(1) „Das Verhältnis Westeuropas, insbesondere Westdeutschlands, zur USA war das eines Protektorats zu seiner Schutzmacht, und das war gut so.
(2) Das ändert sich … Europa muß sich darauf vorbereiten, sicherheitspolitisch, vielleicht auch geopolitisch, eigene Wege zu gehen.
(3) Die Supermacht USA ist weniger stark als es den Anschein hat. Der riesige eurasische Komplex läßt sich auf Dauer von der amerikanischen Strategie nicht kontrollieren.“
Ohne Zweifel wären fundierte Stellungnahmen zu diesen Thesen wichtig gewesen, aber dazu hätte es in der Runde eines höheren Maßes an Kompetenz und an Bereitschaft zur Kontroverse bedurft. Die Beteiligten stimmten aber in allen Grundpositionen überein: Die Politik der Vereinigten Staaten gegenüber dem Irak sei verfehlt und von politischem Egoismus bestimmt; die UNO müsse gestärkt werden, um vergleichbare militärische Alleingänge zu verhindern; Europa sollte unter der Führung von Frankreich und Deutschland ein Gegengewicht zu den USA bilden.
Obwohl man den Epochenwechsel beschwor, prägte die ganze Diskussion bundesrepublikanischer Unernst: altes Denken, kaum geeignet, Fragen der staatlichen Souveränität und der Entscheidung über Krieg und Frieden zu klären, gipfelnd in Safranskis kokettem Hinweis, daß man dem Machtstandpunkt Washingtons den Rechtsstandpunkt vorziehe, weil man etwas „dekadent“ sei. Auch die Sympathie der Beteiligten für den Ausbau der „Achse“ Paris – Berlin – Moskau blieb ganz ungefähr. Immerhin bezog man sich auf – gleichwohl als heikel betrachtete – Konstanten der „Geopolitik“.
Die Geopolitik hat in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt wie kein anderes der in der Nachkriegszeit tabuierten Deutungsmuster von Geschichte und Politik. Die Annahme, daß die Lage eines Staates im Raum dessen Schicksal ganz wesentlich bestimme, gehörte in Deutschland nach 1945 zu den sukzessive verdrängten Postulaten. Die Ursache dafür lag nur zum Teil im Mißbrauch geopolitischer Theorien durch das NS-Regime, eine wichtigere Rolle spielte, daß jede geopolitisch orientierte Betrachtung der deutschen Vergangenheit und der deutschen Gegenwart zu heterodoxen Ansichten führen mußte: die Mittellage ließ bestimmte Tendenzen der deutschen Außenpolitik seit der Reichsgründung als fast naturgegeben erscheinen und reduzierte die Plausibilität der Sonderwegtheorie, die Stellung des geteilten Restgebietes zwischen den Lagern des Kalten Krieges machte unwahrscheinlich, daß die Lösung der nationalen Kernfrage in Richtung auf eine Blockbindung zu finden sein würde.
Trotz einer gewissen Rehabilitierung der Geopolitik in den frühen achtziger Jahren – angestoßen durch die linke Hérodote-Schule in Frankreich –, blieb die Zurückweisung in der Bundesrepublik bestehen. Das war besonders deutlich erkennbar an der heftigen und erfolgreichen Polemik gegen das „geopolitische Tamtam“ (Jürgen Habermas) im sogenannten Historikerstreit.
Zuletzt hat das die Wiederkehr der Geopolitik aber nicht verhindern können. Interessanter Weise werden ihre Kategorien jetzt aber nicht zur Interpretation der Vergangenheit genutzt, sondern zur Deutung der Gegenwart und zur Prognose zukünftiger Entwicklungen. Immer unbekümmerter orientiert man sich an der sowieso ganz ungebrochenen angelsächsischen Tradition auf diesem Gebiet. Zu deren Paradigmen gehört seit ziemlich genau einhundert Jahren die These von der Bedeutung des geographical pivot of History, des geographischen „Angelpunkts“ der Geschichte, der zuerst von dem britischen Geographen John Halford Mackinder entdeckt wurde.
