Autorenportrait Konrad Lorenz

pdf der Druckfassung aus Sezession 28 / Februar 2009

von Adolph Przybyszewski

»Freuds Aggressionslehre und die Verhaltensforschung von Lorenz werden neuerdings immer häufiger für die Entwicklung einer konservativen Gesellschaftstheorie herangezogen«, konstatierte Der Spiegel im Jahr 1971 irritiert.

Damals, als in der BRD der Sie­ges­zug des Vul­gär­mar­xis­mus durch die Insti­tu­tio­nen anhub, hät­ten eigent­lich »die Ergeb­nis­se der Ver­hal­tens­for­schung (Etho­lo­gie) eine gründ­li­che Ver­un­si­che­rung all jener bewirkt haben« müs­sen, »deren Vor­stel­lun­gen sich noch immer in den über­kom­me­nen Denk­sche­ma­ta des 19. Jahr­hun­derts bewegen.«

Die­se Hoff­nung äußer­ten hier nicht Kon­ser­va­ti­ve, son­dern die jun­gen Ver­tre­ter eines aka­de­mi­schen »Neu­en Natio­na­lis­mus«: Mit den bio­lo­gi­schen Wis­sen­schaf­ten soll­te den auf­trump­fen­den Neo­mar­xis­ten gesell­schafts­theo­re­tisch der Wind aus den Segeln genom­men wer­den. Das Ver­trau­en auf eine ernüch­tern­de Wir­kung der Ver­hal­tens­bio­lo­gie auf die west­deut­sche Lin­ke, auf ent­spre­chen­de Lern­pro­zes­se und damit auch die Auf­wer­tung der eige­nen Posi­ti­on war illu­so­risch, was im Rück­blick nicht über­rascht. Der Ansatz, sich im geteil­ten Deutsch­land glei­cher­ma­ßen von einer »alten«, kon­ser­va­ti­ven Rech­ten und einer theo­re­tisch über­hol­ten Lin­ken als block­frei­er »neu­er« Natio­na­lis­mus mit­tels Rekurs auf jüngs­te natur­wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se abzu­set­zen, erschien unzeit­ge­mäß. Die poli­ti­sche Gesäß­geo­gra­phie des 19. Jahr­hun­derts ist, weil herr­schafts­tech­nisch bis­lang bewährt, in Deutsch­land sta­bil, die Lin­ke blieb in ihrem Men­schen­bild einem ideo­lo­gi­schen Beha­vio­ris­mus ver­haf­tet, sie beweg­te sich geis­tig nicht. Dabei sind Über­le­gun­gen und Moti­ve jener natio­na­lis­ti­schen Intel­lek­tu­el­len beden­kens­wert, zumal sie sich mit Kon­rad Lorenz eines Kron­zeu­gen ver­si­cher­ten, den der Spie­gel (das »Sturm­ge­schütz der Demo­kra­tie«) damals nicht abschoß, son­dern viel­mehr zum »Ein­stein der Tier­see­le« adelte.
Daß Lorenz 1973 zusam­men mit sei­nen Kol­le­gen Niko­laas Tin­ber­gen und Karl von Frisch der Nobel­preis für Medi­zin oder Phy­sio­lo­gie ver­lie­hen wur­de, beleg­te die wis­sen­schaft­li­che Bedeu­tung der Ver­hal­tens­bio­lo­gie gleich­sam amt­lich. Es war kei­nes­wegs ein Miß­ver­ständ­nis, daß die unor­tho­do­xen Natio­na­lis­ten mein­ten, auf Lorenz und die Ver­hal­tens­for­schung set­zen zu kön­nen, denn der sei­ner­zeit unge­mein popu­lä­re Etho­lo­ge selbst ver­trat ohne Scheu poli­ti­sche Ansich­ten, die er mit sei­nen For­schun­gen begrün­de­te und dem zuneh­mend links­li­be­ra­len Zeit­geist ent­ge­gen­stell­te. Wenn er gegen die »pseu­do­de­mo­kra­ti­sche Dok­trin« wet­ter­te, »daß der Mensch ein unbe­grenzt modi­fi­zier­ba­res Erzeug­nis sei­ner Umge­bung sei«, wenn er beklag­te, daß die­se Dok­trin »eine über­ra­gen­de poli­ti­sche Bedeu­tung erlangt« habe, liegt ange­sichts gegen­wär­ti­ger Debat­ten um gen­der main­strea­ming und die Defor­ma­ti­on des Bil­dungs­we­sens sein anhal­ten­der Pro­vo­ka­ti­ons­wert auf der Hand. »Begreif­li­cher­wei­se«, so Lorenz 1971, müs­se »die­se Leh­re allen jenen höchst will­kom­men sein, in deren Inter­es­se und Absicht es liegt, gro­ße Men­schen­mas­sen gezielt zu mani­pu­lie­ren, und des­halb ist die pseu­do­de­mo­kra­ti­sche Dok­trin, von ame­ri­ka­ni­schen, rus­si­schen und chi­ne­si­schen Macht­ha­bern in merk­wür­di­ger Ein­mü­tig­keit ver­tre­ten, bei­na­he zur Welt­re­li­gi­on gewor­den.