu festen Strukturen äußerte sich eine weitere pädagogische Überlegung: Gewöhnen sich die hoffentlich bald wieder prosperierenden westeuropäischen Staaten daran, daß die USA ihren militärischen Schutz übernehmen, dann werden sie ihre eigenen Anstrengungen vernachlässigen, die ihre Sicherheit erfordert. Außerdem fürchtete gerade Kennan, vertraut mit der Sowjetunion, daß eine enge transatlantische Gemeinschaft, statt die Gefahren abzuschwächen, diese vermehren würde. Die Russen müßten erst recht mißtrauisch, gereizt und ungeduldig reagieren, was die Spannungen in Europa nur erhöhen und einen schwer zu beruhigenden Rüstungswettbewerb verursachen würde. Beides zöge unvermeidlich die US-Amerikaner immer tiefer in europäisch-russische Auseinandersetzungen hinein, aus denenen sie sich möglichst heraushalten sollten. Gerade um als sorgfältiger Hegemon, als „ehrlicher Makler“ bei Gegensätzen zu vermitteln und die Abwesenheit des Krieges geduldig einer tatsächlich freundschaftlichen Verständigung unter den Mächten anzunähern, also einem friedlichen Zustand.
Kennan, der Historiker und praktische Diplomat, hatte stets einen großen Respekt vor Bismarck. Die Politik des Reichskanzlers galt ihm als Beispiel vernünftiger Selbstbeschränkung einer Großmacht, die ihre Hegemonie in einem kunstvollen System direkter und indirekter Bündnisbeziehungen verbarg, um Europa und die Welt an das neue Reich zu gewöhnen. Aber auch um die Hegemonie, die stets als lästiger Druck empfunden wird, abzumildern, sie als eine der Sicherheit aller dienenden Kraft auch dem Widerstrebenden verständlich zu machen. Bismarck hütete sich, das Reich in Affairen zu verwickeln, die jenseits deutscher Interessen lagen. „Jede Großmacht, die außerhalb ihrer Interessensphäre auf die Politik der anderen Länder zu drücken und einzuwirken sucht und die Dinge zu leiten sucht, die periklitiert außerhalb des Gebietes, welches Gott ihr angewiesen hat, die treibt Machtpolitik und nicht Interessenpolitik, die wirtschaftet auf Prestige hin.“
Als praktischer Staatsmann ließ er sich nicht von den großen Worten einschüchtern: die Menschheit, Europa, der Weltfrieden, die Zivilisation. Er kümmerte sich um das nächstliegende: die großen Mächte davor zu bewahren, den leidlich gesicherten Frieden aufzugeben, um im Krieg die letzte Auskunft zu suchen und rechtzubehalten, irgendeinen Eigensinn durchzusetzen. Der Eigensinn muß seine Grenzen im Privatleben kennen, nicht minder im Zusammenleben der Staaten. Das wußte Bismarck in der Tradition Metternichs oder Talleyrands. Sie alle jonglierten mit vielen Bällen, um ein System kollektiver Sicherheit, je nach den Umständen, zu schaffen oder zu erhalten. In solchen Bündnissystemen, die möglichst ganz Europa umfassen und von dieser Mitte der Welt alle Kontinente einer „europäischen Ordnung“ einfügen sollten, gab es immer Hegemone. Aber keiner wollte sich im 19. Jahrhundert als solcher zu erkennen geben. Das imponierte Kennan, der eine Hegemonie der USA nach 1945 für alle übrigen „praktikabel“ machen wollte.
Ihm erschien es angemessen, in diesem Sinne mit Bismarck den USA zu raten, von keinem Staat Gefälligkeiten oder Handlungen aufgrund eines allgemeinen Rechtsgefühls zu erwarten, aber die eigene Politik so zu führen, daß die anderen ein solches Verhalten bei den USA voraussetzen dürfen. Bismarck kannte die militärische Stärke des Reiches. Das Bewußtsein der Stärke, nicht die Furcht stimmte das Reich friedlich, wie er beteuerte. „Das Bewußtsein, auch dann, wenn wir in einem minder günstigen Augenblick angegriffen werden, stark genug zu sein zur Abwehr und doch die Möglichkeit zu haben, der göttlichen Vorsehung es zu überlassen, ob sie nicht in der Zwischenzeit doch noch die Notwendigkeit eines Krieges aus dem Wege räumen wird“.
