Die grenzt sich bewußt von der klassischen Verhaltensforschung ab und stellt zentrale Annahmen von Konrad Lorenz in Frage.
Die Soziobiologie besteht in der konsequenten Anwendung des Darwinschen Modells der Evolution auf das Sozialverhalten von Tieren und Menschen. Ihre Ursprünge liegen in den sechziger Jahren in Großbritannien und den USA. Den Durchbruch bedeutete das 1975 erschienene Buch Sociobiology: The New Synthesis, des an der renommierten Harvard Universität lehrenden Ameisenspezialisten Edward O. Wilson (geb. 1929). Die Soziobiologie hat seitdem weltweit Anerkennung gefunden und sich an zahlreichen Universitäten als Forschungsrichtung mit eigenen Lehrstühlen etabliert, ist aber auch nach wie vor sehr umstritten. Das gilt insbesondere für die Humansoziobiologie, das heißt für die Untersuchung der Frage, inwieweit die Modelle der Soziobiologie auch für die Erklärung des menschlichen Verhaltens herangezogen werden können.
Die Soziobiologie geht von folgenden Grundannahmen aus: 1. Die Angehörigen einer Population pflanzen sich mit unterschiedlich großer Nachkommenschaft fort, 2. die Individuen unterscheiden sich in ihrer genetischen Ausstattung, 3. das Verhalten der Individuen ist zumindest teilweise genetisch beeinflußt, und schließlich 4. die für die Fortpflanzung notwendigen Ressourcen sind nur begrenzt vorhanden. Solche Ressourcen sind zum Beispiel Nahrung, Brutplätze, Geschlechtspartner, elterliche Fürsorge und soziale Unterstützung durch andere. Aus diesen Voraussetzungen resultiert die Konkurrenz unter den Mitgliedern einer Population: Einige Individuen vermögen aufgrund ihrer Eigenschaften die Ressourcen für sich besser zu erschließen und in Fortpflanzungserfolg, im soziobiolo gischen Jargon Fitneß genannt, umzusetzen als andere. Das Ergebnis ist, daß Gene, die ihre Träger besser für die Konkurrenz ausgestattet haben, in der Population zunehmen. Dieser Vorgang wird in der Evolutionsbiologie »Anpassung«, und sein Ergebnis »Angepaßtheit« genannt. Unsere heutigen Eigenschaften sind nach dieser Auffassung das Ergebnis von Optimierungsprozessen in der Vergangenheit, in denen sie sich reproduktiv durchsetzen konnten.
Das zentrale Paradigma der Soziobiologie ist das von der »Genzentriertheit« der Selektion. Die Selektion setzt zwar am Phänotyp der Individuen an, die eigentliche Ebene der biologischen Anpassungsvorgänge ist aber das Gen, nicht das Individuum und auch nicht die Population oder die Art. Nur in den Genen ist die stammesgeschichtliche Erfahrung generationenübergreifend gespeichert. Allerdings sind die Gene der Soziobiologie weitgehend hypothetisch. Es dürfte sich auch weniger um einzelne DNS-Sequenzen, als vielmehr um das Zusammenspiel mehrerer Gene handeln, die das Verhalten beeinflussen. Diese »Gene« sind die tendenziell unsterblichen »Replikatoren«, die sich unendlich oft reproduzieren können, während die Individuen, also auch wir, nur ihre zeitweiligen Vehikel sind, die den Zweck haben, ein optimales Medium zur Replikation der Gene zu sein. Nicht um das Wohlergehen der Individuen geht es in der Evolution, sondern um das Überleben der Gene.
Das Verhalten von Tieren und Menschen läßt sich nach der Vorstellung der Soziobiologie auf zwei unterschiedlichen Ebenen erklären. Auf der »ultimaten«, letztlich ausschlaggebenden Ebene, ist immer die »Fitneßmaximierung « das Ziel, das heißt das Überleben und die maximale Verbreitung der eigenen Gene. Sie erklärt, wieso ein Verhalten evoluieren konnte beziehungsweise welchen Fitneßvorteil es hatte und gegebenenfalls immer noch hat. Das heißt, das unbewußte Generalziel des tierischen und menschlichen Verhaltens ist immer die Maximierung der Gesamtfitneß. Die andere, »proximate« Ebene, das sind die physiologischen Regelmechanismen, wie die Auslösemechanismen für ein Balzverhalten oder die Hormone, die die Bedürfnisse steuern, etwa nach Nahrung, Zuwendung oder Sex. Beim Menschen gehören zur proximaten Ebene auch die gesellschaftlichen Normen und das kulturelle Milieu, Sozialisationserfahrungen, ökonomischen Interessen und überhaupt alle bewußten Vorstellungen und Handlungsmotive.