« In Kon­rad Lorenz begeg­net also nicht nur ein Klas­si­ker der moder­nen Bio­lo­gie, son­dern auch ein streit­ba­rer Geist, dem es wie weni­gen ande­ren gege­ben war, wesent­li­che Ein­sich­ten sei­ner For­schung einer brei­te­ren Öffent­lich­keit fes­selnd dar­zu­bie­ten. Da der Ver­hal­tens­bio­lo­ge von der Bedeu­tung sei­ner Wis­sen­schaft für eine adäqua­te Erkennt­nis der eige­nen Lage durch­drun­gen war und er die­se Lage für ernst hielt, woll­te er über den Elfen­bein­turm rei­ner For­schung hin­aus wir­ken: Er wer­de des­halb lang­sam zum »Pre­di­ger«, schrieb er damals dem befreun­de­ten Schrift­stel­ler Carl Zuckmayer.

Es ging ihm nicht nur um die Benen­nung kon­kre­ter Miß­stän­de, son­dern stets auch um eine grund­le­gen­de Auf­klä­rung im kan­ti­schen Sinn, die vor allem die Fähig­keit und den Mut for­dert, den eige­nen Ver­stand zu gebrau­chen. Auch des­halb wur­de Lorenz einer der Väter jener moder­nen evo­lu­tio­nä­ren Erkennt­nis­theo­rie, die die mensch­li­che Kogni­ti­on evo­lu­ti­ons­theo­re­tisch zu ver­ste­hen und dabei diver­se Dis­zi­pli­nen zu inte­grie­ren sucht. Wenn auch man­che For­schungs­po­si­tio­nen und –kon­zep­te inzwi­schen fach­wis­sen­schaft­lich über­holt sind, bleibt Kon­rad Lorenz mit sei­nem geis­ti­gen Habi­tus, aber auch mit zen­tra­len sei­ner Befun­de neben Arnold Geh­len der wohl bedeu­tends­te anthro­po­lo­gi­sche Den­ker jenes »rea­lis­ti­schen« Spek­trums, das man in Deutsch­land seit jeher eher »rechts« denn »links« ver­or­tet hat.
Gebo­ren wur­de Lorenz 1903 in Alten­berg bei Wien, nahe dem impe­ria­len Zen­trum der k.u.k. Dop­pel­mon­ar­chie, und eben­dort, nahe der Haupt­stadt der zwei­ten öster­rei­chi­schen Repu­blik, starb er 1989. Dazwi­schen wur­de Geschich­te gemacht, der auch er sich nicht ent­zie­hen konn­te und woll­te. Als zwei­ter Sohn des inter­na­tio­nal renom­mier­ten Arz­tes Adolf Lorenz, eines Pio­niers der moder­nen chir­ur­gi­schen Ortho­pä­die, wuchs Kon­rad Lorenz im groß­bür­ger­li­chen Wie­ner Milieu auf, zu dem nicht nur ein mon­dä­ner Kos­mo­po­li­tis­mus, son­dern auch eine ein­zig­ar­ti­ge Ver­dich­tung künst­le­ri­scher wie wis­sen­schaft­li­cher Intel­li­genz gehör­te. Spiel­ka­me­rad in Kind­heits­ta­gen etwa war Karl Pop­per, der spä­te­re Begrün­der eines »kri­ti­schen Ratio­na­lis­mus«, mit dem er erst ein Lebens­al­ter spä­ter als Wis­sen­schaft­ler wie­der zusam­men­tref­fen soll­te. Ein Stu­di­um der Medi­zin been­de­te Lorenz 1928 mit Pro­mo­ti­on in Wien, inzwi­schen Haupt­stadt der ers­ten öster­rei­chi­schen Repu­blik, war dann als Assis­tent an einem der dor­ti­gen ana­to­mi­schen Insti­tu­te tätig, wäh­rend er sich neben­her vor allem mit zoo­lo­gi­schen For­schun­gen beschäf­tig­te. Ent­schei­dend für sei­ne wei­te­re Ent­wick­lung wur­de die Begeg­nung mit dem Orni­tho­lo­gen Oskar Hein­roth, einem Ver­hal­tens­for­scher avant la lett­re, den Lorenz zeit­le­bens als sei­nen »gro­ßen Leh­rer« ver­ehr­te. 1933 pro­mo­vier­te der Medi­zi­ner als Zoo­lo­ge und habi­li­tier­te sich bald: Schon 1937 erhielt er die Venia legen­di für Zoo­lo­gie mit beson­de­rer Berück­sich­ti­gung der ver­glei­chen­den Ana­to­mie und Tier­psy­cho­lo­gie an der Wie­ner Universität.
