Delikatesse gegenüber dem Hegemon

pdf der Druckfassung aus Sezession  2 / Juli 2003 wird nachgetragen

sez_nr_2von Karlheinz Weißmann

Seit einiger Zeit strahlt das ZDF an späteren Abenden das „Philosophische Quartett“ aus. Die Sendung vom 30. März widmete sich dem Thema „Weltherrschaft“. Man kann von dem „Format“ halten, was man will – weder Rüdiger Safranski noch Peter Sloterdijk sind als Moderatoren geeignet, letzterer trägt seinen Ruf als Meisterdenker sicher zu Unrecht –, dieser Ausgabe war eine gewisse symptomatische Bedeutung unbestreitbar. Den geladenen Gästen, Egon Bahr und Horst Teltschik, wurden insgesamt drei Thesen vorgestellt, die mit der aktuellen Diskussion über einen Perspektivwechsel deutscher Außenpolitik eng zusammenhingen:

(1) „Das Ver­hält­nis West­eu­ro­pas, ins­be­son­de­re West­deutsch­lands, zur USA war das eines Pro­tek­to­rats zu sei­ner Schutz­macht, und das war gut so.
(2) Das ändert sich … Euro­pa muß sich dar­auf vor­be­rei­ten, sicher­heits­po­li­tisch, viel­leicht auch geo­po­li­tisch, eige­ne Wege zu gehen.
(3) Die Super­macht USA ist weni­ger stark als es den Anschein hat. Der rie­si­ge eura­si­sche Kom­plex läßt sich auf Dau­er von der ame­ri­ka­ni­schen Stra­te­gie nicht kontrollieren.“

Ohne Zwei­fel wären fun­dier­te Stel­lung­nah­men zu die­sen The­sen wich­tig gewe­sen, aber dazu hät­te es in der Run­de eines höhe­ren Maßes an Kom­pe­tenz und an Bereit­schaft zur Kon­tro­ver­se bedurft. Die Betei­lig­ten stimm­ten aber in allen Grund­po­si­tio­nen über­ein: Die Poli­tik der Ver­ei­nig­ten Staa­ten gegen­über dem Irak sei ver­fehlt und von poli­ti­schem Ego­is­mus bestimmt; die UNO müs­se gestärkt wer­den, um ver­gleich­ba­re mili­tä­ri­sche Allein­gän­ge zu ver­hin­dern; Euro­pa soll­te unter der Füh­rung von Frank­reich und Deutsch­land ein Gegen­ge­wicht zu den USA bilden.
Obwohl man den Epo­chen­wech­sel beschwor, präg­te die gan­ze Dis­kus­si­on bun­des­re­pu­bli­ka­ni­scher Unernst: altes Den­ken, kaum geeig­net, Fra­gen der staat­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät und der Ent­schei­dung über Krieg und Frie­den zu klä­ren, gip­felnd in Safran­skis koket­tem Hin­weis, daß man dem Macht­stand­punkt Washing­tons den Rechts­stand­punkt vor­zie­he, weil man etwas „deka­dent“ sei. Auch die Sym­pa­thie der Betei­lig­ten für den Aus­bau der „Ach­se“ Paris – Ber­lin – Mos­kau blieb ganz unge­fähr. Immer­hin bezog man sich auf – gleich­wohl als hei­kel betrach­te­te – Kon­stan­ten der „Geo­po­li­tik“.
Die Geo­po­li­tik hat in den letz­ten Jah­ren eine Renais­sance erlebt wie kein ande­res der in der Nach­kriegs­zeit tabu­ier­ten Deu­tungs­mus­ter von Geschich­te und Poli­tik. Die Annah­me, daß die Lage eines Staa­tes im Raum des­sen Schick­sal ganz wesent­lich bestim­me, gehör­te in Deutsch­land nach 1945 zu den suk­zes­si­ve ver­dräng­ten Pos­tu­la­ten. Die Ursa­che dafür lag nur zum Teil im Miß­brauch geo­po­li­ti­scher Theo­rien durch das NS-Regime, eine wich­ti­ge­re Rol­le spiel­te, daß jede geo­po­li­tisch ori­en­tier­te Betrach­tung der deut­schen Ver­gan­gen­heit und der deut­schen Gegen­wart zu hete­ro­do­xen Ansich­ten füh­ren muß­te: die Mit­tel­la­ge ließ bestimm­te Ten­den­zen der deut­schen Außen­po­li­tik seit der Reichs­grün­dung als fast natur­ge­ge­ben erschei­nen und redu­zier­te die Plau­si­bi­li­tät der Son­der­weg­theo­rie, die Stel­lung des geteil­ten Rest­ge­bie­tes zwi­schen den Lagern des Kal­ten Krie­ges mach­te unwahr­schein­lich, daß die Lösung der natio­na­len Kern­fra­ge in Rich­tung auf eine Block­bin­dung zu fin­den sein würde.