Deshalb konnte er selbstsicher verkünden: „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt; und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt“. Präventivkriege ließen sich mit solchen Überzeugungen nicht verbinden, da man der Vorsehung nicht so leicht in die Karten sehen kann, um der geschichtlichen Entwicklung nach eigener Berechnung vorzugreifen. In Anlehnung an derartige Ideen vernünftigter Selbstbeschränkung wollte Kennan, daß die USA, um den Ehrgeiz der Sowjetunion einzudämmen, nicht ununterbrochen und überall intervenieren und sich als Gendarmes der Welt unbeliebt oder lächerlich machen. Nur von Fall zu Fall, sofern der Anlaß dazu zwang, sollte sich die mächtigste Großmacht als solche zu erkennen geben. Aber auch dann möglichst in Übereinstimmung mit anderen Mächten, die ihre Interessen am besten im Einverständnis mit der führenden Macht gesichert sahen.
Das Wort „Führung“ schreckte Kennan nicht. Denn ein Hegemon, wie er von den griechischen Philosophen wußte, sollte Staaten um sich scharen, sie anführen, als Führer auftreten, der im Dienst an der Gemeinschaft Vertrauen stiftet und erhält. Führerschaft ist das Gegenteil von Willkürherrschaft. In freiem Entschluß und klarer Einsicht, aber nicht unter Zwang vertrauen sich Schutzbedürftige der Führung durch die stärkste Macht an. Ihr bloßes Dasein wirkt schon einschüchternd, wie Isokrates vermutete: „Alle werden sich ruhig verhalten, wenn sie wissen, daß eine solche Macht existiert, die den Schwachen und Überfallenen zu Hilfe kommt“. Eine Macht, die in ethischer Vorbildlichkeit der Gerechtigkeit dient, Unrecht abwehrt und selbst nicht nach fremden Besitz strebt, zumindest nicht unter zivilisierten Menschen, höchstens unter den Barbaren.
Kennan lehnte für die USA hegemoniale Aufgaben nicht ab. Er hoffte nur, daß die USA sie nicht einseitig übten, sondern in Zusammenarbeit mit anderen, selbständigen Kräften, die entsprechend ihren Möglichkeiten von ihrer Bewegungsfreiheit Gebrauch machten, durchaus auch zum Vorteil der USA, die sich auf das jeweils wichtigste konzentrierten. Doch Pluralisten in alteuropäischer Tradition wie Kennan unterschätzten die Angst der Europäer vor dem Kommunismus und der Sowjetunion. Es waren die Europäer, die die US-Amerikaner zu immer gründlicheren Sicherheitsvorkehrungen in Europa nötigten, die förmlich danach verlangten, sich unter das Protektorat der USA zu begeben. Mit den Folgen, die Kennan vorhergesehen hatte. Der Kalte Krieg wurde intensiver und die indessen wohlhabenden Europäer gewöhnten sich daran, den USA die Kosten ihrer Verteidigung aufzubürden, während sie Handel trieben, selbst mit den Kommunisten und endlich unter amerikanischen Schutz und Schirm Geschäfte mit den Kommunisten machten, eine allgemeine Entspannung zu ihnen suchten.
Allianzen setzen ein Motiv, einen bestimmten Zweck voraus, der eine gewisse Konformität der Interessen erhält. Der Sinn der Nato lag im Antikommunismus. Ihre Auflösung war programmiert. Das Bündnis verlor seine Daseinsberechtigung, sobald die Furcht vor dem Kommunismus und der Sowjetunion nachließ. Schon vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion hielten US-Amerikaner wie David P. Calleo 1987 die Nato für eine überholte Konstruktion, was bedeutete, den transatlantischen Beziehungen eine neue Interpretation zu geben. Calleo, auch ein europäisch-historischer Kopf, beklagte, daß die USA nicht zuletzt von den Europäern in eine hegemoniale Rolle gedrängt worden waren, die eben nicht mehr in freier Partnerschaft sich äußerte, sondern zunehmend in einseitiger Dominanz. Die USA hätten die Welt nach dem Kriege pluralistisch erneuert und dann nach und nach ein Verständnis für dies Pluriversum verloren, das sie immer entschiedener mit ihrem Willen harmonisieren, gleichschalten wollten. Das überfordere endlich ihre Möglichkeiten.