Mackinder glaubte, daß die entscheidenden geopolitischen Prozesse bestimmt seien von der Teilung des Planeten in eine „Weltinsel“ aus Europa, Asien und Afrika, in deren Mitte das „Herzland“ (zwischen Wolga, Ostsibirien, Eismeer und Himalaja) liege, umgeben von einem inneren Kranz kontinentaler Gebiete (Osteuropa, Naher Osten, Südasien) und einem äußeren, der aus Inseln bestehe (England, die beiden Amerika, Australien und Japan). Seiner Meinung nach mußte die Beherrschung Eurasiens – also des „Herzlands“ – zwangsläufig die Unterwerfung der „Weltinsel“ zur Folge haben.
Wenn man einmal von den Implikationen dieser Theorie für die britische Politik der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg absieht, bleibt bemerkenswert, daß sich die ganze Geschichte der amerikanisch-sowjetischen Konfrontation auch als eine Auseinandersetzung um die Kontrolle des heartland lesen läßt. Allerdings blieb das „herzland-über-alles” (Stephen B. Jones) nicht unwidersprochen. Vor allem die „Pluralisten” unter den Geopolitikern in den USA wiesen darauf hin, daß sich die Menge der Konflikte in Vergangenheit und Gegenwart unmöglich auf die Auseinandersetzung zwischen Herzland und Peripherie reduzieren lasse. Dieser Einwand hatte und hat insofern seine Berechtigung, als die eurasische Einheit immer etwas Phantomhaftes gewesen ist. Die dauerhafte Organisation dieses gigantischen Raumes gelang bisher nie, – und dürfte auch für die Zukunft unwahrscheinlich sein.
Entsprechende oder verwandte politische Pläne, soweit sie nicht einfach auf die zunehmende Ausdehnung Rußlands Bezug nahmen, das seit dem 16. Jahrhundert Sibirien unterworfen hatte und dann bis 1945 sukzessive nach Westen und Süden vordrang, scheiterten regelmäßig daran, daß sich die beiden denkbaren Vormächte des Herzlandes – Deutschland und Rußland – zu einer Zusammenarbeit außerstande zeigten: Entweder weil sie das Projekt durch dauernde Unterwerfung des jeweils anderen verwirklichen wollten (Hitlers „blockadefreier Großraum“, Stalins Aspirationen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, vielleicht bis zum Scheitern der „Noten“ vom Frühjahr 1952) oder von einer ideologischen Anpassung ausgingen, die wenigstens von den Deutschen niem
als mitgetragen worden wäre (alle Nationalbolschewismen, auch diejenigen aktueller, russischer Provenienz).
Mit den neueren Vorstellungen von einer „Achse“ Paris-Berlin-Moskau steht es nicht besser. Schon bei oberflächlicher Betrachtung ergibt sich die Frage, von welcher Substanz eine dauerhafte Kooperation zehren sollte. Ein „eurasischer Block“ unter Teilnahme des politisch und wirtschaftlich labilen russischen Staates kann unmöglich als sinnvoll betrachtet werden. Dessen Stabilisierung ließe die Russen wie von selbst in die Position des „Reichsvolkes“ wachsen, was Frankreich seinerseits kaum hinnehmen würde.
Mit diesem Vorbehalt ist selbstverständlich nichts gegen einen deutsch-russischen Ausgleich gesagt, der von Bismarck ebenso wie von Rathenau oder Stresemann betrieben wurde auf Grund der Einsicht in eine andere geopolitische Konstellation als die des Herzlandes: die der Mittellage, die es für das Reich nötig machte, einen Ausgleich nach Westen und nach Osten zu suchen. Infolge der vorübergehenden Aufhebung der zentralen Stellung in der Nachkriegszeit ist deren Bedeutung nach der Wiedervereinigung nur sehr begrenzt in das Bewußtsein zurückgekehrt. Zwar gab es schon Ende der achtziger Jahre Mutmaßungen über die Entstehung einer neuen deutschen Großmacht in „Mitteleuropa“ – prominente Verfechter dieser These waren Henry Kissinger und Alain Minc –, aber keine entsprechende Handlungsbereitschaft deutscher Regierungen.