Trotz einer gewis­sen Reha­bi­li­tie­rung der Geo­po­li­tik in den frü­hen acht­zi­ger Jah­ren – ange­sto­ßen durch die lin­ke Héro­do­te-Schu­le in Frank­reich –, blieb die Zurück­wei­sung in der Bun­des­re­pu­blik bestehen. Das war beson­ders deut­lich erkenn­bar an der hef­ti­gen und erfolg­rei­chen Pole­mik gegen das „geo­po­li­ti­sche Tam­tam“ (Jür­gen Haber­mas) im soge­nann­ten Historikerstreit.

Zuletzt hat das die Wie­der­kehr der Geo­po­li­tik aber nicht ver­hin­dern kön­nen. Inter­es­san­ter Wei­se wer­den ihre Kate­go­rien jetzt aber nicht zur Inter­pre­ta­ti­on der Ver­gan­gen­heit genutzt, son­dern zur Deu­tung der Gegen­wart und zur Pro­gno­se zukünf­ti­ger Ent­wick­lun­gen. Immer unbe­küm­mer­ter ori­en­tiert man sich an der sowie­so ganz unge­bro­che­nen angel­säch­si­schen Tra­di­ti­on auf die­sem Gebiet. Zu deren Para­dig­men gehört seit ziem­lich genau ein­hun­dert Jah­ren die The­se von der Bedeu­tung des geo­gra­phi­cal pivot of Histo­ry, des geo­gra­phi­schen „Angel­punkts“ der Geschich­te, der zuerst von dem bri­ti­schen Geo­gra­phen John Hal­ford Mack­in­der ent­deckt wurde.
Mack­in­der glaub­te, daß die ent­schei­den­den geo­po­li­ti­schen Pro­zes­se bestimmt sei­en von der Tei­lung des Pla­ne­ten in eine „Welt­in­sel“ aus Euro­pa, Asi­en und Afri­ka, in deren Mit­te das „Herz­land“ (zwi­schen Wol­ga, Ost­si­bi­ri­en, Eis­meer und Hima­la­ja) lie­ge, umge­ben von einem inne­ren Kranz kon­ti­nen­ta­ler Gebie­te (Ost­eu­ro­pa, Naher Osten, Süd­asi­en) und einem äuße­ren, der aus Inseln bestehe (Eng­land, die bei­den Ame­ri­ka, Aus­tra­li­en und Japan). Sei­ner Mei­nung nach muß­te die Beherr­schung Eura­si­ens – also des „Herz­lands“ – zwangs­läu­fig die Unter­wer­fung der „Welt­in­sel“ zur Fol­ge haben.
Wenn man ein­mal von den Impli­ka­tio­nen die­ser Theo­rie für die bri­ti­sche Poli­tik der Zeit vor dem Ers­ten Welt­krieg absieht, bleibt bemer­kens­wert, daß sich die gan­ze Geschich­te der ame­ri­ka­nisch-sowje­ti­schen Kon­fron­ta­ti­on auch als eine Aus­ein­an­der­set­zung um die Kon­trol­le des heart­land lesen läßt. Aller­dings blieb das „herz­land-über-alles” (Ste­phen B. Jones) nicht unwi­der­spro­chen. Vor allem die „Plu­ra­lis­ten” unter den Geo­po­li­ti­kern in den USA wie­sen dar­auf hin, daß sich die Men­ge der Kon­flik­te in Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart unmög­lich auf die Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Herz­land und Peri­phe­rie redu­zie­ren las­se. Die­ser Ein­wand hat­te und hat inso­fern sei­ne Berech­ti­gung, als die eura­si­sche Ein­heit immer etwas Phan­tom­haf­tes gewe­sen ist. Die dau­er­haf­te Orga­ni­sa­ti­on die­ses gigan­ti­schen Rau­mes gelang bis­her nie, – und dürf­te auch für die Zukunft unwahr­schein­lich sein.
