Sofsky (geboren 1952) wurde der breiteren Öffentlichkeit bekannt, als er 1993 für seine Göttinger Habilitationsschrift über Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager den Geschwister-Scholl-Preis erhielt. Bis dahin hatte sich seine publizistische Wirkung auf das Soziologen-Milieu beschränkt. Nach dem Studium der Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft war er 1982 mit einer Arbeit über Die Ordnung sozialer Situationen bei dem Soziologen Hans Paul Bahrdt (1918 – 1994), einem Plessner-Schüler, promoviert worden. Bahrdt, der 1962 die Nachfolge Plessners in Göttingen angetreten hatte, war daher nicht nur Soziologe, sondern auch mit der Philosophischen Anthropologie vertraut. Obendrein war er einer der wenigen, die an dem phänomenologischen Ansatz der Soziologie festhielten.
Beide, die Philosophische Anthropologie als auch die Phänomenologie, machen auch das Besondere am Werk von Wolfgang Sofsky aus. Diese Prägung hat ihn offenbar nicht nur vom Marxismus geheilt, dem er als Schüler noch anhing, sondern auch einen nüchternen und genauen Blick auf den Menschen gelehrt. Seine Bücher zeichnen sich durch eine präzise Sprache und wohltuende Zuspitzung aus, die sie von den Hervorbringungen der meisten Soziologen abheben. Vielleicht liegt es daran, daß er heute keinen Lehrstuhl mehr bekleidet, nachdem er in Göttingen und Erfurt Professuren innehatte. Er lebt mittlerweile als freier Publizist in Göttingen.
Bewegte sich Sofsky in den vorherigen Arbeiten noch im vorgegebenen Rahmen, sei es durch das Interesse seines Lehrers Bahrdt an Industriesoziologie oder durch allgemeine Vorgaben des universitären Wissenschaftsbetriebes, überschritt er die Grenze zum Originellen 1996 im Traktat über die Gewalt. Allerdings gibt es bereits in der Ordnung des Terrors eine vielfach irritiert aufgenommene Nüchternheit, mit der Sofsky seinen Gegenstand betrachtet. Er schlägt im Grunde denselben Ton an, mit dem er auch die Gegenstände der Industriesoziologie behandelte. Als Ziel der Arbeit über die Ordnung des Terrors nennt er die »dichte Beschreibung« der Machtwelt des Konzentrationslagers. Seine These lautet, daß »sich in den Lagern eine soziale Machtform herausgebildet hat, die sich wesentlich von den geläufigen Macht- und Herrschaftstypen unterscheidet«.
Sein Interesse ist ein ganz anderes als das bis dahin übliche. Für ihn sind die deutschen Konzentrationslager nicht mehr als ein Beispiel für absolute Machtausübung und menschliche Destruktivität. Sie sind für ihn die »extremste Form der Macht und modernen Organisation«. Diese Form der Macht ist wie jede andere verstehbar und vergleichbar. Wer das leugnet, will moralisch argumentieren und, so Sofsky, »historischen Sinn« stiften. Für Sofsky ist die Sache klar: Verstehbar ist es, weil es sich um Menschenwerk handelt, und erst der Vergleich kann zeigen, ob die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede überwiegen. Er ist jedoch nicht so naiv anzunehmen, daß das Verstehen dieses Prozesses zu seiner Abschaffung führen würde. Dazu ist der Mensch zu sehr von anthropologischen Konstanten abhängig, und diese werden ihn immer wieder nach der »absoluten Macht«, nach einer »Ordnung des Terrors« streben lassen.
Ein Merkmal, das absolute Macht von anderen Formen der Macht abhebt, ist die Intensität der Gewalt: »Die direkteste Form absoluter Macht ist die schiere Gewalt.« Gerade dieses Merkmal kommt nicht dem Konzentrationslager allein zu, sondern ist offenbar ein allgemeingültiges Phänomen. Es ist für Sofsky Ausdruck der modernen Gesellschaft. Von hier aus nimmt sein Nachdenken über die Gewalt seinen Ausgang. »Wie der Vernichtungskrieg, so fällt auch die Ordnung des Terrors und die Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen in eigens dafür eingerichteten Lagern und Todesstätten nicht aus dem Rahmen der modernen Zivilisation.« Sofsky warnt deshalb davor, hierin einen einzigartigen »Rückfall in Barbarei « zu erblicken.