Nimmt man einen rationalen Grund für diese Zurückhaltung an, dann müßte man den in der Erinnerung an das zweifache Scheitern des Versuchs selbständiger deutscher Machtpolitik suchen. Allerdings ist zu bedenken, daß zumindest der erste Fehlschlag zu den großen Tragödien – oder, wenn diese Kategorie denn im Hinblick auf historische Zusammenhänge Sinn hätte: Ungerechtigkeiten – der modernen Geschichte gehört. Wenig wäre dem Kontinent so bekömmlich gewesen wie ein deutscher Sieg im Jahr 1916, oder, um eine entsprechende Spekulation des britischen Historikers Niall Ferguson zu zitieren: „Belgien beiseite gelassen, war das westeuropäische Hauptziel des Krieges, so wie es in Bethmann-Hollwegs Septemberprogramm stand, einen zentraleuropäischen Wirtschaftsbund zu schaffen … Es mag deutsche Empfindlichkeiten treffen, dieses Projekt für Mitteleuropa mit der EU, wie wir sie heute kennen, zu vergleichen, aber eine durch einen militärischen Sieg geschaffene Zollunion unter deutscher Führung unterscheidet sich nicht so sehr von einer Zollunion unter deutscher Führung, die durch eine militärische Niederlage geschaffen wurde … Es ist wahr, daß es auch so eine russische Revolution gegeben hätte, aber 1916 hatten die Bolschewiken geringere Erfolgsaussichten als ein Jahr später. Wahr ist auch, daß es in den 1920er Jahren in Italien vielleicht den Faschismus gegeben hätte, aber mehr Nachahmer hätte es im besiegten Frankreich gegeben, nicht im siegreichen Deutschland. Mit einem triumphierenden Kaiser hätte Adolf Hitler sein Dasein als mittelmäßiger Postkartenmaler in einem von Deutschland dominierten Mitteleuropa gefristet, in dem er wenig vorgefunden hätte, über das er sich hätte beschweren können. … Aus allen diesen Gründen ist der Erste Weltkrieg schlimmer als eine Tragödie, die, wie uns das Theater lehrt, unvermeidlich ist. Dieser falsche Krieg war nichts weniger als der größte Irrtum der modernen Geschichte.“
Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß ein Scheitern Deutschlands als gegebener Führungsmacht Zentraleuropas heute noch der tiefere Grund für die Zurückweisung einer neuen Rolle in diesem Raum ist. Ausschlaggebend wirkt die Entwöhnung seiner politischen Führung von jeder selbständigen Orientierung über vier Jahrzehnte hinweg. Die „Westbindung“ schien auch für das neue Deutschland alle außenpolitischen Konzeptionen überflüssig zu machen. Man hatte den „langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) vollendet, und der Westen war zum „nationalen Mythos“ (Philipp Gassert) der Berliner Republik geworden. Um so überraschender, daß viele Protagonisten der Westbindung unter dem frischen Eindruck des Irakkrieges ihre Auffassungen revidiert haben, und neuerdings äußern, es gelte, „Abschied vom ‘Westen´“ (Wolf Lepenies) zu nehmen.
Dieser Ansicht nach haben die USA die Ideen von 1945 verraten, weshalb es gelte, dieselben in Schutz zu nehmen und ihnen im alten Europa eine neue Heimstatt zu geben. Soweit hier über Europa nicht nur schwadroniert wird, hat man sich darunter das „karolingische“ vorzustellen, also das von Deutschland, Frankreich und dem Zwischenraum bestimmte Gebiet. Bei der für Ende April kurzfristig anberaumten Konferenz zur Stärkung der militärischen Zusammenarbeit in Europa kamen bezeichnenderweise Regierungsvertreter aus Berlin, Paris, Brüssel und Luxemburg zusammen.
Selbst wenn man davon absieht, daß alle bisherigen Vorstellungen von einem „Kerneuropa“ regelmäßig auf den Widerstand der Peripherie stießen, sollte deutlich sein, daß es in dieser Gestalt nur unter der Führung Frankreichs existieren könnte. Das hängt nicht nur mit dessen faktischem Gewicht zusammen, sondern auch damit, daß Paris niemals eine Europapolitik fördern würde, die den eigenen Vorrang in Frage stellen könnte. Auch und gerade in einem solchen Europa wäre wenig von einer gestärkten Handlungsfreiheit Deutschlands zu sprechen. Wer also in Folge der Abwendung von den USA so etwas wie einen Souveränitätsgewinn erwartet, müßte sich schon durch das Verhalten von Paris in der Krise eines Besseren belehrt sehen.
