Botho Strauß ist 65

pdf der Druckfassung aus Sezession 33/Dezember 2009

von Thorsten Hinz

Von Botho Strauß, der heute fünfundsechzig wird, ist ein neues Buch erschienen: Vom Aufenthalt enthält Szenen, die ein Selbstbild des Autors nahelegen.

Im ers­ten Abschnitt ist von einem Mann die Rede, der nach vie­len Jah­ren aus der Frem­de heim­kehrt, die Rei­se aber unter­bre­chen muß, weil in sei­nem Land ein Putsch statt­ge­fun­den hat und die Gren­zen geschlos­sen sind. Nun hockt er im War­te­saal des Grenzbahnhofs.

Die weni­gen Mit­rei­sen­den sind zu jung, als daß er sie ken­nen oder von ihnen gekannt wer­den könn­te. »Das ist dann der Auf­ent­halt, er könn­te län­ger dau­ern.« Eine ande­re Pas­sa­ge han­delt vom Bot­schaf­ter eines ver­ges­se­nen Lan­des, den nie­mand mehr ein­lädt und der Ver­klä­run­gen über den ver­sun­ke­nen, zum Fabel­reich gewor­de­nen Staat ver­faßt. »Er bleibt auf sei­nem Pos­ten, der letz­te der Ver­ein­ze­lung. Nach ihm nur noch: die Minderheiten.«

Die Eigen­ar­ten des Den­kens, der Poe­tik und der öffent­li­chen Posi­ti­on des Botho Strauß sind damit ange­deu­tet: die Vor­lie­be für die Para­bel; das Wis­sen um den ver­lo­re­nen Pos­ten, das die Wahr­neh­mung um so luzi­der macht; die dia­lek­ti­sche Auf­he­bung einer Gesell­schafts­kri­tik, die insti­tu­tio­na­li­siert und dog­ma­tisch gewor­den ist und trotz­dem auf ihrem ver­meint­li­chen kri­ti­schen Poten­ti­al beharrt; das Ver­trau­en in den abge­son­der­ten Ein­zel­nen und par­al­lel dazu die Distanz zur aus­dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schaft, die im Lob­ge­sang auf die Min­der­hei­ten sich sel­ber fei­ert. Denn deren Bedeu­tung erschöpft sich längst in der Per­fek­tio­nie­rung der Inter­es­sen­ver­tre­tung, der Sub­ven­ti­ons­jagd, des Gruppendrucks.

Geschicht­li­che und deutsch­land­po­li­ti­sche Dimen­sio­nen eröff­nen sich, wenn Strauß zwei­hun­dert Sei­ten spä­ter über das Gros der DDR-Autoren schreibt: »Ver­geb­li­cher Streit um ein ver­geb­li­ches Land. Ärmel­scho­ner-Exis­tenz, geis­tig gese­hen. Gleich­wohl: Welch ein Auf­ent­halt. Welch eine Ver­samm­lung wider die Zeit! Welch ein Dila­to­ri­um!« Die Prä­zi­sie­rung des »Auf­ent­halts« als »Auf­schub« gilt auch rück­wir­kend, und der Befund, in einer gestun­de­ten Zeit zu leben, somit für den Wes­ten. Die im Kal­ten Krieg feind­lich ver­bun­de­nen Sys­te­me waren zwei For­men des Nach­kriegs­in­ter­regn­ums im geschicht­li­chen Nie­mands­land. Als die DDR ohne es zu wis­sen in den letz­ten Zügen lag, geriet Vol­ker Brauns Dra­ma Die Über­gangs­ge­sell­schaft zum Tri­umph. Die ande­re Über­gangs­ge­sell­schaft, das Gene­ral­the­ma von Strauß, dau­ert an.