Vielmehr, und das führt Sofsky in seinem Traktat aus, gehöre die Gewalt zum Menschen, nur die Ausmaße der Gewalt ändern sich von Zeit zu Zeit. Phasen der Entgrenzung werden von Zeiten gehegter Gewalt abgelöst. Die Entfesselung ist jederzeit möglich. Diese an sich nicht neue Einsicht war in Vergessenheit geraten und wird auch heute nicht als gültig akzeptiert. Schon die Feststellung der ständigen Anwesenheit von Gewalt, die sich keinem offenen Auge verschließt, gilt als Denunziation von Demokratie und Sozialpädagogik. Das hat seinen Grund in der Verschleierung von Macht, die sich immer auf Gewalt gründet.
Im Grunde ist die Frage nach der Rolle der Gewalt eingeschlossen in die Frage nach der Macht. Da sich diese in Form der Gewalt äußert, geht der Phänomenologe Sofsky den Weg über die Gewalt. Macht zeigt sich als Gewalt. Er bezieht sich in seiner Herleitung der menschlichen Gesellschaft aus der Gewalt auf Hobbes und scheint dabei auch Carl Schmitt sehr aufmerksam gelesen zu haben. Es ist das bekannte Gleichnis: Als alle Menschen gleich und frei waren, konnte jeder den anderen töten oder schädigen. Also einigte man sich auf einen Vertrag, der das verhindern sollte, jedoch konnte niemand sicher sein, daß der andere sich daran hielt. Man übergab die Waffen und damit die Gewalt an gewählte Führer, die jetzt über die Einhaltung des Friedens wachten, schließlich unter dem Einsatz aller Mittel. Nur so war die Ordnung aufrechtzuerhalten. Irgendwann wurde dieser Druck als zu groß empfunden und die alte Freiheit und Gleichheit fand wieder Anhänger, die schließlich die Ordnung stürzten. In dem Gemetzel waren wieder alle frei und gleich gefährdet.
Mit diesem Gleichnis beginnt Sofsky seinen Traktat über die Gewalt. Damit ist gleich der Rahmen vorgegeben: Der Mensch ist ein Wesen, das sich nicht ändert, und die Geschichte ist ein ewiger Versuch, das Verhältnis zwischen Ordnung und Gewalt auszupendeln. Wie Schmitt weiß Sofsky, daß die Macht und die Gewalt dem Menschen weder von Gott noch von der Natur gegeben wurde. Es gibt keine Wolf-Lamm-Konstellation, weil der Mensch gerade kein Tier ist. Schmitt sieht im Gespräch über die Macht in der Macht etwas, das sich nur zwischen Menschen abspielt: »Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch.« Diesen Weg der Betrachtung, der keine Überhöhung, aber auch keine Beschränkung zuläßt, geht auch Sofsky. Allerdings ohne Schmitt, soweit ich sehe, auch nur zu erwähnen. Menschen kommen zusammen, weil sie sich fürchten: »Nicht im Handeln, im Leiden liegt der Ursprung der Gesellschaft.« Damit ist ein ewiger Kreislauf eröffnet: Gewalt erzeugt Angst, daraus entsteht Herrschaft und wieder Gewalt: »Herrschaft soll die Gewalt begrenzen, aber sie steigert sie bis zum Äußersten.« Wo sich Gewalt befindet, ob sie Ordnung stiftet oder Freiheit schafft, hängt davon ab, wer die Gewalt ausübt. Die Formen gleichen sich.