Lorenz, der sich in den 1920er Jah­ren auch als Motor­rad­renn­fah­rer ver­sucht hat­te, leb­te jetzt ganz sei­ner etho­lo­gi­schen For­schung, die indes­sen auf wenig Gegen­lie­be stieß. Nach einem hef­ti­gen Bür­ger­krieg zwi­schen aus­tro­fa­schis­ti­schen Heim­weh­ren auf der einen, Sozi­al­de­mo­kra­ten und Kom­mu­nis­ten auf der ande­ren Sei­te hat­te sich in Öster­reich ein von Mus­so­li­ni unter­stütz­tes auto­ri­tä­res Sys­tem als »Bun­des­staat« an Stel­le der Repu­blik fest eta­bliert. Da die­ser Aus­tro­fa­schis­mus die Bemü­hun­gen der römisch-katho­li­schen Kir­che um eine Reka­tho­li­sie­rung der Gesell­schaft unter­stütz­te, waren die Aus­sich­ten für eine For­schung, die Charles Dar­win ver­pflich­tet war, in Öster­reich nicht all­zu rosig. Im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Reich dage­gen schien man bio­lo­gi­schen For­schun­gen offen­kun­dig auf­ge­schlos­sen, wenn auch zum Teil aus ideo­lo­gi­schen Miß­ver­ständ­nis­sen her­aus. Als der Klein­staat 1938 durch Hit­ler mit dem Reich fusio­niert wur­de, in der Fol­ge man­cher jüdi­sche und poli­tisch nicht kon­for­me Kol­le­ge ent­las­sen wur­de, ver­such­te Kon­rad Lorenz sogleich, die für ihn und sei­ne For­schungs­rich­tung güns­ti­ge neue Kon­stel­la­ti­on beden­ken­los und ziel­stre­big zu nut­zen. Schon sei­ne Plä­ne in Wien, aber auch alle spä­te­ren Unter­neh­mun­gen zei­gen einen stets »sehr ehr­gei­zi­gen, eben­so anpas­sungs­be­rei­ten, poli­tisch eher nai­ven, wis­sen­schafts­po­li­tisch aber geschickt agie­ren­den For­scher«. So bemüh­te er sich nach dem »Anschluß« schnell um Auf­nah­me in die NSDAP und eine ent­spre­chen­de rhe­to­ri­sche Auf­rüs­tung sei­ner Forschungspräsentation.