Wer aus sol­cher Per­spek­ti­ve auf die Gegen­wart blickt, zieht Befrem­dung und Ver­ein­sa­mung auf sich. Immer­hin ist die Ein­gangs­sze­ne des Auf­ent­halts nicht ganz ohne Hoff­nung. Die Mög­lich­keit bleibt offen, daß die jun­gen Mit­rei­sen­den – »die viel­leicht aus sei­nem Geburts­ort stam­men« – eines Tages in ihm jenen Ein­zel­nen erken­nen und schät­zen wer­den, der die Sezes­si­on gewagt hat. Sezes­si­on bedeu­tet hier: Strauß zählt zu den weni­gen Intel­lek­tu­el­len, die als Kin­der der Bun­des­re­pu­blik auf- und sou­ve­rän über sie hin­aus­ge­wach­sen sind.

Das Geburts­jahr 1944 stellt ihn in die Gene­ra­ti­on der 68er. Das Stu­di­um der Sozio­lo­gie, Ger­ma­nis­tik, Thea­ter­ge­schich­te, der Stu­di­en­ab­bruch, die Arbeit bei der Zeit­schrift Thea­ter heu­te pas­sen in den Rah­men. Peter Steins legen­dä­re Schau­büh­ne in Ber­lin, wo Strauß seit 1970 als Dra­ma­turg wirk­te, war ursprüng­lich eben­falls von der 68er-Bewe­gung inspi­riert. Durch die Mit­spra­che der künst­le­ri­schen Mit­ar­bei­ter bei der Stück­aus­wahl und Spiel­plan­po­li­tik soll­te eine Alter­na­ti­ve zum her­kömm­li­chen Stadt­thea­ter ent­ste­hen. Poli­ti­sche Akzen­te wur­den mit Enzens­ber­gers Ver­hör von Haba­na oder mit dem Revo­lu­ti­ons­stück Opti­mis­ti­sche Tra­gö­die von Wsewo­lod Wisch­new­s­ki gesetzt. Das heißt: Der »Dich­ter der Gegen-Auf­klä­rung« (Micha­el Wies­berg) kennt das sozia­le Bio­top, die Denk­struk­tu­ren und Funk­ti­ons­wei­se der bun­des­deut­schen Auf­klä­rer-Sze­ne aus eige­ner, inti­mer Anschauung.

Das Per­so­nal sei­ner Dra­men, Roma­ne, tage­buch­ar­ti­gen Refle­xio­nen und Betrach­tun­gen sind Intel­lek­tu­el­le, Aka­de­mi­ker, Künst­ler und Stu­den­ten, die ihre Kom­ple­xe, Reiz­bar­kei­ten, Gesin­nun­gen aus­le­ben. In ihrer Beschränkt­heit kön­nen sie nicht anders, als selbst Vis­con­tis genia­le »Leopard«-Verfilmung »an ihrem eige­nen her­un­ter­de­mo­kra­ti­sier­ten, form­lo­sen Gesell­schafts­be­wußt­sein (zu) mes­sen. Dabei spürt man zugleich, wie wenig noch an Kraft, Zorn, Rich­tung hin­ter sol­chen Ent­wür­fen steckt.« (Paa­re, Pas­san­ten, 1981) Im Büh­nen­stück Tri­lo­gie des Wie­der­se­hens (1977) wer­den die ent­spre­chen­den Figu­ren durch Oxy­mo­ra bezeich­net: »Wiß­be­gie­rig gleich­gül­tig, erstaunt erschöpft, nach­denk­lich dumm.« Letz­te Men­schen halt. Die Kri­tik an der Gesell­schaft stei­gert sich von Werk zu Werk bis zum Bewußt­sein ihrer Aus­weg- und Zukunfts­lo­sig­keit. Im Büh­nen­stück Die eine und die ande­re (2004) trägt das Jus­te milieu mitt­ler­wei­le Kom­pres­si­ons­strümp­fe, zeigt sei­ne Wun­den vor, ohne sie zu begrei­fen. Die Toch­ter der »einen« läßt sich in Kunst­ak­tio­nen ver­wun­den, um in der Zom­bie­welt über­haupt mal etwas zu spü­ren. In magi­schen Momen­ten ver­wan­delt ihre Kunst sich in eine mythi­sche Figur, die aus tie­fe­ren Sphä­ren schöpft. Ihr Name: Elai­ne, ein Ana­gramm aus »Ali­en«. Soll hei­ßen: Die Erlö­sung muß von anders­wo­her kommen!

