Demenz und Scham

Seit knapp einem Jahr ist bekannt, daß Walter Jens seit 2004 an Demenz leidet.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Sein Sohn Til­man hat­te das damals publik gemacht. Jetzt ist das The­ma wie­der in fast jeder Zei­tung zu fin­den, weil der Sohn ein Buch über die Krank­heit sei­nes Vaters geschrie­ben hat, das in die­sen Tagen erscheint. Inter­es­se weckt vor allem die Aus­sa­ge, daß der Vater aus Scham über sei­ne Mit­glied­schaft in der NSDAP in die Demenz “geflo­hen” sei.

Zur Erin­ne­rung: Im Jah­re 2003 wur­den erst­mals zehn Mil­lio­nen Kar­tei­kar­ten von NSDAP-Mit­glie­dern aus­ge­wer­tet. Dabei stie­ßen die For­scher auf das lang gehü­te­te Geheim­nis einer gan­zen Gene­ra­ti­on, die sich ihre Repu­ta­ti­on als Anklä­ger der Ver­gan­gen­heit des deut­schen Vol­kes ver­dient hat­te und dabei ihre eige­ne Geschich­te ver­gaß. Unter ihnen: Wal­ter Jens, der lin­ke Rhe­to­rik­pro­fes­sor, der 1942 19jährig in die Par­tei ein­ge­tre­ten war.

Der stritt ab, wie­gel­te ab, woll­te sich nicht erin­nern. Dar­aus macht der Sohn jetzt eine “Flucht in die Demenz”. Eine geschick­te Inter­pre­ta­ti­on, von einem medi­zi­ni­schen Lai­en. Daß kei­ne Miß­ver­ständ­nis­se ent­ste­hen: Demenz ist, ins­be­son­de­re für die Ange­hö­ri­gen, eine schlim­me Krank­heit. Und die Par­tei­mit­glied­schaft eines 19jährigen wird pro­blem­los aus dem his­to­ri­schen Kon­text ver­ständ­lich. Es stellt sich in die­sem Fall jedoch die Fra­ge, wel­chem Ziel die Spe­ku­la­ti­on über die Ursa­che der Krank­heit dient. Kei­nem gerin­ge­ren als der mora­li­schen Deu­tungs­ho­heit über die Krank­heit. Die “Scham” als Krank­heits­ur­sa­che soll Jens zum Opfer sei­ner eige­nen Red­lich­keit machen.

In kei­nem Lehr­buch der Psy­cho­pa­tho­lo­gie fin­det sich ein Hin­weis dar­auf, daß man wil­lent­lich in die Demenz flie­hen kann, so nach dem Mot­to: Wenn ihr mich nicht in Ruhe las­sen wollt, wer­de ich eben dement. Damit wird Til­man Jens der Krank­heit sei­nes Vaters nicht gerecht. Wenn nach 60 Jah­ren der Lüge, in denen sich Wal­ter Jens ver­stel­len muß­te, um Anklä­ger sein zu kön­nen, die Wahr­heit ans Licht kommt, braucht es schon die stump­fe Kalt­schnäu­zig­keit eines Gün­ter Grass, um davon unbe­rührt wei­ter­zu­ma­chen. Die hat Jens ein­fach nicht. Mit “Scham” hat das nichts zu tun.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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