… “Spiegel der Jahre” (1957). Der Sprecher ist ein “Konservativer Revolutionär” der Zwanziger Jahre, den Jünger “Pistor” nennt.
Wenn ich mir alle widerlichen Begegnungen und Erfahrungen mit Menschen überlege, so finde ich überall dasselbe Grundübel: die Menschen wollen dem Außergewöhnlichen nicht die Interessen ihrer alltäglichen Existenz opfern, sondern sie tun das Umgekehrte leichteren Herzens. Darin sehe ich das Wesen der Gemeinheit und des gemeinen Menschen. Er freut sich, wenn er die Unruhe los ist, die ihm die Begegnung mit dem Ungewöhnlichen bereitet, und er freut sich, wenn er leichten Kaufs loskommt, nämlich so, daß er das Ungewöhnliche seiner eigenen Gewöhnlichkeit zum Opfer bringen kann.
Leider muß sich in Deutschland das Ungewöhnliche mit dem herrschenden und zahlreichen Gewöhnlichen immer wieder einlassen, wenn es nicht gleich, nachdem es den Mutterleib verließ, Selbstmord verüben will. Diese Menschen verarmen sich dabei selbst ihr Leben, sie gehen in ihrer Banalität und ihrem armseligen Berufs- und Eheleben unter, sie haben manchmal, wenigstens einer oder der andere, einen Augenblick der Besinnung, in dem sie sich sagen: für eine Minute wahren Glücks würde ich dieses ganze Elend hingeben.
Wenn aber jemand kommt, der ihnen die Hand reicht, dann benutzen sie rasch die Gelegenheit, ihn als ihren schlimmsten Feind rasch in ihren Sumpf hinunterzuziehen. Wer nicht gleichgültig ist, muß wenigstens Gleichgültigkeit heucheln, damit ihn die Unmenschen leben lassen.
Mein Freund, ein junger, freiberuflicher Familienvater, empfand diese Stelle als “melancholisch”.
Aber ist sie das, lieber Waldgänger? In Pistors Rede erkenne ich eine Paraphrase und Umkehrung der berühmten Sätze von Pascal wieder:
Quand je m’y suis mis quelque fois, à considérer les diverses agitations des hommes, et les pèrils et les peines où il s’exposent, dans la cour, dans la guerre, d’ou naissent tant de querelles, de passions, d’entreprises hardies et souvent mauvaises…
Wenn ich mich manchmal damit beschäftigt habe, die mannigfache Unruhe der Menschen zu betrachten, die Gefahren und die Mühsal, denen sie sich bei Hofe und im Kriege aussetzen, aus denen so viele Streitigkeiten, Leidenschaften, kühne und oft auch bösartige Unternehmungen und manches andere entstehen, so habe ich die Entdeckung gemacht, daß das ganze Unglück der Menschen aus einer einzigen Wurzel stammt: sie können nicht ruhig in einem Zimmer bleiben.
War Pistor so gesehen nicht eher ein romantischer Optimist, als er dachte, daß sich die Menschen die Banalität ihres Lebens selbst erwählen? Und überzeugt davon war, daß das Wunderbare, Außergewöhnliche, vielleicht das abwesende “wahre Leben”, das Rimbaud gemeint hat, ständig an unsere Tür klopft, wir Feiglinge und Faulpelze es aber aussperren, abwehren, ersticken? Ich bin skeptisch. Ist es nicht vielmehr so, daß wir uns nach dem Außergewöhnlichen eher vergeblich sehnen, darauf warten wie auf Godot?
Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.
Heut denke ich eher, daß Pascal recht hatte, und immer mehr bewundere ich diejenigen, die den Heroismus des Alltags mit Weib, Kind und Mühsal bewältigen, ohne dabei zum Schweinchen Schlau zu werden, gerade in unserer Zeit der totalen Mobilmachung und Auflösung aller Dinge und der totalen Entortung, in der jede Ehe und jedes Haus und jeder Beruf wie auf Sand gebaut steht oder eben nicht steht.
Pistors Rede ist noch nicht zu Ende:
Was meinen Sie, wenn ich zur Ästhetik überginge, nachdem ich durch zwei Stadien hindurchging, das philosophische und das soziologisch-politische? Aber wo ist Schönheit? Daran, das Wahre anzutreffen, und daran, das richtige politische Handeln anzutreffen, verzweifle ich. Aber vielleicht können wir das Schöne irgendwo antreffen, und vielleicht liegt mir von Anfang an an dem Schönen mehr als an allem anderen.
Hier spricht er mir uneingeschränkt aus der Seele.