Fol­ge­rich­tig wid­me­te sich Strauß ver­stärkt der Essay­is­tik. Im Nach­wort zu Geor­ge Stei­ners Von rea­ler Gegen­wart (1990) deu­te­te er den Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus als »die nega­ti­ve Offen­ba­rung einer ver­fehl­ten, welt­li­chen Sote­rio­lo­gie: Alles falsch von Anbe­ginn!«, und er ver­mu­te­te, daß die Kon­kur­renz­lo­sig­keit der west­li­chen Welt »sich in Zukunft gegen ihr eige­nes Prin­zip« wen­den würde.

Im Febru­ar 1993 ver­öf­fent­lich­te der Spie­gel den Anschwel­len­den Bocks­ge­sang. Im ers­ten Satz gesteht Strauß sei­ne Bewun­de­rung für die Kom­ple­xi­tät der »frei­en Gesell­schaft«, um dann ihre – viel­leicht leta­le – Sys­tem­kri­se zu dia­gnos­ti­zie­ren. Als größ­te der inne­ren Gefah­ren erscheint die Schrump­fung des west­li­chen »Men­schen« zum auf­ge­klär­ten, den Mas­sen­wohl­stand vor­aus­set­zen­den »Staats­bür­ger«, der ohne kul­tu­rel­le und reli­giö­se Fer­n­erin­ne­rung dahin­däm­mert. Dem ampu­tier­ten Geschichts­be­wußt­sein ent­spricht sei­ne geschrumpf­te Vor­stel­lung künf­ti­ger Mög­lich­kei­ten. Sie schließt den Ernst­fall aus und erschöpft sich in Sozi­al­tech­nik. Bis hier­her war die Argu­men­ta­ti­on für die Öffent­lich­keit noch tole­ra­bel. Mit dem Vor­wurf aber, ein »immer rück­sichts­lo­se­rer« Libe­ra­lis­mus ver­höh­ne und demon­tie­re das »Eige­ne« – Eros, Sol­da­ten­tum, Kir­che, Auto­ri­tät, Tra­di­ti­on –, über­schritt der Dich­ter eine Front­li­nie, des­glei­chen mit der Fra­ge, wor­aus denn die »freie Gesell­schaft« im Kon­flikt mit dem »Frem­den« ihre Kraft zur Selbst­be­haup­tung noch schöp­fen wolle.

Mit dem Angriff auf die »Total­herr­schaft der Gegen­wart« schrieb er Nova­lis’ Kri­tik am »moder­nen Unglau­ben« fort. Des­sen Anhän­ger, so der Früh­ro­man­ti­ker, sei­en unab­läs­sig damit beschäf­tigt, »die Natur, den Erd­bo­den, die mensch­li­chen See­len und die Wis­sen­schaf­ten von der Poe­sie zu säu­bern, – jede Spur des Hei­li­gen zu ver­til­gen, das Andenken an alle erhe­ben­den Vor­fäl­le und Men­schen durch Sar­kas­men zu ver­lei­den« und »die Zuflucht zur Geschich­te abzuschneiden«.