Die Problematik eines Konzepts, das den Primat Washingtons durch denjenigen von Paris ersetzen will, liegt nicht zuletzt darin begründet, daß die Macht der Vereinigten Staaten eine unbestreitbare Tatsache ist, während doch sehr zweifelhaft bleibt, worauf eigentlich der Anspruch Frankreichs gründen soll, – legt man den Maßstab tatsächlicher militärischer Macht an und sieht von seiner traditionellen Eitelkeit ab. Mancher wird diese relative Schwäche vielleicht sogar für einen Vorzug halten, aber doch nur unter der Bedingung, daß sich Deutschland zu einer Stärkung seiner Position entschließen würde. Davon ist es aber sehr weit entfernt. Dem Vorprellen von Außenminister Fischer, der eine Bereitschaft zu neuen Anstrengungen im Blick auf die europäische Rüstung signalisierte, wurde sehr rasch und ausgerechnet vom Verteidigungsminister widersprochen. Vor allem aber ist zu bezweifeln, daß die Deutschen seelisch auf eine solche Kursänderung vorbereitet sind. Ohne Zweifel war die Friedensbewegung ein europäisches, wenn nicht globales Phänomen, aber nirgends hatte sie einen so deutlich unpolitischen Zug wie in Deutschland. Man gebe sich keinen Illusionen hin: Vor allem die Jungen, die auf die Straße gingen, haben nichts anderes getan, als sich wohlerzogen zu zeigen und die Lektionen zu beherzigen, die ihnen die Generation der Väter, der Lehrer und der heimlichen Erzieher mit auf den Weg gegeben hat; man kann das Ganze auch wie ein amerikanischer Beobachter darauf zurückführen, daß die Reeducation „… zu weit gegangen“ (Mark Lilla) ist.
Der Verfasser bekennt, daß er auf kurze und auch auf mittlere Sicht keine Alternative zur Anlehnung Deutschlands an die USA sieht. Er hat schon bei anderer Gelegenheit dafür plädiert, sich dem sanften Hegemon unterzuordnen. Man mag das wenig bunt und für das Gemüt unbefriedigend finden, aber jeder Versuch, deutsche Politik zu treiben, hat sich von Einsicht in die Gegebenheiten leiten zu lassen. Und die verlangt vor allem die Anerkennung der amerikanischen Hegemonie und die notwendige „Delikatesse“ (Heinrich Triepel), mit der der Hegemon behandelt werden will. Da wir eben weder Protektorat noch Kolonie sind, sondern Bündner minderen Ranges, haben wir uns entsprechend aufzuführen.
Der in den beiden letzten Jahren immer wieder bemühte Vergleich der USA mit Rom hat etwas Angestrengtes. Tatsächlich war die Politik der Vereinigten Staaten nur selten im genaueren Sinne „imperialistisch“. Man kann die Landnahme im Westen kaum entsprechend deuten, das gewaltsame Ausgreifen auf die „weißen“ Nachbarn war anfangs wenig erfolgreich (gescheiterter Feldzug gegen Kanada 1812), dann führte er zur vollständigen Integration in den Kernstaat (Annexion von Florida, Texas und Neu-Mexiko), Kolonien im klassischen Sinne gab es kaum und nur vorübergehend (Philippinen). Sehr richtig wurde gegen den Rom-Vergleich schon frühzeitig das ökonomische Moment angeführt und deshalb eine Analogie zu Karthago behauptet. Aber auch diese Parallele führt in die Irre: damit wird die demokratische Binnenstruktur ebenso übersehen wie das wesentlich Informelle der Herrschaft, die die USA ausüben.
Deshalb sollte man den Begriff „Hegemonie“ im präzisen Sinn verwenden: als Herrschaft durch Führung, bei der die Gefolgschaft nicht oder nicht nur gezwungenermaßen geleistet wird, sondern auf Anerkennung der Überlegenheit beruht. Der Völkerrechtler Heinrich Triepel, der diesen Zusammenhang sehr sorgfältig untersucht hat, kam zu dem Schluß, daß es ein aufsteigendes System der Führung gebe, von derjenigen, die der einzelne ausübe, bis hin zu derjenigen, die ein Staat gegenüber einer Mehrzahl anderer praktiziere.