Jenseits von einer unverhohlenen Hegemonie im Beziehungsgeflecht mehrer Großmächte oder Staatenvereinigungen, die, wie Europa, zum Rang einer Weltmacht aufsteigen, müßten die USA zu neuen Übereinkünften gelangen, nicht unähnlich dem früheren Konzert der Mächte, jetzt einem Ensemble der Weltmächte, die über den Weltfrieden wachen. Der Kalte Krieg und der Rüstungswettlauf hatten, wie alsbald auch Paul Kennedy zu bedenken gab, die USA überanstrengt. Calleo sprach nicht vom Rückgang amerikanischer Macht. Er verwies darauf, daß andere aufstiegen, sich den amerikanischen Möglichkeiten näherten, daß die Welt sich nicht in ein Universum unter amerikanischer Führung wandele, sondern als Pluriversum zu einer neuen „Verfassung“ fände. Diese Entwicklung werde es den US-Amerikanern gerade leichter machen, ihren Einfluß wohltätig zur Geltung zu bringen. Die USA müßten es nur lernen, sich in der multipolaren Welt, die sie selber geschaffen hatten, wieder einzuleben.
Das waren sehr vernünftige Überlegungen, nicht zuletzt zum Vorteil der USA, deren ökonomische Basis nicht mehr stabil genug war, um die Hegemonie, die Anführung eines Bundesgenossenverbandes, gar zu effektiver Weltherrschaft, zu imperialer Weltdurchdringung zu erweitern. Der Zusammenbruch der Sowjetunion wurde aber nicht als Warnung verstanden, die eigenen Überanstrengungen zu bedenken. Die USA verstanden sich als Sieger im Kalten Krieg und glaubten kurzfristig sogar daran, das Ende der Geschichte sei erreicht in einer Welt, die nur noch ein Ziel kennt, in alle Ewigkeit mit den USA zu verschmelzen. Ein Triumphalismus überwältigte selbst klug-zurückhaltende US-Amerikaner. Die USA, die einzige Super – oder Hypermacht, ließen sich nach und nach von den Verfechtern ihres imperialen Auftrages suggerieren, die unentbehrlichen Nation zu sein, die überall für Ordnung zu sorgen hat. Die einzige Nation, die zu den Waffen greifen darf, weil sie genau weiß, wann die Stunde gekommen ist, wann alles schweigen muß, um den Waffen als Argument Gehör und Überzeugungskraft zu verleihen.
Das Ende der Geschichte ist nicht erreicht. Ganz im Gegenteil, der unbefangene Imperialismus der USA weckt diffuseste Tendenzen, sich US-amerikanischer Begehrlichkeiten oder Verworrenheiten zu erwehren, was die Geschichte als unbestimmte Summe mannigfacher Bestrebungen und Tätlichkeiten ungemein belebt. Zu den großen Lebenslügen der Gegenwart gehört die Legende vom Niedergang der Nationen. Die USA, die unentbehrliche Nation, um mit Madeleine Albright zu reden, veranschaulichen überschwenglich die Selbstgenügsamkeit der Nation und des Nationalen Gedankens, die pralle Gegenwart des Nationalismus. Die USA beschäftigen sich mit der Welt nur insoweit, als es notwendig ist, die eigene Sicherheit und Unverletzlichkeit vor jeder Bedrohung zu schützen. Die USA verhalten sich nicht, wie Kennan es hoffte, im Bewußtsein ihrer Stärke überlegt und überlegen. So stark und unverletzlich wie sie sind, zeigen diese „göttlichsten Götter“, um mit Wagners Loge zu reden, Angst und Furcht. Sie wollen absolut sicher auf ihrer „glücklichen Insel“ sein. Allein ihre Sicherheit interessiert diese Weltmacht, die es mittlerweile als selbstverständlich voraussetzt, daß sich die Welt insgesamt unsicher fühlen muß, sobald ein Schweißausbruch die USA überfällt.
