Um dem akademischen Nachwuchs dies zu erleichtern, wurde 1999 der Bologna-Prozeß in Gang gesetzt, der eine weitgehende Angleichung und Vergleichbarkeit von Studiengängen und ‑abschlussen (in 46 Ländern!) bewirken und damit die größtmögliche Mobilität künftiger Spitzenkräfte in der europäischen Bildungszone gewährleisten soll. Spätestens hier sollte unsere Nachsicht mit Schröder aber aufhören: Es ist keine Schande, nicht über »höhere Bildung « zu verfügen – auch Politiker wie Wilhelm II. oder Adenauer waren für eine solche nicht berühmt –, aber es ist eine Schande, der jungen Generation ihre Möglichkeiten zu universitärer Bildung mutwillig zu beschneiden und dies perfiderweise mit dem Ziel zu begründen, die »Bildungschancen « für alle zu erhöhen.
In den Zeiten Wilhelms II. oder Adenauers hatte auch ein Großteil derer, die nicht zur Bildungselite gehörten, durchaus noch ein gewisses Verständnis davon, was Bildung war oder sein sollte: selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung gemäß der jeweiligen Anlagen, und damit weder ein von Marktnachfrage abhängiges Spezialistentum noch ein für jeden gleiches, auswendig zu lernendes Abfragewissen. Zwar wurde bereits während des vielgeschmähten Wilhelminismus über den Verfall des klassischen Bildungsideals und das Aufkommen von Positivismus und »Berufsmenschentum« geklagt, aber zumindest die herausragenden Repräsentanten von Philosophie und Geisteswissenschaft sorgten dafür, daß die Universität als Stätte freier Bildung und Forschung noch bis ans Ende des zwanzigsten Jahrhunderts erhalten blieb.
Heute gibt es nur wenige Professoren, denen Forschung und Lehre existentielle Anliegen sind. Einer von ihnen ist der Mainzer Theologe Marius Reiser, der aus Protest gegen »Bachelorisierung « und »Modularisierung« unlängst von seinem Lehrstuhl zurücktrat und seinen außerordentlichen Schritt im Spiegel-Interview mit der »Abschaffung der Universität« und dem »Ende der akademischen Freiheit« begründete. Starke Worte – die aber merkwürdig folgenlos bleiben. Irgendwie scheint man sich an derlei gewöhnt zu haben, wenn auch die Frage des Altbundespräsidenten Roman Herzog, ob man Deutschland angesichts der schleichenden Entmachtung des Bundestages durch die EU-Behörden und der Verwischung der Gewaltenteilung überhaupt noch als Demokratie bezeichnen könne, unbeantwortet verhallt, oder wenn es anscheinend als normal empfunden wird, daß die Iren nach dem »gescheiterten« Referendum (das bei uns sowieso »undenkbar« wäre) noch einmal über den Vertrag von Lissabon abstimmen müssen.
Zwar gilt ein »Bachelor« längst als ein Schmalspur-Akademiker, dem man für eine Art Zwischenprüfung nach dem 6. Semester einen Minititel verliehen hat (und möglicherweise davon abhält, bis zum »Master« weiterzustudieren), und gewiß grollen viele von Reisers Kollegen ebenso über die weitgehende Abschaffung eines individuell ausgerichteten, an persönlichen Bildungszielen orientierten Studiums. Aber sie ballen die Faust in der Tasche, statt sich – wie Reiser ein wenig pathetisch, aber in der Sache berechtigt empfiehlt – Gandhi zum Vorbild zu nehmen. Man könnte auch auf ein etwas weniger prominentes, aber um so direkteres Vorbild Reisers verweisen: auf den Frankfurter Ordinarius Ernst Kantorowicz, der sich 1933 aus Protest gegen die »Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« beurlauben ließ und dies damit begründete, daß er als Professor »ein Bekenner« sei.