Sein Sohn Tilman hatte das damals publik gemacht. Jetzt ist das Thema wieder in fast jeder Zeitung zu finden, weil der Sohn ein Buch über die Krankheit seines Vaters geschrieben hat, das in diesen Tagen erscheint. Interesse weckt vor allem die Aussage, daß der Vater aus Scham über seine Mitgliedschaft in der NSDAP in die Demenz “geflohen” sei.
Zur Erinnerung: Im Jahre 2003 wurden erstmals zehn Millionen Karteikarten von NSDAP-Mitgliedern ausgewertet. Dabei stießen die Forscher auf das lang gehütete Geheimnis einer ganzen Generation, die sich ihre Reputation als Ankläger der Vergangenheit des deutschen Volkes verdient hatte und dabei ihre eigene Geschichte vergaß. Unter ihnen: Walter Jens, der linke Rhetorikprofessor, der 1942 19jährig in die Partei eingetreten war.
Der stritt ab, wiegelte ab, wollte sich nicht erinnern. Daraus macht der Sohn jetzt eine “Flucht in die Demenz”. Eine geschickte Interpretation, von einem medizinischen Laien. Daß keine Mißverständnisse entstehen: Demenz ist, insbesondere für die Angehörigen, eine schlimme Krankheit. Und die Parteimitgliedschaft eines 19jährigen wird problemlos aus dem historischen Kontext verständlich. Es stellt sich in diesem Fall jedoch die Frage, welchem Ziel die Spekulation über die Ursache der Krankheit dient. Keinem geringeren als der moralischen Deutungshoheit über die Krankheit. Die “Scham” als Krankheitsursache soll Jens zum Opfer seiner eigenen Redlichkeit machen.
In keinem Lehrbuch der Psychopathologie findet sich ein Hinweis darauf, daß man willentlich in die Demenz fliehen kann, so nach dem Motto: Wenn ihr mich nicht in Ruhe lassen wollt, werde ich eben dement. Damit wird Tilman Jens der Krankheit seines Vaters nicht gerecht. Wenn nach 60 Jahren der Lüge, in denen sich Walter Jens verstellen mußte, um Ankläger sein zu können, die Wahrheit ans Licht kommt, braucht es schon die stumpfe Kaltschnäuzigkeit eines Günter Grass, um davon unberührt weiterzumachen. Die hat Jens einfach nicht. Mit “Scham” hat das nichts zu tun.