Der Vor­wurf der Moder­ne- und Geist­feind­lich­keit, der des­we­gen gegen Stauß vor­ge­bracht wird, läßt sich leicht mit Ador­nos und Hork­hei­mers Fest­stel­lung wider­le­gen, daß der Mythos, gegen den die Auf­klä­rer ange­hen, ja bereits ein Stück Auf­klä­rung dar­stellt. Eine mecha­ni­sier­te Auf­klä­rung ist also »tota­li­tär«, denn je wei­ter durch sie »die magi­sche Illu­si­on ent­schwin­det, um so uner­bitt­li­cher hält Wie­der­ho­lung unter dem Titel Gesetz­lich­keit den Men­schen in jenem Kreis­lauf fest, durch des­sen Ver­ge­gen­ständ­li­chung im Natur­ge­setz er sich als frei­es Sub­jekt gesi­chert wähnt«. Im Grun­de zieht Strauß die Kon­se­quenz aus der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung, wenn er schreibt: »Der Reak­tio­när ist eben nicht der Auf­hal­ter oder unver­bes­ser­li­cher Rück­schritt­ler, zu dem ihn die poli­ti­sche Denun­zia­ti­on macht – er schrei­tet im Gegen­teil vor­an, wenn es dar­um geht, etwas Ver­ges­se­nes wie­der in die Erin­ne­rung zu bringen.«

Wäh­rend noch die Fuku­y­ma-The­se vom Ende der Geschich­te dis­ku­tiert wur­de, die der west­li­che Sieg im Kal­ten Krieg mar­kie­re, kon­sta­tier­te Strauß ange­sichts der mas­sen­haf­ten Armuts­wan­de­rung nach Deutsch­land: »Da die Geschich­te nicht auf­ge­hört hat, ihre tra­gi­schen Dis­po­si­tio­nen zu tref­fen, kann nie­mand vor­aus­se­hen, ob unse­re Gewalt­lo­sig­keit den Krieg nicht bloß auf unse­re Kin­der ver­schleppt.« Die Tumul­te vor Asy­lan­ten­hei­men und die in Brand gesetz­ten Wohn­stät­ten mus­li­mi­scher Aus­län­der, für die man Neo­na­zis ver­ant­wort­lich mach­te, sei­en der »Ter­ror des Vor­ge­fühls«. Das emble­ma­tisch hoch­ge­hal­te­ne »Deut­sche« sei die Chif­fre für die »welt­ge­schicht­li­che Tur­bu­lenz, den sphä­ri­schen Druck von Macht­lo­sig­keit«, für »Tabu­ver­let­zung und Eman­zi­pa­ti­on in spä­ter Abfol­ge und unter umge­kehr­ten Vor­zei­chen«, mit­hin ein Reflex auf den indok­tri­nier­ten »Vater­haß« und den »liber­tä­ren bis psy­cho­pa­thi­schen Anti­fa­schis­mus«. Gegen die Medi­en, die von »gut schrei­ben kön­nen­den Analpha­be­ten« beherrscht wür­den, insis­tier­te er, »daß die magi­schen Orte der Abson­de­rung, daß ein ver­spreng­tes Häuf­lein von inspi­rier­ten Nicht­ein­ver­stan­de­nen für den Erhalt des all­ge­mei­nen Ver­stän­di­gungs­sys­tems uner­läß­lich ist«.

Der Auf­satz lös­te einen Medi­ensturm aus, der sich noch stei­ger­te, als er 1994 in den Sam­mel­band Die selbst­be­wuß­te Nati­on auf­ge­nom­men wur­de, den kon­ser­va­ti­ve Publi­zis­ten, His­to­ri­ker und Jour­na­lis­ten ver­öf­fent­lich­ten. Der Sozio­lo­ge Ste­fan Breu­er, der sich mit der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on beschäf­tig­te, sah Botho Strauß durch »ver­zer­ren­de Effek­te eines gestör­ten und dadurch patho­ge­nen Nar­ziß­mus«, durch »qua­si­re­li­giö­se und sek­ten­för­mi­ge Züge« bestimmt. Der Spie­gel setz­te über ein Foto des Schrift­stel­lers die sug­ges­ti­ve Über­schrift »Lehr­meis­ter des Has­ses«, ohne aller­dings im Text auf die Tot­schlag­zei­le zurück­zu­kom­men. Im media­len Auf­ruhr spie­gel­ten sich die his­to­ri­schen, poli­ti­schen, geis­tig-kul­tu­rel­len Beson­der­hei­ten der Bun­des­re­pu­blik wider, die am auf­fäl­ligs­ten und lau­tes­ten von einem Intel­lek­tu­el­len- und Schrift­stel­ler­ty­pus reprä­sen­tiert wer­den, der ab Ende der fünf­zi­ger Jah­re domi­nier­te und – zumin­des­tens insti­tu­tio­nell – bis heu­te dominiert.

