Glaubt man aktuellen Statistiken, dann fühlt sich über die Hälfte der deutschen Jugend unpolitisch. Interessant ist, daß der Soziologe Helmut Schelsky diesen Befund der Entpolitisierung bereits für die Nachkriegsjugend in seinem Werk Die skeptische Generation ausstellte.
Den Grund für das fehlende politische Bewußtsein der damals 14- bis 25jährigen sah er neben den sozialen und historischen Umständen vor allem in der Demokratie. Schelsky schreibt:
Der Jugend bleibt im demokratischen System als politische Aktivität vor allem nur die Information und die Möglichkeit der Meinungsprojektion und Identifikation mit demokratischen Führungsorganisationen und ‑persönlichkeiten, während das Bekenntnis zu demokratischen Handlungsformen, Maßnahmen und Einrichtungen durch deren geringen Symbolwert und damit schwere Faßlichkeit schon auf grundsätzliche Verständnisschwierigkeiten stößt.
Durch Staatskunde, Schülerparlamente und emotionalisierende Events „für die Demokratie“ versuchen Bildungseinrichtungen und Politik heute, dieses Defizit zu bekämpfen. Der Erfolg ist meistens gering. Wenn kein außerordentlich guter Lehrer vor der Klasse steht, malen Schüler in Staatskunde abstrakte Schemata vom demokratischen Staatsaufbau ab. Der Tenor: „Ah, wie langweilig!“ Und in Schülerparlamenten zanken sich die wenigen Aktivisten der Linksjugend mit den Karrieristen aus der Jungen Union darum, wer denn den Etat, der sowieso nur für irgendeine Party ausreicht, verbraten darf. Einzig, wenn die Politik dann doch mal einen Popstar wie Obama hervorbringt, leuchtet kurz ein Funke an „Partizipation“ auf. Mit Demokratie hat das aber nichts zu tun.
Die Schlußfolgerung, die Jugend sei antidemokratisch, weil ihr die Politik egal ist, muß trotzdem zurückgewiesen werden. Vielmehr hat sich ein „tiefes Fremdheitserlebnis ohne starken Zwang zu seiner Bewältigung“ etabliert, wie Schelsky bereits vor über 50 Jahren erkannte.
Es gibt nun zwei Möglichkeiten auf diesen immer noch gültigen soziologischen Befund zu antworten. Erstens: noch mehr Demokratieerziehung. Meine ehemalige Politik‑, Geschichts- und Deutschlehrerin, mit der wir drei Jahre lang in drei Fächern „unsere eigene schlimme Vergangenheit bewältigt“ haben, aber selten etwas von literarischen Stilmitteln hörten, hat diesen Weg eingeschlagen. Sie ist heute im Sächsischen Kultusministerium für „Demokratieerziehung“ zuständig.
Zweitens: Man findet sich damit ab, daß die Jugend eben nicht reif für die Demokratie ist. Nach meinem Ermessen besitzt übrigens auch die Masse des Volkes niemals die Mündigkeit, die eine Demokratie bräuchte und voraussetzt.
Wenn wir uns nun abgefunden haben mit dem normalen, unpolitischen Jugendlichen, hört das Grummeln im Bauch trotzdem noch nicht auf. Denn irgendwas fehlt ihr ja doch, dieser Jugend. Thomas Mann ist in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen in einer aufschlußreichen Passage über seine hervorragende Novelle Tonio Kröger anders an das Problem herangegangen. Die Jugend der Jahrhundertwende habe seine Novelle begeistert aufgenommen: „die intellektuelle und radikale Jugend, die den Radikalismus damals freilich noch nicht politisch meinte, ergriff den ‚Tonio Kröger‘ als ihr gemäß“. Sie habe sich mit den radikal-literarischen, intellektualistisch-zersetzenden sowie den gemüthaft-konservativen, deutschen Elementen identifizieren können und dies als Gegenentwurf zum „unbewußten und stummen Leben“ gesehen.
Der Appell an die heutige Generationselite könnte ebenso ansetzen: Nicht das Politische gilt es wiederzufinden, sondern einen geistigen Radikalismus, der die Bahnen des stummen Lebens und des demokratischen Dauergequassels verläßt.
Sebastian
Der Appell an die heutige Generationselite könnte ebenso ansetzen: Nicht das Politische gilt es wiederzufinden, sondern einen geistigen Radikalismus, der die Bahnen des stummen Lebens und des demokratischen Dauergequassels verläßt.
D'accord!
Schön, dass ich nicht der einzige meines Jahrgangs bin, der "Thomas Mann I" (frei nach der gänigen Wittgenstein-Nomenklatur) noch zur Hand nimmt und mit - praktischem - Gewinn liest.
Ich hoffe auf viele gelungene Beiträge von Dir!