Eindringlich schildert Sofsky die Äußerungen, Bedingungen und Umstände dieser Gewalt, sei es als Tortur, Hinrichtung oder Massaker. Immer geht es ihm dabei um die Grenze zwischen Freiheit und Ordnung, auf der sich diese Phänomene bewegen. Im Massaker entfesseln die Menschen beispielsweise ihre Destruktivkräfte, »um für kurze Zeit den langersehnten utopischen Zustand zu verwirklichen, den absoluter Freiheit und Gleichheit, Einheit und Ganzheit«. Dieser Zustand bleibt Moment, weil der Rausch verfliegt und sich in der Nüchternheit die Frage auftun kann: Was habe ich getan? Die Frage setzt voraus, daß es ein Bewußtsein davon gibt, daß auf beiden Seiten Menschen stehen, die beide gleich gefährdet und bedürftig sind. Die Zähmung der Gewalt ist dann nicht nur durch Gewalt möglich, sondern auch durch das »Bewußtsein untilgbarer Schuld«. Hier spricht Sofsky nicht mehr von Ordnung oder Herrschaft, sondern von Kultur, die der Herrschaft nachfolgt. Der innere Zwang hat den äußeren abgelöst. Doch diese Unterdrückung hat ihren Preis: »Die domestizierte Sittlichkeit, welche die Despotie der Ordnung ersetzen sollte, steigert das Bedürfnis nach Entfesselung.«
Doch warum züchtet Kultur die Gewalt, die sie zerstört? Kultur ist nichts Versöhnliches, lautet die nüchterne Einsicht. Die optimistischen Wunschvorstellungen gehen davon aus, daß Kultur das Leiden ausgleichen würde, indem der Mensch in der Kultur Unsterblichkeit erlangen könne. Der Preis der für diese Illusion gezahlt werden muß, die Einschränkung der Freiheit und die Rechtfertigung neuen Leids, ist hoch, Sofskys Meinung nach zu hoch.
Angesichts dieser pessimistischen Anthropologie war es einigermaßen überraschend, daß Sofsky im Fall des Krieges der Vereinigten Staaten gegen den Irak den Preis, den es dafür zu zahlen galt, nicht für zu hoch hielt. Wenn wir sein Traktat ernst nehmen, gibt es keinen Ausweg aus dieser Spirale der Gewalt: »Die Ordnung ist gültig, und deshalb soll sie für alle gelten, für Freund und Feind, für die gesamte Welt.« Das würde als Erklärung des amerikanischen Vorgehens eigentlich genügen, ob man dabei von Herrschaft oder Kultur redet, ist völlig nebensächlich. Doch die Gewalt nach außen hat offenbar ihr Kalkül und ihre Grenzen, und so wird der konkrete Fall doch zur Meßlatte für Sofsky, der 2003 eine Art Tagebuch über den Irakkrieg veröffentlichte. So einleuchtend seine Kritik an den europäischen und insbesondere deutschen Gesinnungspolitikern ist, die sich aufgrund moralischer Skrupel scheuen, Verantwortung zu übernehmen, so schwierig ist seine fast schon bedingungslose Zustimmung zum amerikanischen Vorgehen. Daß der Hegemon USA Unruheherde weltweit bekämpfen muß, wenn er Hegemon bleiben will, leuchtet ein. Doch glaubt Sofsky jetzt ernsthaft, daß sich dadurch an dem Verhältnis von Gewalt und Freiheit etwas ändern würde?
Offenbar schätzt Sofsky die Freiheit mittlerweile höher ein, als das noch im Traktat der Fall war. In seinen beiden zuletzt veröffentlichten Büchern findet sich die Begründung für seine Begeisterung für die »Operation Freiheit«. In seinem Essay Das Prinzip Sicherheit plädiert Sofsky für die Verteidigung der Freiheit gegenüber dem Staat und dessen überbordender Fürsorge, die die Freiheit des Individuums einschränkt: »Aus der Sehnsucht nach Sicherheit bezieht der Staat seine Legitimation.« Statt Freiheit ist Sicherheit die Leitidee des Staates, der dadurch zum Sicherheitsstaat wird. Dieser beruht jedoch weiterhin auf dem Prinzip der Herrschaft, die die Gewalt eindämmt, weil sie jeden vernichten kann. »Dieses Zwangsgehäuse gerät in Zeiten demokratischer Rechtsstaatlichkeit rasch in Vergessenheit. Aber auch Demokratien sind vergänglich. Im Kreislauf der Staatsformen sind sie lediglich Episode.« Und obendrein sind Demokratien nicht friedlicher und damit auch nicht weniger gewalttätig als andere Staatsformen.