Ent­spre­chen­de oder ver­wand­te poli­ti­sche Plä­ne, soweit sie nicht ein­fach auf die zuneh­men­de Aus­deh­nung Ruß­lands Bezug nah­men, das seit dem 16. Jahr­hun­dert Sibi­ri­en unter­wor­fen hat­te und dann bis 1945 suk­zes­si­ve nach Wes­ten und Süden vor­drang, schei­ter­ten regel­mä­ßig dar­an, daß sich die bei­den denk­ba­ren Vor­mäch­te des Herz­lan­des – Deutsch­land und Ruß­land – zu einer Zusam­men­ar­beit außer­stan­de zeig­ten: Ent­we­der weil sie das Pro­jekt durch dau­ern­de Unter­wer­fung des jeweils ande­ren ver­wirk­li­chen woll­ten (Hit­lers „blo­cka­de­frei­er Groß­raum“, Sta­lins Aspi­ra­tio­nen bis zum Ende des Zwei­ten Welt­kriegs, viel­leicht bis zum Schei­tern der „Noten“ vom Früh­jahr 1952) oder von einer ideo­lo­gi­schen Anpas­sung aus­gin­gen, die wenigs­tens von den Deut­schen niem

als mit­ge­tra­gen wor­den wäre (alle Natio­nal­bol­sche­wis­men, auch die­je­ni­gen aktu­el­ler, rus­si­scher Provenienz).
Mit den neue­ren Vor­stel­lun­gen von einer „Ach­se“ Paris-Ber­lin-Mos­kau steht es nicht bes­ser. Schon bei ober­fläch­li­cher Betrach­tung ergibt sich die Fra­ge, von wel­cher Sub­stanz eine dau­er­haf­te Koope­ra­ti­on zeh­ren soll­te. Ein „eura­si­scher Block“ unter Teil­nah­me des poli­tisch und wirt­schaft­lich labi­len rus­si­schen Staa­tes kann unmög­lich als sinn­voll betrach­tet wer­den. Des­sen Sta­bi­li­sie­rung lie­ße die Rus­sen wie von selbst in die Posi­ti­on des „Reichs­vol­kes“ wach­sen, was Frank­reich sei­ner­seits kaum hin­neh­men würde.

Mit die­sem Vor­be­halt ist selbst­ver­ständ­lich nichts gegen einen deutsch-rus­si­schen Aus­gleich gesagt, der von Bis­marck eben­so wie von Rathen­au oder Stre­se­mann betrie­ben wur­de auf Grund der Ein­sicht in eine ande­re geo­po­li­ti­sche Kon­stel­la­ti­on als die des Herz­lan­des: die der Mit­tel­la­ge, die es für das Reich nötig mach­te, einen Aus­gleich nach Wes­ten und nach Osten zu suchen. Infol­ge der vor­über­ge­hen­den Auf­he­bung der zen­tra­len Stel­lung in der Nach­kriegs­zeit ist deren Bedeu­tung nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung nur sehr begrenzt in das Bewußt­sein zurück­ge­kehrt. Zwar gab es schon Ende der acht­zi­ger Jah­re Mut­ma­ßun­gen über die Ent­ste­hung einer neu­en deut­schen Groß­macht in „Mit­tel­eu­ro­pa“ – pro­mi­nen­te Ver­fech­ter die­ser The­se waren Hen­ry Kis­sin­ger und Alain Minc –, aber kei­ne ent­spre­chen­de Hand­lungs­be­reit­schaft deut­scher Regierungen.