Daß er sich dabei als »Deutsch­den­ken­den« bezeich­ne­te und den öster­rei­chi­schen Kle­ri­kal­fa­schis­mus ver­damm­te, war gewiß nicht kar­rie­re- und antrags­tech­ni­schen Erwä­gun­gen, son­dern kon­kre­ten his­to­ri­schen Erfah­run­gen geschul­det, also ernst gemeint. Den im Frie­dens­ver­trag von St. Ger­main aus­drück­lich ver­bo­te­nen Zusam­men­schluß Deutsch­ös­ter­reichs, wie es anfangs hieß, mit dem Reich hat­te die Mehr­zahl gewollt; bekannt­lich war dies, bis 1933, ein Anlie­gen gera­de der öster­rei­chi­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie gewe­sen. Auch an eine gewis­se wis­sen­schafts­freund­li­che Moder­ni­tät des natio­na­len Sozia­lis­mus wird Lorenz wie welt­weit vie­le Natur­wis­sen­schaft­ler tat­säch­lich geglaubt haben. Jeden­falls sicher­ten ihm sei­ne Stu­di­en über die Haus- und Wild­gän­se schnell einen exzel­len­ten wis­sen­schaft­li­chen Ruf: Auf­sät­ze wie die schon 1935 im Jour­nal für Orni­tho­lo­gie publi­zier­te Stu­die Der Kum­pan in der Umwelt des Vogels oder die 1937 in den Folia Bio­theo­re­ti­ca erschie­ne­ne Abhand­lung Über den Begriff der Instinkt­hand­lung soll­ten Mark­stei­ne der neu­en Ver­hal­tens­bio­lo­gie bil­den. Die Grün­dung des ers­ten etho­lo­gi­schen Fach­or­gans, der Zeit­schrift für Tier­psy­cho­lo­gie, mit sei­nem Kol­le­gen und För­de­rer Otto Koeh­ler zusam­men bewies orga­ni­sa­to­ri­sche Rüh­rig­keit und sorg­te für eine gute Ver­net­zung in Fach­krei­sen. So erhielt er 1940 einen Ruf an die phi­lo­so­phi­sche Fakul­tät der Königs­ber­ger Alber­ti­na, auf Betrei­ben unter ande­rem Otto Koeh­lers, aber auch Arnold Geh­lens, des­sen Nach­fol­ger auf dem Lehr­stuhl Imma­nu­el Kants er de jure nun wurde.
Schon ein Jahr spä­ter, nach Beginn des deut­schen Angriffs auf Sta­lins Sowjet­uni­on, wur­de Kon­rad Lorenz gezo­gen und als Hee­res­psych­ia­ter ein­ge­setzt, bis er 1944 an die Ost­front kam und bei Witebsk ver­wun­det für vier Jah­re in rus­si­sche Kriegs­ge­fan­gen­schaft geriet. Nach sei­ner Ent­las­sung kehr­te er ins hei­mat­li­che Alten­berg zurück, wo er 1949 sein ers­tes etho­lo­gi­sches Insti­tut grün­de­te. Bemü­hun­gen um eine Pro­fes­sur in Öster­reich schei­ter­ten, doch nahm Tin­ber­gen von Oxford aus Ver­bin­dung auf, wäh­rend die Max-Planck-Gesell­schaft ihm eigens eine For­schungs­stel­le für Ver­glei­chen­de Ver­hal­tens­for­schung im west­fä­li­schen Buld­ern ein­rich­te­te. 1953 folg­te eine Hono­rar­pro­fes­sur an der Uni­ver­si­tät Müns­ter, 1957 das­sel­be in Mün­chen; ein Jahr spä­ter über­nahm er mit Erich von Holst zusam­men als des­sen Stell­ver­tre­ter das neue Max-Planck-Insti­tut für Ver­hal­tens­phy­sio­lo­gie im ober­baye­ri­schen See­wie­sen, das er schließ­lich von 1961 an bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung im Jahr 1973 leitete.
Wis­sen­schafts­his­to­risch war eine wesent­li­che Leis­tung von Lorenz, daß er die Tier­be­ob­ach­tun­gen zeit­ge­nös­si­scher Zoo­lo­gen wei­ter- und zusam­men­ge­führt hat­te. Dabei ent­wi­ckel­te er eine phy­sio­lo­gi­sche Instinkt­theo­rie, die es ihm ermög­lich­te, das Ver­hal­ten unter­schied­li­cher Tier­ar­ten zu ver­glei­chen und dar­auf­hin zu befra­gen, ob und wel­che Ver­hal­tens­wei­sen auf ange­bo­re­nen, also ver­erb­li­chen Dis­po­si­tio­nen beruh­ten. Lorenz über­trug damit einen in der ver­glei­chen­den Ana­to­mie geläu­fi­gen Zugriff auf den »psy­cho­lo­gi­schen« Bereich. Gegen die sei­ner­zeit domi­nie­ren­de Annah­me, die kom­ple­xen Ver­hal­tens­ab­läu­fe der Tie­re wären reiz­ge­steu­ert, also rein reak­tiv etwa an Umwelt­ein­flüs­sen aus­ge­rich­tet, kam Lorenz zum Ergeb­nis, daß es ange­bo­re­ne Ver­hal­tens­wei­sen gab, die dem ein­zel­nen Tier schon vor dem ers­ten Gebrauch kom­plett aus­ge­bil­det zur Ver­fü­gung stan­den. Sol­che Ver­hal­tens­se­quen­zen wer­den nach Lorenz durch spe­zi­fi­sche, in der Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit gene­tisch ver­an­ker­te Schlüs­sel­rei­ze aus­ge­löst und über ner­vö­se Schal­tun­gen zu sinn­vol­len Abläu­fen mit funk­tio­na­lem Abschluß koordiniert.