Alle Weltmächte, von den Römern bis zu den Spaniern und selbst zu den Sowjets, verkündeten eine Botschaft, die unabhängig von ihren ureigensten Interessen als imperialer Bewegung Frieden, Gerechtigkeit und Ordnung gerade denen in Aussicht stellte, die besiegt wurden. Die USA sind die erste imperiale Macht, die darauf verzichtet, außer ihrem eigenen Sicherheitsbedürfnis eine andere Rechtfertigung ihrer ausgreifenen Politik vorzutragen. Wer sich gegen die unentbehrliche Nation richtet, ist ein Schurke und gehört dem Reich der Finsternis an. Die USA sind das erste Imperium, das unverhohlen zugibt, Angst zu haben und aus Furcht die Welt dominieren will. Das kann nicht gut gehen. Ein Hegemon, dem die Knie schlottern, eine imperiale Macht, die sofort antiamerikanische Umtriebe wittert, wenn sich auch nur zaghafte Opposition gegen ihre unberechenbaren „Aktivitäten“ regt, verdient eher Mitleid als besondere Aufmerksamkeit. Gerade weil die US-Amerikaner extrem furchtsam sind, verlassen sie sich auf ihre Waffen, auf deren „chirurgischen Eingriffe“ möglichst gegenüber entwaffneten, ausgehungerten, durch Boykotts entnervte Feinde. Gegen ohnehin geschwächte „Feinde des Menschengeschlechts“ lassen sich dann medienwirksame reality-shows inszenieren, die zumindest jeden in einem bildersüchtigen Saeculum davor warnen sollen, mit den USA in Gegensatz zu geraten.
Wer nicht dem Sicherheitsbestreben der USA dient, der nähert sich dem Status eines Schurken und muß mit den entsprechenden Erziehungsmaßnahmen rechnen. Die reichen von Liebesentzug bis zum Flächenbombardement. Es empfielt sich nicht, Gastfreund US-amerikanischer Staatssekretäre oder Präsidenten zu sein. Irgendwann, ob Bin Laden oder Saddam Hussein, sind sie Inkarnationen des Bösen. Listigerweise werden die erklärten Umholde nicht gefunden,obwohl die USA die ganze Welt in Bewegung setzen, um nicht nur die Bösewichte, sondern das Böse überhaupt auszurotten. Böse ist, was US-Amerika bedroht. Das ist allerdings eine Botschaft, die nicht einmal US-Amerikaner, ob Norman Mailer oder Susan Sontag, ernst nehmen. Warum sollen ausgerechnet Europäer ihre wichtigste Verpflichtung darin erkennen, den USA dazu zu verhelfen, sich behaglich und ungestört zu fühlen?
Das Bedürfnis der USA nach absoluter Sicherheit stürzt ROW, the rest of the world, in tausend Verlegenheiten und vollständige Unsicherheit. ROW hat ganz andere Interessen als die verunsicherten USA, denen die Welt nur als Mittel für ureigenste nationale Begehrlichkeiten taugt. Es war eine unüberlegte, sentimentale Aufwallung, nach dem 11. September zu bekennen: Wir sind alle Amerikaner. Europäer ahnen mittlerweile, daß sie keine „Amerikaner“ sind, daß sie ihr Verhältnis zu den USA neu bestimmen müssen. Sie müssen, was Kennan hoffte, was Calleo erwartete, tun: selbständig werden.
Das fällt schwer, wie bei Kindern, die allzu lange unter der Obhut ihrer Eltern lebten. Im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg fanden sich Frankreich, Deutschland und Rußland zusammen in dem Widerstand gegen rein nationale Ziele der USA. Sie fanden zufälligerweise zusammen, es gab kein europäisches Programm der drei Staaten oder Mächte. Dennoch deutet sich in dieser improvisierten Zusammenarbeit eine künftige Konstellation an, die auch schon in der Vergangenheit Russen, Deutsche und Franzosen beschäftigte: eine kontinentale Einigung, die Europa bis zum Ural vebindet und über Rußland hinaus auf die eurasischen Zusammenhänge verweist, in die Europa seit eh und je eingebunden ist. Es sind die Vorstellungen des Generals de Gaulle, die wiederbelebt werden. De Gaulle hielt die Allianz mit den USA für eine vorübergehende, den Zeitumständen geschuldete Lösung. Verschwindet der Kommunismus, dann erübrigt sich eine weitere miltärische Verbindung mit den USA. Rußland ist unter veränderten Bedingungen das, was es immer war: eine europäische Großmacht, die nicht isoliert oder vom übrigen Europa abgedrängt werden darf. Die vielmehr, gerade um sie vor dummen Gedanken zu bewahren, in das Spiel der europäischen Staaten hineingezogen werden muß.