Nimmt man einen ratio­na­len Grund für die­se Zurück­hal­tung an, dann müß­te man den in der Erin­ne­rung an das zwei­fa­che Schei­tern des Ver­suchs selb­stän­di­ger deut­scher Macht­po­li­tik suchen. Aller­dings ist zu beden­ken, daß zumin­dest der ers­te Fehl­schlag zu den gro­ßen Tra­gö­di­en – oder, wenn die­se Kate­go­rie denn im Hin­blick auf his­to­ri­sche Zusam­men­hän­ge Sinn hät­te: Unge­rech­tig­kei­ten – der moder­nen Geschich­te gehört. Wenig wäre dem Kon­ti­nent so bekömm­lich gewe­sen wie ein deut­scher Sieg im Jahr 1916, oder, um eine ent­spre­chen­de Spe­ku­la­ti­on des bri­ti­schen His­to­ri­kers Niall Fer­gu­son zu zitie­ren: „Bel­gi­en bei­sei­te gelas­sen, war das west­eu­ro­päi­sche Haupt­ziel des Krie­ges, so wie es in Beth­mann-Holl­wegs Sep­tem­ber­pro­gramm stand, einen zen­tral­eu­ro­päi­schen Wirt­schafts­bund zu schaf­fen … Es mag deut­sche Emp­find­lich­kei­ten tref­fen, die­ses Pro­jekt für Mit­tel­eu­ro­pa mit der EU, wie wir sie heu­te ken­nen, zu ver­glei­chen, aber eine durch einen mili­tä­ri­schen Sieg geschaf­fe­ne Zoll­uni­on unter deut­scher Füh­rung unter­schei­det sich nicht so sehr von einer Zoll­uni­on unter deut­scher Füh­rung, die durch eine mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge geschaf­fen wur­de … Es ist wahr, daß es auch so eine rus­si­sche Revo­lu­ti­on gege­ben hät­te, aber 1916 hat­ten die Bol­sche­wi­ken gerin­ge­re Erfolgs­aus­sich­ten als ein Jahr spä­ter. Wahr ist auch, daß es in den 1920er Jah­ren in Ita­li­en viel­leicht den Faschis­mus gege­ben hät­te, aber mehr Nach­ah­mer hät­te es im besieg­ten Frank­reich gege­ben, nicht im sieg­rei­chen Deutsch­land. Mit einem tri­um­phie­ren­den Kai­ser hät­te Adolf Hit­ler sein Dasein als mit­tel­mä­ßi­ger Post­kar­ten­ma­ler in einem von Deutsch­land domi­nier­ten Mit­tel­eu­ro­pa gefris­tet, in dem er wenig vor­ge­fun­den hät­te, über das er sich hät­te beschwe­ren kön­nen. … Aus allen die­sen Grün­den ist der Ers­te Welt­krieg schlim­mer als eine Tra­gö­die, die, wie uns das Thea­ter lehrt, unver­meid­lich ist. Die­ser fal­sche Krieg war nichts weni­ger als der größ­te Irr­tum der moder­nen Geschichte.“
Es ist aller­dings unwahr­schein­lich, daß ein Schei­tern Deutsch­lands als gege­be­ner Füh­rungs­macht Zen­tral­eu­ro­pas heu­te noch der tie­fe­re Grund für die Zurück­wei­sung einer neu­en Rol­le in die­sem Raum ist. Aus­schlag­ge­bend wirkt die Ent­wöh­nung sei­ner poli­ti­schen Füh­rung von jeder selb­stän­di­gen Ori­en­tie­rung über vier Jahr­zehn­te hin­weg. Die „West­bin­dung“ schien auch für das neue Deutsch­land alle außen­po­li­ti­schen Kon­zep­tio­nen über­flüs­sig zu machen. Man hat­te den „lan­gen Weg nach Wes­ten“ (Hein­rich August Wink­ler) voll­endet, und der Wes­ten war zum „natio­na­len Mythos“ (Phil­ipp Gas­sert) der Ber­li­ner Repu­blik gewor­den. Um so über­ra­schen­der, daß vie­le Prot­ago­nis­ten der West­bin­dung unter dem fri­schen Ein­druck des Irak­krie­ges ihre Auf­fas­sun­gen revi­diert haben, und neu­er­dings äußern, es gel­te, „Abschied vom ‘Wes­ten´“ (Wolf Lepe­nies) zu nehmen.

Die­ser Ansicht nach haben die USA die Ideen von 1945 ver­ra­ten, wes­halb es gel­te, die­sel­ben in Schutz zu neh­men und ihnen im alten Euro­pa eine neue Heim­statt zu geben. Soweit hier über Euro­pa nicht nur schwa­dro­niert wird, hat man sich dar­un­ter das „karo­lin­gi­sche“ vor­zu­stel­len, also das von Deutsch­land, Frank­reich und dem Zwi­schen­raum bestimm­te Gebiet. Bei der für Ende April kurz­fris­tig anbe­raum­ten Kon­fe­renz zur Stär­kung der mili­tä­ri­schen Zusam­men­ar­beit in Euro­pa kamen bezeich­nen­der­wei­se Regie­rungs­ver­tre­ter aus Ber­lin, Paris, Brüs­sel und Luxem­burg zusammen.