Im Mittelpunkt der soziobiologischen Theorie steht das Konzept der Verwandtenselektion. Ausgangspunkt war das Problem des Altruismus. Wie kann man es erklären, wenn zum Beispiel ein Tier durch seinen Warnruf seine Artgenossen vor einem gefährlichen Räuber warnt, wodurch die sich in Sicherheit bringen können, es aber dessen Aufmerksamkeit dadurch auf sich selbst zieht? Die Soziobiologie erklärt solchen phänotypischen Altruismus mit dem Konzept der Verwandtenselektion: Die beinhaltet, daß sich altruistisches Verhalten dann genetisch behaupten kann, wenn der Altruist durch sein Verhalten die Reproduktionschancen seiner Blutsverwandten erhöht. Voraussetzung ist, daß die sogenannte Hamilton-Ungleichung erfüllt ist: K < r x N. Die Kosten (K) für den Altruisten müssen geringer sein als der Nutzen (N), den der oder die Nutznießer des altruistischen Verhaltens haben, gewichtet mit dessen beziehungsweise deren Verwandtschaft zu dem Altruisten.
Der Grad der Verwandtschaft wird durch den Verwandtschaftskoeffizienten ® ausgedrückt. Der ist ein Maß für die gemeinsamen Gene, die zwei Individuen haben, bezogen auf die Variabilität einer Population (die etwa 99 Prozent der Gene, die alle Menschen gemeinsam haben, interessieren hierfür nicht). Ein Individuum hat zu sich selbst einen Verwandtschaftskoeffizienten von 1 und zwei nicht verwandte Menschen einen von 0. Eltern und Kinder bzw. Geschwister haben die Hälfte ihrer Gene gemeinsam (r = 0,5), Großeltern und Enkel und Onkel und Neffen 25 Prozent (r = 0,25) und Großeltern und Urenkel und Vettern 12,5 Prozent (r = 0,125). So kommt zu der direkten Fortpflanzung eines Individuums (direkte Fitneß) noch der indirekte Fortpflanzungserfolg durch seine Verwandten (indirekte Fitneß) hinzu. Erst beides zusammen bildet den wirklichen Fortpflanzungserfolg eines Individuums, die »Gesamtfitneß«. Plakativ gesprochen besagt die Hamilton-Ungleichung, daß es sich genetisch »lohnt«, sich selbst zu opfern (K = 1), um zum Beispiel drei seiner Kinder (N = 3 x 0,5) oder fünf seiner Neffen (N = 5 x 0,25) zu retten.
Neben diesem nepotistischen Altruismus gibt es auch noch den Altruismus auf Gegenseitigkeit, den reziproken Altruismus. Bei diesem unterstützen sich nichtverwandte Individuen, wenn sie davon ausgehen können, daß der andere sich bei Gelegenheit erkenntlich zeigen wird. Angeborene Verhaltensmuster sorgen dafür, daß das Verhalten der anderen Gruppenmitglieder beobachtet und »Betrüger« gemieden werden. Allerdings zeigen Untersuchungen, daß auch hierbei die gegenseitige Unterstützung umso wahrscheinlicher ist, je enger Geber und Nehmer miteinander verwandt sind.