Mit die­sen Theo­re­men ver­band sich sein spä­ter gern belä­chel­tes, inzwi­schen über­hol­tes Denk­mo­dell einer Trieb­hy­drau­lik, nach dem eine spon­tan pro­du­zier­te Trie­b­e­ner­gie so lan­ge zunimmt, bis sie durch einen per Schlüs­sel­reiz aus­ge­lös­ten Hand­lungs­ab­lauf abge­baut wird, sobald eine spe­zi­fi­sche Reiz­schwel­le über­schrit­ten ist. Lorenz war sich frei­lich stets des Modell­cha­rak­ters und der Hypo­the­tik sol­cher Kon­zep­te bewußt; sein Denk­ha­bi­tus ent­sprach ganz dem Prag­ma­tis­mus des Kind­heits­freun­des Pop­per, für den Hypo­the­sen – sofern frucht­bar – so lan­ge gal­ten, bis sie theo­re­tisch oder empi­risch »fal­si­fi­ziert «, dann aber auch lei­den­schafts­los preis­zu­ge­ben waren. Im Ver­gleich exak­ter Ver­hal­tens­pro­to­kol­le ver­wand­ter und unter­schied­li­cher Tier­ar­ten woll­te Lorenz nun bele­gen, daß nicht nur kör­per­li­che Eigen­schaf­ten Ergeb­nis­se stam­mes­ge­schicht­li­cher Pro­zes­se sind, son­dern ana­log auch die ange­bo­re­nen Ver­hal­tens­wei­sen, die er stets auf ihre Funk­ti­on, ihre kon­kre­ten evo­lu­tio­nä­ren Anpas­sungs­leis­tun­gen befragte.
Dies führ­te den Bio­lo­gen schnell zu phi­lo­so­phi­schen Fra­gen und zur Aus­ein­an­der­set­zung mit ein­schlä­gi­gen Abschnit­ten von Kants Kri­tik der rei­nen Ver­nunft. Dar­in hat­te er Raum, Zeit und Kau­sa­li­tät als Anschau­ungs- und Denk­wei­sen gefaßt, die vor aller Erfah­rung – a prio­ri – im Men­schen gege­ben sei­en und die­se aller­erst ermög­lich­ten. Noch in Königs­berg begann Lorenz 1941 mit der Abhand­lung über »Kants Leh­re vom Aprio­ri­schen im Lich­te gegen­wär­ti­ger Bio­lo­gie« einen eige­nen erkennt­nis­theo­re­ti­schen Ansatz zu ent­wi­ckeln, den er in sei­nem »Rus­si­schen Manu­skript « wäh­rend der Kriegs­ge­fan­gen­schaft fort­führ­te. Aus­gangs­punkt war wie­der die Annah­me, daß der stam­mes­ge­schicht­lich aus­ge­form­ten Ana­to­mie und ihren Kör­per­funk­tio­nen bei allen Lebe­we­sen ange­bo­re­ne Dis­po­si­tio­nen ent­spre­chen muß­ten, die indi­vi­du­el­le Lern­leis­tun­gen über­haupt ermög­lich­ten. Dem­zu­fol­ge ist auch das Hirn erst in äonen­lan­ger Wech­sel­wir­kung mit den Umge­bun­gen zu jenem kom­ple­xes­ten mensch­li­chen Organ gewor­den, das die von Kant ana­ly­sier­ten Denk­pro­zes­se zuließ. Für Lorenz wur­de damit der »aprio­ri­sche Appa­rat« Kants zu einem per Selek­ti­on opti­mal an die ent­spre­chen­de Umwelt ange­paß­ten stam­mes­ge­schicht­li­chen »a posteriori«.