Das klassische Beispiel für den Aufbau einer Hegemonie dieser Art war das Athen des Perikles. Nach dem Sieg im Zweiten Persischen Krieg hatte Athen seine Vormacht ausgebaut und den anderen Poleis ein Bündnis angeboten. Deren Pflicht bestand darin, für die Bundesflotte Schiffe oder Geld zu stellen. Im „Attischen Bund“ hatte Athen von Anfang an entscheidendes Gewicht, und bezeichnenderweise wissen wir fast gar nichts über die Funktion der Bundesversammlung. Sein Aufstieg zum Hegemon wurde allerdings bewirkt durch die Neigung der Bündner, sich von den militärischen Pflichten loszukaufen und dann durch das gewachsene Selbstbewußtsein der athenischen Bürgerschaft, die zuerst das Ausscheiden aus dem Bund und dann den Besitz von Kriegsschiffen verbot, um schließlich noch die Bundeskasse unter athenische Kontrolle zu bringen und die enthaltenen Gelder nach Gutdünken zu verwenden.
Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung unter Perikles, aller-dings konnte die sich bereits andeutende Verwandlung des „Bundes“ (symmachie) in ein „Reich“ (arche) wegen der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg nicht mehr vollendet werden. Es ist hier nicht der Ort, zu diskutieren, ob Athen dauerhaft in der Lage gewesen wäre, seine Stellung zu halten, wichtiger erscheint die in diesem, anders als im römischen Fall, tatsächlich vorhandene Ähnlichkeit mit den USA: die egalitäre Tendenz im Inneren, das ungebrochene kollektive Überlegenheitsgefühl, die daraus resultierende Neigung zu einsamen Entscheidungen und dazu, das eigene Gesellschaftsmodell zu exportieren, die besonderen Bedingungen einer Thalassokratie und die damit einhergehende Nötigung zu informeller Herrschaft.
Man muß den Stil amerikanischer Außenpolitik nicht schätzen und kein Anhänger kultureller „Amerikanisierung“ sein, um angesichts der Lage zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen: Jede Abwendung von den USA führt Deutschland in andere, in der Konsequenz weniger wünschenswerte Abhängigkeiten. Die Vorstellung, daß die gemeinsame Aversion des alten Kontinents gegenüber dem Irak-Krieg eine „europäische Identität“ erzeugt habe, bestimmt durch einen „politisch-ethische[n] Wille[n], der sich in der Hermeneutik von Selbstverständigungsprozessen zur Geltung bringt“ (Jacques Derrida, Jürgen Habermas), streift die Grenze zur Albernheit. Europa ist keine politische Wirklichkeit und von einer „Machtergreifung“ (Emanuel Todd) unendlich weit entfernt.
Daraus im Umkehrschluß zu folgern, man müsse sich den Vorgaben der amerikanischen Strategie blindlings unterwerfen, wäre aber gleichfalls verfehlt. Am Ende der erwähnten Sendung präsentierte Sloterdijk den Zuschauern noch eine Leseempfehlung: das Buch Macht und Ohnmacht des Amerikaners Robert Kagan. Was ihn nachhaltig an dieser Lektüre irritiert habe, so Sloterdijk, war das unverhohlene Bekenntnis des Autors zu einer harten, allein nationalen Interessen verpflichteten Politik der Vereinigten Staaten. Sloterdijk referierte Kagans Position selbstverständlich mit der Absicht der „Entlarvung“, und er durfte auf Beifall rechnen. Aber was soll damit gewonnen sein? Die Enthüllung der Tatsache, daß es in den USA eine lange Tradition machiavellistischen Denkens gibt, – das wäre immerhin etwas. Die Enthüllung, daß das normative Selbstverständnis der Vereinigten Staaten als Vormacht der freien Welt keine Abbildung der Wirklichkeit ist, vielleicht verbunden mit der Intention, sie zu ihrer wahren Identität zurückzuführen oder diese Funktion in einer Art von Rollentausch zu übernehmen, – das wäre gar nichts.