Es ist den Soziobiologen mit ihren Modellrechnungen gelungen, Verhaltensweisen zu erklären, denen die klassische Verhaltensforschung mit Unverständnis gegenüberstand. Dazu gehört zum Beispiel die Tötung von Artgenossen, etwa der Kinder von Rivalen oder von Gruppenfremden. Auch der soziale Wettbewerb steht demnach im Dienste der Fitneßmaximierung. Alpha-Tiere und Männchen, die ihre Konkurrenten im Wettkampf besiegen, haben bevorzugten Zugang zu den Weibchen und geben ihre Gene überproportional an die nächste Generation weiter. Dieses Prinzip stellt sicher, daß sich nur die Gene der gesündesten und stärksten Individuen replizieren. Den gleichen Zusammenhang gibt es auch in traditionellen menschlichen Gesellschaften. Untersuchungen zeigen, daß in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften und in bäuerlichen Gesellschaften wie in Europa bis ins 19. Jahrhundert der soziale und wirtschaftliche Erfolg positiv mit der Zahl der Nachkommen korreliert war. Auch in unserer modernen Gesellschaft besteht noch ein deutlicher Zusammenhang zwischen sozialökonomischem Status und sexuellem Erfolg, der sich allerdings nicht mehr in Reproduktionserfolg umsetzt.
Die Soziobiologen grenzten sich deutlich von der klassischen Verhaltensforschung, wie sie Konrad Lorenz vertrat, ab. Nicht ganz zu Unrecht warfen sie ihr vor, in einem »naturalistischen Fehlschluß« aus der Natur Werte abzuleiten und dem in der modernen Zivilisation degenerierten Menschen quasi die Tiere als die besseren Menschen vorzuhalten. Der andere Konfliktpunkt war die Frage der Ebene, auf der die Selektion stattfindet. Die Verhaltensforschung hatte die Evolution von gruppendienlichen Verhaltensweisen auf die Idee des Artwohls zurückgeführt. Dies zeige zum Beispiel die Schonung von Gegnern in Kommentkämpfen. Die Tötung von Artgenossen wurde als pathologische Erscheinung gewertet, die unter Domestikationsbedingungen auftrete und in der Natur rasch ausgemerzt würde. Es handelte sich gewissermaßen um ein »naives« Konzept der Gruppenselektion. »Naiv« deshalb, weil man darauf verzichtete, das Funktionieren der Gruppenselektion anhand von mathematischen Modellen nachzuprüfen. Da die Soziobiologen von Anfang an in dem Verdacht standen, eine biologistische und rechte Ideologie zu vertreten, war für sie besonders in Deutschland die Abgrenzung von der als konservativ geltenden Verhaltensforschung ein wichtiges Argument bei der akademischen Etablierung des Faches.
So galt das Konzept der Gruppenselektion seit den siebziger Jahren als wissenschaftlich obsolet. In letzter Zeit mehren sich jedoch die Stimmen, die für ein modifiziertes, auf populationsgenetischen Modellen beruhendes Konzept der Gruppenselektion eintreten. An führender Stelle ist hier der amerikanische Evolutionsbiologe David Sloan Wilson (geb. 1949) zu nennen. Flankenschutz erhält er dabei ausgerechnet von dem Gründervater der Soziobiologie, Edward O. Wilson. Tatsächlich gibt es viele Beispiele für gruppendienliches, »ethnozentrisches« Verhalten bei Menschen und Tieren. Allerdings ist es kaum möglich, das Funktionieren eines solchen Verhaltens im Sinne eines genetischen Vorteils für die Gruppenmitglieder mathematisch zu belegen. Danach setzt es extreme Bedingungen, insbesondere sehr hohe extinction rates, das heißt die häufige Auslöschung ganzer Gruppen, voraus. Zwar ist offensichtlich, daß Gruppen mit gruppendienlichem Verhalten einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Gruppen haben. Zugleich sind solche Gruppen aber auch sehr anfällig für die Zersetzung durch »Trittbrettfahrer«, die sich dadurch einen genetischen Vorteil innerhalb der Gruppe verschaffen, daß sie das altruistische Verhalten nur vortäuschen. David S. Wilson zeigt nun, daß das Konzept der Gruppenselektion vor allem dann funktioniert, wenn es um kulturelle Faktoren ergänzt wird. Einen solchen Faktor sieht er in ethnozentrischen Ideologien, vor allem aber in der Religion. Um den Zustrom von Trittbrettfahrern einzudämmen, ist eine starke soziale Normenkontrolle notwendig. Indem sie einen unsichtbaren »strafenden Beobachter« installiert, gelingt der Religion eine wesentlich effizientere Normendurchsetzung und eine Erhöhung des Kooperationsniveaus innerhalb der Gruppe. Je größer eine Population ist und je geringer die Verwandtschaft ihrer Mitglieder, desto notwendiger ist eine starke Normenkontrolle. Gruppen, denen es gelingt, sich vor der inneren Zersetzung zu schützen, haben einen evolutiven Vorteil vor anderen Gruppen und können sich entsprechend ausbreiten. Die großen monotheistischen Religionen scheinen diesbezüglich effizienter als die polytheistischen Systeme und die Naturreligionen zu sein und haben sich entsprechend erfolgreich ausgebreitet. Bei großen, mehr kulturell als genealogisch definierten Gruppen, kommt demnach zunehmend die Gruppenselektion zum Tragen.