1973 ver­öf­fent­lich­te er in dem Buch Die Rück­sei­te des Spie­gels eine von die­sen frü­hen Über­le­gun­gen aus­ge­hen­de evo­lu­tio­nä­re Erkennt­nis­theo­rie und phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie, die sich auch für neue­re Ansät­ze offen zeig­te, damit selbst anschluß- und aus­bau­fä­hig blieb. In Anleh­nung an die Onto­lo­gie des heu­te nur noch Spe­zia­lis­ten bekann­ten Phi­lo­so­phen Nico­lai Hart­mann pos­tu­lier­te Kon­rad Lorenz die »Ein­heit der rea­len Welt« als evo­lu­tio­när ent­stan­de­nes, in sich geschich­te­tes Sys­tem. Die »Schich­ten­fol­ge« Hart­manns, der »das Anor­ga­ni­sche, das Orga­ni­sche, das See­li­sche und das Geis­ti­ge« unter­schied, stim­me, so die Poin­te von Lorenz, »schlicht und ein­fach mit der Rei­hen­fol­ge ihrer erd­ge­schicht­li­chen Ent­ste­hung über­ein«. Die natur­ge­schicht­li­chen Sprün­ge zwi­schen die­sen Schich­ten führ­te Lorenz sys­tem­theo­re­tisch auf Kom­bi­na­ti­ons­ef­fek­te zurück, die er als »Ful­gu­ra­tio­nen«, als blitz­ar­ti­ge Neu­bil­dun­gen, bezeich­ne­te: Wenn sich zwei Sys­te­me mit ihren spe­zi­fi­schen Eigen­schaf­ten zu einem neu­en zusam­men­schlie­ßen, kann die­ses plötz­lich Eigen­schaf­ten auf­wei­sen, die sich aus den ursprüng­lich ein­zeln gege­be­nen nicht ablei­ten las­sen, wobei deren Sys­tem­ei­gen­schaf­ten unver­än­dert und modi­fi­ziert wei­ter­wir­ken können.

So ver­eint auch der Mensch als kom­ple­xes Sys­tem und Fol­ge diver­ser Ful­gu­ra­tio­nen die Eigen­schaf­ten der natur­ge­schicht­lich frü­he­ren Schich­ten, im Kogni­ti­ons­ap­pa­rat eben­so wie in den stam­mes­ge­schicht­lich selek­tier­ten Ver­hal­tens­dis­po­si­tio­nen: »Von Natur ein Kul­tur­we­sen« (Eibl-Eibes­feldt), ist er der Refle­xi­on und sym­bo­li­schen Kom­mu­ni­ka­ti­on, der Selbst- und Fremd­steue­rung in höchs­ter Abs­trak­ti­on fähig, doch west in ihm eben auch das ter­ri­to­ria­le »Thi­er Mensch« (Nietz­sche), des­sen »Aggres­si­ons­trieb«, so Lorenz in Das soge­nann­te Böse (1963), ihm einst das Über­le­ben in feind­li­cher Umwelt sicher­te, heu­te aber unter Zivi­li­sa­ti­ons­be­din­gun­gen pri­mär scha­det. In sei­ner Phil­ip­pi­ka Die acht Tod­sün­den der Mensch­heit (1973) bewer­te­te Kon­rad Lorenz neue­re kul­tu­rell erzeug­te Effek­te wie Über­be­völ­ke­rung, Umwelt­schä­den, Mas­sen­ver­nich­tung von Mensch und Tier, die Zer­stö­rung indi­ge­ner Kul­tu­ren, den dro­hen­den Rück­fall hin­ter die euro­päi­sche Auf­klä­rung und die Schrump­fung von Leis­tungs­eli­ten gene­rell als nega­ti­ve Fol­gen einer »posi­ti­ven Rück­kop­pe­lung« evo­lu­tio­när ursprüng­lich erfolg­rei­cher Dis­po­si­tio­nen. Ange­sichts des­sen for­der­te er um so dring­li­cher »eine auf natur­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen sich auf­bau­en­de Selbst­er­kennt­nis der Kul­tur­mensch­heit«. Bereits 1972 hat­te er daher als Spre­cher einer »Grup­pe Öko­lo­gie«, der neben ande­ren sein Schü­ler Ire­nä­us Eibl-Eibes­feldt und der bekann­te Zoo­lo­ge Bern­hard Grzimek ange­hör­ten, ein »Öko­lo­gi­sches Mani­fest« ver­öf­fent­licht, das loka­le Fra­gen mit glo­ba­len Zusam­men­hän­gen wie der Über­be­völ­ke­rung ver­band. So wur­de er zu einer – auch akti­ven – Sym­bol­fi­gur der grü­nen Bewe­gung in Öster­reich: Hier darf man von Lorenz tat­säch­lich als einem Kon­ser­va­ti­ven spre­chen, dem es um die Bewah­rung uner­setz­li­cher natür­li­cher und kul­tu­rel­ler Bestän­de ging.