Europa kann nur zusammen mit Rußland zu einem neuen Selbstbewußtsein finden, zu einer Großmacht werden, die den Mut hat, eine solche zu sein. Hier aber ergeben sich sofort Schwierigkeiten. Die USA wünschen keinen handlungsfähigen, selbständigen europäischen Rivalen, einen Kontinentalblock unter Einschluß Rußlands. Befangen in ihrem Nationalismus fürchten sie ein Wiedererwachen des russischen Nationalismus, den sie wie jeden Nationalismus als Gefahr einschätzen. Die USA wollen, wie im Kalten Krieg, Rußland möglichst „eindämmen“, eingekreist, in seiner Bewegungsfreiheit eingeengt wissen. Für die Europäer hingegen eröffnet Rußland wieder Räume, von denen sie zeitweise abgeschnitten waren, und die mit Europa zusammen einem Großraum bilden, wie ihn die Geschichte als Geographie in Bewegung, um mit Herder zu sprechen, vorbereitet hat.
Geopolitik und das Denken in Großräumen gewinnen unter dem Eindruck der Mondialisierung, der Weltzusammenfassung als Beziehung von Räumen, eine neue Bedeutung. Die Europäer sind darauf insofern unzulänglich vorbereitet, als sie über eine Freihandelszone hinaus kaum eine Idee von Europa als geistigem Raum besitzen, der sich historisch vertieft als eine politische Einheit zu erkennen gibt. Die militärische und außenpolitische Uneinigkeit und Konzeptionslosigkeit der Europäer ist ihnen während der angelsächsischen Vorbereitungen zum Irakkrieg besonders deutlich geworden. Ein uneiniges Europa behindert allerdings den Weg zu Emanzipation und Selbständigkeit, das Ziel sämtlicher Bemühungen um Europäische Einigkeit und Eintracht.
Die Verständigung zwischen Paris, Berlin und Moskau war zuerst einmal ungewohnt für viele Europäer. Außerdem bewirkt sie unweigerlich die Sorge, unter die Hegemonie der drei großen Mächte innerhalb Europas zu geraten. Dieser Verdacht ist, ungeachtet einige Taktlosigkeiten Chiracs, nicht unbegründet. Denn es ist, bei dem Mangel an europäischer Koordination, unvermeidlich, daß die wichtigsten Staaten Europas sich verabreden und zusammenwirken. Entsprechend ihrer Bedeutung innerhalb Europas wird ihr Beispiel die anderen nach und nach beeinflussen. Im Deutschen Bund des 19. Jahrhunderts, einer Konstruktion nicht unähnlich der EU, blieb den anderen deutschen Staaten wenig anderes übrig, als sich in die Ratschläge Preußens und Österreichs zu fügen, sobald beide einig waren.
Deutschland und Frankreich sind der Kern Europas. Widerwillg wird das von den übrigen Europäern anerkannt. Ein Kerneuropa ist seit Otto Hintze in der verfassungs – und sozialgeschichtlichen Diskussion ein geläufiger Begriff. In dem Raum, den das fränkische Reich der Karolinger umfaßte, machten sich über mehr als ein Jahrtausend bis heute immer wieder die verändernden, die dynamischen Kräfte bemerkbar. Eine enge Übereinstimmung zwischen Paris und Berlin entwickelt wie eh und je eine Sogkraft, der sich allmählich auch die Widerstrebenden nicht werden entziehen können. Es gilt alle Absichten, die einmal mit dem Elysée-Vertrag verknüpft waren, zu revitalisieren, tatsächlich eine deutsch-französische Einigkeit herzustellen, die gar keiner umständlich organisierten Einheit bedarf. Einmütigkeit genügt, um zumindest den Kern Europas zu einer selbständigen Kraft auszubilden. Rußland von Randeuropa her, kann diese Entwicklung am nachhaltigsten unterstützen. Rußland sucht den Wiederanschluß an Europa, die „Eingemeindung“ in unterbrochene Zusammenhänge. Es bedarf bei den ungewißen Ehrgeiz der Völker und Mächte im asiatischen Raum unbedingt freundlicher Beziehungen zu Europa. Zusammen mit Europa kann die wichtigste Atommmacht nach den USA wieder ihrer Funktion als Weltmacht gerecht werden, gerade zum Vorteil Europas bei Konflikten im eurasischen Raum oder bei der Bemühung, sie erst gar nicht aufkommen zu lassen.