Selbst wenn man davon absieht, daß alle bis­he­ri­gen Vor­stel­lun­gen von einem „Kern­eu­ro­pa“ regel­mä­ßig auf den Wider­stand der Peri­phe­rie stie­ßen, soll­te deut­lich sein, daß es in die­ser Gestalt nur unter der Füh­rung Frank­reichs exis­tie­ren könn­te. Das hängt nicht nur mit des­sen fak­ti­schem Gewicht zusam­men, son­dern auch damit, daß Paris nie­mals eine Euro­pa­po­li­tik för­dern wür­de, die den eige­nen Vor­rang in Fra­ge stel­len könn­te. Auch und gera­de in einem sol­chen Euro­pa wäre wenig von einer gestärk­ten Hand­lungs­frei­heit Deutsch­lands zu spre­chen. Wer also in Fol­ge der Abwen­dung von den USA so etwas wie einen Sou­ve­rä­ni­täts­ge­winn erwar­tet, müß­te sich schon durch das Ver­hal­ten von Paris in der Kri­se eines Bes­se­ren belehrt sehen.
Die Pro­ble­ma­tik eines Kon­zepts, das den Pri­mat Washing­tons durch den­je­ni­gen von Paris erset­zen will, liegt nicht zuletzt dar­in begrün­det, daß die Macht der Ver­ei­nig­ten Staa­ten eine unbe­streit­ba­re Tat­sa­che ist, wäh­rend doch sehr zwei­fel­haft bleibt, wor­auf eigent­lich der Anspruch Frank­reichs grün­den soll, – legt man den Maß­stab tat­säch­li­cher mili­tä­ri­scher Macht an und sieht von sei­ner tra­di­tio­nel­len Eitel­keit ab. Man­cher wird die­se rela­ti­ve Schwä­che viel­leicht sogar für einen Vor­zug hal­ten, aber doch nur unter der Bedin­gung, daß sich Deutsch­land zu einer Stär­kung sei­ner Posi­ti­on ent­schlie­ßen wür­de. Davon ist es aber sehr weit ent­fernt. Dem Vor­prel­len von Außen­mi­nis­ter Fischer, der eine Bereit­schaft zu neu­en Anstren­gun­gen im Blick auf die euro­päi­sche Rüs­tung signa­li­sier­te, wur­de sehr rasch und aus­ge­rech­net vom Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter wider­spro­chen. Vor allem aber ist zu bezwei­feln, daß die Deut­schen see­lisch auf eine sol­che Kurs­än­de­rung vor­be­rei­tet sind. Ohne Zwei­fel war die Frie­dens­be­we­gung ein euro­päi­sches, wenn nicht glo­ba­les Phä­no­men, aber nir­gends hat­te sie einen so deut­lich unpo­li­ti­schen Zug wie in Deutsch­land. Man gebe sich kei­nen Illu­sio­nen hin: Vor allem die Jun­gen, die auf die Stra­ße gin­gen, haben nichts ande­res getan, als sich wohl­erzo­gen zu zei­gen und die Lek­tio­nen zu beher­zi­gen, die ihnen die Gene­ra­ti­on der Väter, der Leh­rer und der heim­li­chen Erzie­her mit auf den Weg gege­ben hat; man kann das Gan­ze auch wie ein ame­ri­ka­ni­scher Beob­ach­ter dar­auf zurück­füh­ren, daß die Ree­du­ca­ti­on „… zu weit gegan­gen“ (Mark Lil­la) ist.