Die Kri­tik der ega­li­ta­ris­ti­schen Lin­ken wie­der­um ent­zün­de­te sich an sei­ner Über­zeu­gung, daß »auch im sozia­len Ver­hal­ten des Men­schen Instinkt­haf­tes ent­hal­ten sei, das durch kul­tu­rel­le Ein­wir­kun­gen nicht ver­än­dert wer­den kann«. Zudem hielt er lebens­lang dar­an fest, daß es eine grup­pen­spe­zi­fi­sche Erhal­tungs- und Fort­pflan­zungs­lo­gik gebe, das Prin­zip der »Art­erhal­tung«, womit auch altru­is­ti­sche Ver­hal­tens­wei­sen plau­si­bel wer­den soll­ten. Fach­wis­sen­schaft­lich wur­de die­ser frü­he evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­sche Ansatz schon zu sei­nen Leb­zei­ten ent­kräf­tet: etwa durch Richard Daw­kins The sel­fi­sh gene (1976) und das Kon­zept der Ver­wand­ten­se­lek­ti­on, das auch Altru­is­mus zu erklä­ren vermag.
Obschon sich Lorenz etwa in sei­ner Kri­tik an der »Ver­haus­tie­rung« als zivi­li­sa­to­ri­scher Deka­denz­er­schei­nung immer kor­rekt auf die gan­ze Mensch­heit als zu erhal­ten­de Art bezog, stell­ten ihn ehren­amt­li­che Gedan­ken­po­li­zis­ten gern in ein­schlä­gi­ge »Kon­ti­nui­tä­ten«. Unter Ver­zicht auf jede his­to­ri­sche Dis­kurs­ana­ly­se, die ihren Namen ver­dien­te, ope­riert man dabei gern mit ein­schlä­gi­gem Reiz­vo­ka­bu­lar der Euge­nik, das aus Lorenz’ frü­hen Tex­ten exzer­piert und mit Pas­sa­gen spä­te­rer Arbei­ten ver­gli­chen wird. Euge­ni­sche Über­le­gun­gen sind zwar durch die moder­ne Gen­tech­nik unter der Hand längst wie­der »Gemein­gut« gewor­den, was aber des­we­gen kaum skan­da­li­siert wird, weil deren Begrif­fe längst nicht mehr naiv-mar­tia­lisch wie einst klin­gen. Gera­de des­halb ist hier dar­auf hin­zu­wei­sen, daß sich Lorenz geis­tig sei­ner­zeit kei­nes­wegs in einem spe­zi­fisch natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­text beweg­te. Eher stand er in der Tra­di­ti­on sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Fort­schritts­glau­bens: Im Kampf gegen »Lum­pen­pro­le­ta­ri­at« und »Lum­pen­bour­geoi­sie« ziel­te die­ser dar­auf, zum Heil der Mensch­heit die Fort­pflan­zung gene­tisch Belas­te­ter zu unter­bin­den – bis hin zur »Unfrucht­bar­ma­chung der geis­tig Min­der­wer­ti­gen «. Nach den USA waren es damals ja gera­de die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Län­der Skan­di­na­vi­ens gewe­sen, die als ers­te über­haupt euge­ni­sche Geset­ze und (Zwangs-)Sterilisation ein­ge­führt und umge­setzt hat­ten. Die gele­gent­li­chen Ver­su­che, die Human­etho­lo­gie in his­to­ri­sche Sip­pen­haft zu neh­men, haben damit nach allem also teil an jener von Lorenz benann­ten sieb­ten »Tod­sün­de«, der Indok­tri­nier­bar­keit; sie offen­ba­ren zudem aber auch die Not­wen­dig­keit, das abge­bro­che­ne Pro­jekt der euro­päi­schen Auf­klä­rung genau hier, mit der Etho­lo­gie und den aus ihr erwach­se­nen neue­ren For­schungs­zwei­gen der Ver­hal­tens­öko­lo­gie und Sozio­bio­lo­gie, wie­der aufzunehmen.

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