Dem darf gehörig widersprochen werden. Von „dem deutschen Kino“ und einem genuin deutschen Filmgeschmack zu reden, ist natürlich denkbar schwer. Sprechen wir vom mainstream oder von der Speerspitze? Meinethalben von beidem, jedoch muß man dann immer sagen, um welche Ebene es gerade geht. Lichtmesz aber vergleicht Lachsforelle mit Fischstäbchen, wenns ihm argumentativ paßt. Was finden wir vor?
Die großen, kommerziell starken Lichtspielhäuser, jene gläsernen Cineplex- und Cinemaxx- Paläste, wählen das zur Schau gestellte nicht unter qualitativen Gesichtspunkten aus, sondern schlicht betriebswirtschaftlich. Das heißt im Normalfall fürs Wochenprogramm: Zwei Actionfilme (grundsätzlich amerikanischen Ursprungs), ein Thriller oder Horrorfilm (angelsächsischer Herkunft), einmal das Genre des Schlüpfrigen (Teenie-Erotik oder Vergleichbares), einmal was zum Totlachen, daneben Zeichentrick /Animation, ein Tierfilm, ein Melodram oder Abenteuerstreifen, gelegentlich eine indische Bollywood-Produktion oder Exotisches aus Fernost.
Globaler Geschmack im globalen Markt, also Zerstreuung via Action, Witzigkeit oder anspruchsloser Gefühligkeit, bestenfalls eingepackt in eine raffinierte Handlung: Das wäre der Massengeschmack. Der ist, alles in allem, relativ zeitlos. Der reine Unterhaltungsfilm: das ist wirklich Geschmackssache. Permissive Tendenzen hierbei, also ein Absinken der Hemmschwelle in punkto Gewalt und Sexualität, sind Oberflächen-Phänomene. Schrott ist es zu großen Teilen dennoch. Nur halt kein deutscher! Das aber bereits ist doch bemerkenswert am deutschen Film: Abgesehen vom Klamaukgenre hält man sich hierzulande weitgehend frei von Stoffen, die auf puren Affekt, auf Effekt und inhaltliche – und gewollte – Anspruchslosigkeit ausgerichtet sind.
Gemessen am Weltmaßstab hält Lichtmeß das deutsche Kino für „technisch weit unterlegen“, bezüglich seiner „Einstellungen“ für verwechselbar, inhaltlich für „prätentiös“ oder „dick aufgetragen“. Apropos „Einstellungen“: Daß, wie Lichtmeß schreibt, „eine Einstellung aus einem Film von Petzold sich genausogut in einem Film von Arslan, Schanelec oder Valeska Gisebach wiederfinden“ könnte, wäre dann relevant, wenn der Autor ebensolche „Einstellungen“ aus klein- oder mittelbudgetierten angelsächsischen Filmen mit dem jeweiligen Regisseurnamen identifizieren könnte. Dürfte schwer werden!
Die Sternstunden des deutschen Kinos des vergangenen Jahrzehnts nennt oder kennt Lichtmeß nicht (ein Großteil der Filme von Tom Tykwer, Sönke Wortmann, Fatih Akin, Dominik Graf oder zuletzt den grandiosen Im Winter ein Jahr von Caroline Link), oder sie passen nicht ins Raster der Kritik. Und wenn doch, unterstellt er ihnen Falsches. Wo wären die „intellektualisierten Zombies“ in Christian Petzolds Filmen? Weder in Yella, noch in Jerichow, um bei den hervorragenden jüngsten Produktionen Petzolds zu bleiben, haben wir Intellektuelle gesehen, sondern schlichte, verzweifelte Menschen die am Rande Deutschlands sowie ihrer eigenen Existenz einen Grund zum Überleben suchen. Inhaltsschwer und melancholisch, wie so viele Produktionen aus der sogenannten Berliner Schule – ja, das mag den deutschen Film auszeichnen. Aber warum wäre das „unauthentisch“? Einen „realistischeren Zugriff“ hält Lichtmeß ausgerechnet dem (in der Tat grandiosen) Film 1. Mai – Helden bei der Arbeit (2008) zugute: Da fußt die ganze Handlung darauf, daß einer der beiden Protagonisten gerade seine Großeltern um die Ecke gebracht hat, der pure Alltag also!
Lichtmeß beklagt einerseits das Unauthentische der deutschen Films, der nichts zu tun habe mit den Gefühlen, „mit denen sich die Deutschen so sehr plagen.“ Andererseits beklagt er die „Beschränkung auf das Private und Alltägliche“. Ja, was nun? Der deutsche Film ist nicht bombastisch. Wie sollte er auch, und warum? Ansonsten schillert er wie kaum je zuvor. Neben der haarfeinen (ja, in gewisser Weise sehr deutschen!) Innerlichkeit eines Andreas Dresen, eines Petzold und einer Link bürstet er (mit Fatih Akins Multikulti-Dramen Kurz und Schmerzlos und Gegen die Wand, mit Wortmanns Der Campus, Hans Weingartners Die fetten Jahre sind vorbei) ordentlich und feinsinnig genug gegen den Strich politischer Korrektheit, mit Wortmanns Wunder von Bern und Deutschland, ein Sommermärchen hat er gar bescheidene Nationalepen zu bieten. Oder nehmen wir allein Tykwers Filmschaffen, von Lola rennt, Der Krieger und die Kaiserin, über Heaven hin zu Das Parfum und The International: Wollte man sich Lichtmeß’ Schelteschema bedienen, könnte man diese großartigen Filme einmal mit Shrek, Fluch der Karibik oder irgendwelchen High-School-Streifen vergleichen. „Geistige Lauheit“ – nein, gerade dafür steht der anspruchsvolle deutsche Film nicht. Und deshalb darf man auf den eben uraufgeführten Lagebericht Deutschland 09 (von Tykwer, Link, Graf, Petzold u.a.) äußerst gespannt sein.
Philipp
Speziell die Filme von Petzold, wie eben Yella oder die die zwei vorhergegangen Filme der "Gespenster"-Trilogie, gehören wohl zu dem besten was der deutsche Film in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Was da sonst noch aus der Ecke der Berliner-Schule kommt, ist vielleicht nicht alles Gold, aber wo ist es das auch schon? Sieht man von diversen Fernsehproduktionen oder den ganzen sehr amerikanischen Eichinger-Produktionen etc. ab, so macht man es sich schon etwas einfach, wenn man sagt nach dem deutschen Autorenfilm, nach Herzog, Syberberg und Wenders kam sowieso nur noch Müll aus Deutschland und verkennt eben die vielen recht feinfühligen, sensiblen, eben für den Deutschen Film charakteristischen neuen Produktionen. Unter dem Gesichtspunkt betrachtet haben auch die Filme von Faith Akin etwas typisch deutsches. In diese Reihe passt auch sehr gut "Winterreise" von Hans Steinbichler, um einen bisher noch nicht genannten Regisseur zur Sprache zu bringen.