Der Ver­fas­ser bekennt, daß er auf kur­ze und auch auf mitt­le­re Sicht kei­ne Alter­na­ti­ve zur Anleh­nung Deutsch­lands an die USA sieht. Er hat schon bei ande­rer Gele­gen­heit dafür plä­diert, sich dem sanf­ten Hege­mon unter­zu­ord­nen. Man mag das wenig bunt und für das Gemüt unbe­frie­di­gend fin­den, aber jeder Ver­such, deut­sche Poli­tik zu trei­ben, hat sich von Ein­sicht in die Gege­ben­hei­ten lei­ten zu las­sen. Und die ver­langt vor allem die Aner­ken­nung der ame­ri­ka­ni­schen Hege­mo­nie und die not­wen­di­ge „Deli­ka­tes­se“ (Hein­rich Trie­pel), mit der der Hege­mon behan­delt wer­den will. Da wir eben weder Pro­tek­to­rat noch Kolo­nie sind, son­dern Bünd­ner min­de­ren Ran­ges, haben wir uns ent­spre­chend aufzuführen.
Der in den bei­den letz­ten Jah­ren immer wie­der bemüh­te Ver­gleich der USA mit Rom hat etwas Ange­streng­tes. Tat­säch­lich war die Poli­tik der Ver­ei­nig­ten Staa­ten nur sel­ten im genaue­ren Sin­ne „impe­ria­lis­tisch“. Man kann die Land­nah­me im Wes­ten kaum ent­spre­chend deu­ten, das gewalt­sa­me Aus­grei­fen auf die „wei­ßen“ Nach­barn war anfangs wenig erfolg­reich (geschei­ter­ter Feld­zug gegen Kana­da 1812), dann führ­te er zur voll­stän­di­gen Inte­gra­ti­on in den Kern­staat (Anne­xi­on von Flo­ri­da, Texas und Neu-Mexi­ko), Kolo­nien im klas­si­schen Sin­ne gab es kaum und nur vor­über­ge­hend (Phil­ip­pi­nen). Sehr rich­tig wur­de gegen den Rom-Ver­gleich schon früh­zei­tig das öko­no­mi­sche Moment ange­führt und des­halb eine Ana­lo­gie zu Kar­tha­go behaup­tet. Aber auch die­se Par­al­le­le führt in die Irre: damit wird die demo­kra­ti­sche Bin­nen­struk­tur eben­so über­se­hen wie das wesent­lich Infor­mel­le der Herr­schaft, die die USA ausüben.
Des­halb soll­te man den Begriff „Hege­mo­nie“ im prä­zi­sen Sinn ver­wen­den: als Herr­schaft durch Füh­rung, bei der die Gefolg­schaft nicht oder nicht nur gezwun­ge­ner­ma­ßen geleis­tet wird, son­dern auf Aner­ken­nung der Über­le­gen­heit beruht. Der Völ­ker­recht­ler Hein­rich Trie­pel, der die­sen Zusam­men­hang sehr sorg­fäl­tig unter­sucht hat, kam zu dem Schluß, daß es ein auf­stei­gen­des Sys­tem der Füh­rung gebe, von der­je­ni­gen, die der ein­zel­ne aus­übe, bis hin zu der­je­ni­gen, die ein Staat gegen­über einer Mehr­zahl ande­rer praktiziere.
Das klas­si­sche Bei­spiel für den Auf­bau einer Hege­mo­nie die­ser Art war das Athen des Peri­kles. Nach dem Sieg im Zwei­ten Per­si­schen Krieg hat­te Athen sei­ne Vor­macht aus­ge­baut und den ande­ren Pol­eis ein Bünd­nis ange­bo­ten. Deren Pflicht bestand dar­in, für die Bun­des­flot­te Schif­fe oder Geld zu stel­len. Im „Atti­schen Bund“ hat­te Athen von Anfang an ent­schei­den­des Gewicht, und bezeich­nen­der­wei­se wis­sen wir fast gar nichts über die Funk­ti­on der Bun­des­ver­samm­lung. Sein Auf­stieg zum Hege­mon wur­de aller­dings bewirkt durch die Nei­gung der Bünd­ner, sich von den mili­tä­ri­schen Pflich­ten los­zu­kau­fen und dann durch das gewach­se­ne Selbst­be­wußt­sein der athe­ni­schen Bür­ger­schaft, die zuerst das Aus­schei­den aus dem Bund und dann den Besitz von Kriegs­schif­fen ver­bot, um schließ­lich noch die Bun­des­kas­se unter athe­ni­sche Kon­trol­le zu brin­gen und die ent­hal­te­nen Gel­der nach Gut­dün­ken zu verwenden.