Übrigens hat auch Konrad Lorenz die Bedeutung der Kultur für die Gruppenselektion schon gesehen. »Wenn man irgend ein ausgesprochen ›altruistisches‹ Verhalten als Beispiel wählt«, heißt es bei ihm, »und sich fragt, warum nicht die Ausfallmutationen, die ein solches Verhalten zweifellos von Zeit zu Zeit treffen müssen, wegen ihres offensichtlichen Selektionsvorteils alsbald in Menge herausgezüchtet würden, findet man keine Antwort. Die Frage, welche Faktoren ein gehäuftes Auftreten sozialer Parasiten verhindern, ist auf der Ebene tierischer Sozietäten noch ziemlich ungelöst. … Auf der Ebene der menschlichen Kultur kennen wir keine einzige ethnische Gruppe, bei der nicht ein … komplexes System von Gesetzen und Tabus jeden sozialen Parasitismus unterdrückt.«
Allerdings ist es schwierig, Gruppenselektion theoretisch von Verwandtenselektion sauber zu trennen. Gruppenselektionistische Modelle können je nach Blickwinkel als Verwandten- oder als Gruppenevolution interpretiert werden. Letztlich sind ja die Mitglieder einer Gruppe meist miteinander verwandt. Wenn nur die Kosten-Nutzen- Relation stimmt, rechnet sich altruistisches Verhalten auch bei der Unterstützung von entfernteren Verwandten. Hinzu kommt, daß unter dem Einfluß der Behauptung, Rassen hätten keine reale genetische Grundlage, die gemeinsame Verwandtschaft innerhalb von ethnischen Gruppen lange Zeit unterschätzt worden ist.
Der amerikanische Genetiker Henry Harpending hat den genetischen Nutzen eines »ethnischen« Altruismus anhand einer erweiterten Hamilton- Ungleichung berechnet. Die Frage ist dabei, wie viele Angehörige des eigenen Volkes durch die altruistische Tat eines Einzelnen vor ihrer Verdrängung durch fremde Siedler bewahrt werden müssen, damit sich sein Opfer für ihn genetisch »lohnt«. Er kam zu dem Ergebnis, daß sich »ethnischer « Altruismus in einem Konflikt zwischen relativ nah verwandten Engländern und Dänen (wie zum Beispiel zur Zeit Knuts des Großen im Mittelalter), erst bei der Rettung von 120 Volksangehörigen lohnt. Dagegen rechnet es sich in einer Auseinandersetzung zwischen Schwarzen und Weißen, etwa im kolonialen Afrika, bereits, wenn nur 2,2 Angehörige der eigenen Gruppe gerettet werden. (Als Maß für die Gruppenunterschiede legte Harpending die genetischen Distanzen aus Cavalli-Sforza, History and Geography of Human Genes, zugrunde).
Gruppenkonflikte sind in der Geschichte des Menschen wahrscheinlich eher die Regel als die Ausnahme. So kann es nicht verwundern, daß unser Verhalten auch evolutiv stark von ihnen geprägt wurde. Mit Recht spricht der Soziobiologe Eckart Voland von »unserer in Zwischengruppenkonflikten evoluierten Psyche«. Sie gehört zu unserem genetischen Erbe, mit dem wir in einer gewandelten, modernen Welt zurechtkommen müssen.