Für Wal­ter Jens, der als Schrift­stel­ler, Kri­ti­ker, Lite­ra­tur­pro­fes­sor, Mit­glied der »Grup­pe 47« und Aka­de­mie­prä­si­dent über gro­ßen Ein­fluß im Kul­tur­be­trieb ver­füg­te, war als Intel­lek­tu­el­ler nur einer denk­bar, der sich in die Tra­di­tio­nen der Auf­klä­rung und der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on stell­te. Als Pro­to­ty­pen mach­te er Hein­rich Hei­ne sowie Rosa Luxem­burg, Hein­rich Mann und Carl von Ossietz­ky nam­haft. Auf Hein­rich Hei­ne bezog sich auch Jür­gen Haber­mas. Die­sen habe an den Früh­ro­man­ti­kern das sozia­le Pro­test­po­ten­ti­al inter­es­siert, Kunst und Wis­sen­schaft sei­en für ihn auto­nom, aber nicht eso­te­risch gewe­sen; daher habe er kei­ne Scheu gehabt, gezielt in die poli­ti­sche Wil­lens­bil­dung ein­zu­grei­fen. Erst in der Bun­des­re­pu­blik habe sein intel­lek­tu­el­les Selbst­ver­ständ­nis sich durch­set­zen kön­nen, weil »1945« eine »geschicht­li­che Distanz« erzwun­gen und ein »refle­xiv gebro­che­nes Ver­hält­nis zu den iden­ti­täts­bil­den­den Über­lie­fe­run­gen und geis­ti­gen For­ma­tio­nen« mit sich gebracht habe. Wäh­rend Hei­nes Zeit­ge­nos­sen noch ein empha­ti­sches Ver­hält­nis zur deut­schen Nati­on pfleg­ten, erkann­te der jüdi­sche Emi­grant aus der Distanz sei­nes Pari­ser Exils »das Mons­trö­se und das Unheim­li­che«, das »auch in unse­ren bes­ten, den unver­lier­ba­ren Tra­di­tio­nen« brü­te­te. – Schär­fer konn­te die Front­stel­lung gegen das »Eige­ne«, auf das Strauß sich berief, nicht sein.

Laut Arnold Geh­len betrie­ben Intel­lek­tu­el­le vom Zuschnitt Hei­nes ledig­lich die radi­ka­le gesin­nungs­ethi­sche Zuspit­zung der Poli­tik, um sie nach den Maß­stä­ben der Fami­li­en­mo­ral neu zu erfin­den. Das Indi­vi­du­um unmit­tel­bar zur Mensch­heit in Bezie­hung zu set­zen und die Staats­na­ti­on als Zwi­schen­in­stanz aus­zu­schal­ten, bedeu­te­te die Zer­stö­rung des poli­ti­schen Den­kens, wie sie nur in defi­ni­tiv besieg­ten Län­dern mög­lich war. Die Links-Intel­lek­tu­el­len betrie­ben dem­nach die Inver­si­on, Ästhe­ti­sie­rung und geschichts­phi­lo­so­phi­sche Über­hö­hung der deut­schen Grund­tat­sa­che nach dem Zwei­ten Welt­krieg – durch­aus im Ein­ver­ständ­nis mit der Mehr­heit der Bür­ger. Denn die­se fühl­ten eine schwe­re poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung von ihren Schul­tern genom­men, zwei­tens war der poli­ti­sche Dis­pens mit Mas­sen­wohl­stand ver­bun­den. Von den gebro­che­nen Auto­ri­tä­ten des Staa­tes gab es kaum Gegen­wehr, die anti­fa­schis­tisch auf­ge­la­de­ne Kri­tik an ihnen blieb gefahr­los und ver­hieß gesell­schaft­li­chen und sozia­len Auf­stieg. Und wenn den Künst­lern und Intel­lek­tu­el­len dabei die »hoch­sen­si­ble, dif­fe­ren­zier­te Kul­ti­viert­heit, wie sie bei Proust oder Musil vor­ge­führt wur­de« (A. Geh­len), abhan­den kam, konn­te dies sogar zur kul­tur­re­vo­lu­tio­nä­ren und antie­li­tä­ren Eman­zi­pa­ti­on umge­wer­tet werden.