Ihren Höhe­punkt erreich­te die­se Ent­wick­lung unter Peri­kles, aller-dings konn­te die sich bereits andeu­ten­de Ver­wand­lung des „Bun­des“ (sym­ma­chie) in ein „Reich“ (arche) wegen der Nie­der­la­ge Athens im Pelo­pon­ne­si­schen Krieg nicht mehr voll­endet wer­den. Es ist hier nicht der Ort, zu dis­ku­tie­ren, ob Athen dau­er­haft in der Lage gewe­sen wäre, sei­ne Stel­lung zu hal­ten, wich­ti­ger erscheint die in die­sem, anders als im römi­schen Fall, tat­säch­lich vor­han­de­ne Ähn­lich­keit mit den USA: die ega­li­tä­re Ten­denz im Inne­ren, das unge­bro­che­ne kol­lek­ti­ve Über­le­gen­heits­ge­fühl, die dar­aus resul­tie­ren­de Nei­gung zu ein­sa­men Ent­schei­dun­gen und dazu, das eige­ne Gesell­schafts­mo­dell zu expor­tie­ren, die beson­de­ren Bedin­gun­gen einer Thalas­so­kra­tie und die damit ein­her­ge­hen­de Nöti­gung zu infor­mel­ler Herrschaft.

Man muß den Stil ame­ri­ka­ni­scher Außen­po­li­tik nicht schät­zen und kein Anhän­ger kul­tu­rel­ler „Ame­ri­ka­ni­sie­rung“ sein, um ange­sichts der Lage zu einem ein­deu­ti­gen Ergeb­nis zu kom­men: Jede Abwen­dung von den USA führt Deutsch­land in ande­re, in der Kon­se­quenz weni­ger wün­schens­wer­te Abhän­gig­kei­ten. Die Vor­stel­lung, daß die gemein­sa­me Aver­si­on des alten Kon­ti­nents gegen­über dem Irak-Krieg eine „euro­päi­sche Iden­ti­tät“ erzeugt habe, bestimmt durch einen „politisch-ethische[n] Wille[n], der sich in der Her­me­neu­tik von Selbst­ver­stän­di­gungs­pro­zes­sen zur Gel­tung bringt“ (Jac­ques Der­ri­da, Jür­gen Haber­mas), streift die Gren­ze zur Albern­heit. Euro­pa ist kei­ne poli­ti­sche Wirk­lich­keit und von einer „Macht­er­grei­fung“ (Ema­nu­el Todd) unend­lich weit entfernt.
Dar­aus im Umkehr­schluß zu fol­gern, man müs­se sich den Vor­ga­ben der ame­ri­ka­ni­schen Stra­te­gie blind­lings unter­wer­fen, wäre aber gleich­falls ver­fehlt. Am Ende der erwähn­ten Sen­dung prä­sen­tier­te Slo­ter­di­jk den Zuschau­ern noch eine Lese­emp­feh­lung: das Buch Macht und Ohn­macht des Ame­ri­ka­ners Robert Kagan. Was ihn nach­hal­tig an die­ser Lek­tü­re irri­tiert habe, so Slo­ter­di­jk, war das unver­hoh­le­ne Bekennt­nis des Autors zu einer har­ten, allein natio­na­len Inter­es­sen ver­pflich­te­ten Poli­tik der Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Slo­ter­di­jk refe­rier­te Kagans Posi­ti­on selbst­ver­ständ­lich mit der Absicht der „Ent­lar­vung“, und er durf­te auf Bei­fall rech­nen. Aber was soll damit gewon­nen sein? Die Ent­hül­lung der Tat­sa­che, daß es in den USA eine lan­ge Tra­di­ti­on machia­vel­lis­ti­schen Den­kens gibt, – das wäre immer­hin etwas. Die Ent­hül­lung, daß das nor­ma­ti­ve Selbst­ver­ständ­nis der Ver­ei­nig­ten Staa­ten als Vor­macht der frei­en Welt kei­ne Abbil­dung der Wirk­lich­keit ist, viel­leicht ver­bun­den mit der Inten­ti­on, sie zu ihrer wah­ren Iden­ti­tät zurück­zu­füh­ren oder die­se Funk­ti­on in einer Art von Rol­len­tausch zu über­neh­men, – das wäre gar nichts.

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