Rußland ist der natürliche Verbündete. Übrigens vermag der russische Einfluß unter Umständen etwaige Unausgewogenheiten zwischen Frankreich und Deutschland auszubalancieren. Denn Frankreich sieht selbstverständlich in solchen Wechselbeziehungen die Chance, französische Eigenwilligkeiten zur Geltung zu bringen, nicht zuletzt um deutsche Gemütsergötzlichkeiten wirkungslos zu machen. Den unpraktischen Deutschen könnten wiederum Franzosen und Russen den Zugang zur Realität ebnen. Alle drei zusammen können Europa aus seiner Bequemlichkeit befreien, zu räsonnieren, die Moraltrompeten zu blasen und ansonsten Geschäfte zu machen.
Berlin, Paris, Moskau weist hinüber in die Zukunft und gibt Europa in ihr ein besonderes Gewicht. Die künftigen Entscheidungen fallen in Eurasien. Kluge amerikanische Imperialisten wie Zbigniew Brzezinski sehen die Schwierigkeiten für die USA, eine raumfremde Macht in Eurasien. Nur wenn es ihnen gelingt, in Eurasien Brückenköpfe oder Protektorate zu behalten oder neue zu bilden, können die USA die einzige Weltmacht bleiben. Seine äußerste Sorge ist, daß die USA auf ihre „glückliche Insel“ zurückgeworfen und aus der Ferne zum Beobachter des Geschehens am Rande von ROW werden. Der „Kampf gegen den Terror“ ist der dramatische Vorwand, um die USA in Eurasien in Stellung zu bringen. Brzezinski vermag sich alle möglichen Konstellationen in der Zukunft vorzustellen, eine Annäherung, ja dauerhafte Verbindung von Franzosen, Deutschen und Russen gehört nicht dazu. Ein Kontinentalblock in Eurasien versetzt als bloße Idee US-Amerikaner in Schrecken wie früher die Briten. Verständlicherweise. Verbündet sich Europa mit Rußland, geht nicht nur das Protektorat Europa verloren. Dann werden auch die Japaner sich endlich aus der Vormundschaft der USA lösen. Dann wird die Welt, was Kennan ehedem hoffte, ein Pluriversum stets neu auszugleichender Rivalitäten.
In diesem Pluriversum werden die USA nur eine Stimme neben anderen führen. In dieser neuen, in der Entstehung begriffenen Welt wird sich heraustellen, daß auch die USA den Kalten Krieg nicht gewonnen haben. Nicht nur die inneren Spannungen und Überspannungen, die hypertrophe Rüstung und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten weisen auf ein Amerika jenseits von Hegemonie oder Vorherrschaft. Die eine Welt, zu der sich die gesamte Welt als vergrößerte USA zusammenschließen sollten, bleibt eine Fiktion wie die Hoffnung auf die sowjetische Weltgemeinschaft. Die Europäer zögern noch. Aber eines ist gewiß: in der Abhängigkeit von den USA wollen die Europäer nicht mehr bleiben. Ihr Verhältnis zu den USA bedarf anderer Deutungen und Anknüfungspunkte als der gewohnten. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen, vor allem um Kerneuropa als Handlungsgruppe zu schaffen. Aber zwischen den USA und Europa hat der Irakkrieg eine Wende eingeleitet. Die Beziehungen werden sich auf jeden Fall verändern. Es ist Aufgabe der Europäer, den Wandel zum Vorteil ihrer Handlungsfreiheit und Souveränität zu nutzen.