Hel­mut Schelsky füg­te hin­zu, die Intel­lek­tu­el­len sei­en in die Funk­ti­on von »Sinn­pro­du­zen­ten« gerückt, die mit einer Syn­the­se aus Sozio­lo­gie, Psy­cho­lo­gie und Wis­sens­theo­rie und dank ihrer Mono­pol­stel­lung im Bildungs‑, Öffent­lich­keits- und Infor­ma­ti­ons­be­trieb eine »Pries­ter­herr­schaft« errich­tet hät­ten, um der Gesell­schaft einen theo­lo­gi­schen Weg vom »See­len­heil zum Sozi­al­heil« zu wei­sen. Die­se neu­en Pries­ter muß­ten sich von Strauß bloß­ge­stellt und in Fra­ge gestellt füh­len: »Es zie­hen aber Kon­flik­te her­auf, die sich nicht mehr öko­no­misch befrie­den las­sen; bei denen es eine nach­tei­li­ge Rol­le spie­len könn­te, daß der rei­che West­eu­ro­pä­er sozu­sa­gen auch sitt­lich über sei­ne Ver­hält­nis­se gelebt hat, da hier das Mach­ba­re am wenigs­ten an eine Gren­ze stieß.«

Strauß hat kei­nen der Befun­de zurück­ge­nom­men, son­dern sie ver­schärft. Zum 11. Sep­tem­ber 2001 schrieb er: »Die Blind­heit der Glau­bens­krie­ger und die meta­phy­si­sche Blind­heit der west­li­chen Intel­li­genz schei­nen ein­an­der auf ver­häng­nis­vol­le Wei­se zu bedin­gen.« 2006 reflek­tier­te er im Auf­satz »Der Kon­flikt« offen über eine Zukunft, in der die christ­li­chen Auto­chtho­nen bzw. ihre säku­la­ri­sier­ten Nach­fah­ren in Euro­pa nur noch eine Min­der­heit bil­de­ten, was von den Intel­lek­tu­el­len in ihrer »auf­rich­ti­gen Ver­wir­rung« gar nicht begrif­fen wür­de. Die »Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten« kon­sti­tu­ier­ten in Wahr­heit eine »Vor­be­rei­tungs­ge­sell­schaft«. Als Auf­for­de­rung an die Euro­pä­er näm­lich, sich auf vor­staat­li­che und ‑gesell­schaft­li­che Gemein­schaft­lich­keit und auf euro­päi­sche Tugen­den: Dif­fe­ren­zie­rungs- und Refle­xi­ons­ver­mö­gen, an Kunst geschul­tem Schön­heits­ver­lan­gen, Sen­si­bi­li­tät, zu besin­nen und ihnen in der »geist­lo­sen« Gegen­wart des Wes­tens neue Gel­tung zu ver­schaf­fen. Er sieht uns in eine Ent­schei­dungs­si­tua­ti­on gestellt. Die Zeit der »neu­en Unüber­sicht­lich­keit« (Jür­gen Haber­mas) sei jeden­falls zu Ende: »Wir haben sie hin­ter uns. Es war eine schwa­che Zeit.« Wie kein ande­rer hat Botho Strauß die Innen­sei­te die­ser Schwä­che beschrieben.

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