Hier kommt die Skepsis zum Vorschein, die Sofsky eigentlich auszeichnet und die er angesichts des Irakkrieges vergessen haben muß: »Aussichtsreich wäre der Export des europäischen Staatsmodells nur, wenn eine Nachfrage danach bestünde.« Wenn er damit die Demokratie meint, schließt das die Vereinigten Staaten mit ein. Es wird nicht deutlich, ob Sofsky insgeheim der Meinung ist, daß in der Demokratie die Freiheit ohne Gewalt existieren kann. Das Paradoxon der Freiheit sieht Sofsky allerdings deutlich. Damit alle in Freiheit leben können, müssen alle daran gehindert werden, die Freiheit des anderen zu beschränken. Das geht nur, wenn jeder seine Freiheit einschränkt. Jeder muß sich, möglichst freiwillig, Regeln unterwerfen. Freiheit und Demokratie sind nicht identisch, so Sofsky ausdrücklich. »Die Freiheit einer politischen Ordnung bemißt sich zuerst an der Stärke der Barrieren, die den einzelnen vor den Maßnahmen der Obrigkeit, den Übergriffen der Nachbarn und den Attacken der Feinde schützen.« Da Demokratie Herrschaft der Mehrheit bedeute, die immer für die Sicherheit optiere, kann Demokratie keine Freiheit garantieren. Die Bürger sollen, so Sofsky, selbst für den Schutz voreinander sorgen, durch »Streit, Gemeinsinn, soziale Kontrolle und Selbstdisziplin«. Doch heißt das nicht, daß sie Einsicht in das Problem haben und wiederum eine Ordnung aufbauen müssen?
Diesem Dilemma ist nicht zu entkommen. Wohl aus solchen Gründen hat sich Sofsky in seinem letzten und stilistisch besten Buch auf den Kern der Freiheit, die Privatheit, bezogen: »Frei ist, wer nicht angegriffen wird. Privatheit ist die Zitadelle der persönlichen Freiheit.« Problematisch daran ist, daß die Privatheit nicht mit der Freiheit gleichzusetzen ist, sondern vor dem Dilemma ausweicht. Die Privatheit ist leichter zu bewahren als Freiheit. »Zu den wenigen Errungenschaften der modernen Zivilisation gehört die Forderung, daß der Staat in seine Schranken zu weisen und die Gesellschaft vor dem Übergriff der Politik zu schützen sei.« Insofern ist das Private nicht politisch und hat es nicht zu sein. Doch haben wir es im Bereich des Privaten weniger mit der Politik als Eindringling zu tun, als mit moralisierenden Zeitgenossen und »sozialer Verdichtung«. Das gleichsam Beruhigende daran ist, daß der Einzelne die Möglichkeit hat, sich dem zu entziehen und seine Individualität, sein Geheimnis zu bewahren. Wer sich nicht am Tratsch beteiligt, andere nicht mit seiner Neugier belästigt, hat gute Chancen, selbst unbehelligt zu bleiben. Doch dazu bedarf es des Willens zur Mündigkeit und der Fähigkeit des Rollenspiels. Die Gefahren, die hier lauern, sind oft beschrieben worden: Irgendwann wird die Welt des Rollenspiels zur Realität, die Privatheit zum Selbstzweck und Freiheit wieder zur Illusion. Daß Sofsky angesichts dieser unlösbaren Aufgabe menschlicher Existenz auf die »Revolution der Individuen« setzt, ist eine Kapitulation vor der Antinomie der Freiheit.