Karfreitag

Wie die meisten modernen Menschen, sofern diese Dinge sie noch bekümmern, vermag ich dem Neuen Testament bis zum Karfreitag zu folgen, ...

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

… nicht aber bis zum Oster­sonn­tag. Mir scheint, daß in den Got­tes­diens­ten und Mes­sen heu­te zuwe­nig und zu ober­fläch­lich vom Kar­frei­tag gespro­chen und lie­ber eilig der schnel­le Weg zum Oster­sonn­tag ein­ge­schla­gen wird. Aber wie kann man den Sinn der Auf­er­ste­hung ohne die Kreu­zi­gung begreifen?

Und wor­in sonst soll sich die Gegen­wart wie­der­erken­nen, wenn nicht im Kar­frei­tag, in der Offen­ba­rung Johan­nis und in der Kla­ge des Pau­lus von Tar­sus: Ich elen­der Mensch, wer wird mich erlö­sen vom Lei­be die­ses Todes? Sofern sie sich die­sen Din­gen nicht stellt, wer­den ihr auch die Freu­de und die Frei­heit des Chris­ten­men­schen ver­wehrt blei­ben. So will es zumin­dest die christ­li­che Lehre.

Heu­te nagt an uns aller­dings der Zwei­fel (wenn er sich nicht schon durch­ge­bis­sen hat!), ob am Ende der Sack­gas­se unse­rer Exis­tenz tat­säch­lich die Gna­de war­tet, ob es nicht doch bes­ser ist, vor der Erkennt­nis Pas­cals so lan­ge und so gründ­lich wie mög­lich die Augen zu verschließen:

Der letz­te Akt ist blu­tig, so schön die Komö­die auch in allem übri­gen sein mag. Schließ­lich wirft man uns Erde aufs Haupt, und das für immer.

Das durch­aus freud­lo­se und unfreie zeit­ge­nös­si­sche Kir­chen­volk, gewöhnt an ein Well­ness-Chris­ten­tum, das nie­man­dem weh­tun, nie­man­den ver­är­gern, nie­man­den mehr in der gan­zen See­le, in der Schöp­fung, Schuld und Süh­ne hau­sen, ergrei­fen und erschüt­tern will, zieht es vor, die­se Din­ge zu ver­ges­sen, blin­zelt wie Nietz­sches letz­ter Mensch und meint, es habe das Glück erfun­den.  Die Got­tes­häu­ser wer­den heu­te bes­ten­falls als zivil­re­li­giö­se Erbau­ungs­an­stal­ten oder Muse­en wahr­ge­nom­men, tat­säch­lich aber sind sie zu den “Grab­mä­lern Got­tes” gewor­den, in die zuneh­mends die Hyä­nen und die Wöl­fe eindringen.

Zum Kar­frei­tag also Aus­zü­ge aus drei klas­si­schen Dich­tun­gen, aus der Feder von Men­schen unse­rer Zeit. Alle drei stel­len boh­ren­de Fra­gen, von denen Leben oder Tod abhän­gen, aber nur einer wagt es, eine Ant­wort zu geben, viel­leicht der ein­zi­ge, der aus der Zukunft zu uns spricht.

»Ich bin ver­pflich­tet, mei­nen Unglau­ben an den Tag zu legen,« fuhr Kiril­low, im Zim­mer auf und ab gehend, fort. »Es gibt für mich nichts Höhe­res als den Gedan­ken, daß es kei­nen Gott gibt. Für mich spricht die gan­ze Welt­ge­schich­te. Der Mensch hat sich Gott nur aus­ge­dacht, um leben zu kön­nen, ohne sich zu töten; dar­auf beruht die gan­ze Welt­ge­schich­te bis auf den heu­ti­gen Tag. Ich bin in der Welt­ge­schich­te der ers­te und ein­zi­ge, der sich Gott nicht hat aus­den­ken wol­len. Mögen die Men­schen das ein für alle­mal erfahren.«

»Er wird sich nicht erschie­ßen,« dach­te Peter Ste­pano­witsch beunruhigt.

»Wer soll es denn erfah­ren?« frag­te er, um ihn auf­zu­het­zen. »Hier ist wei­ter nie­mand als ich und Sie. Soll es etwa Lipu­tin erfahren?«

»Alle sol­len es erfah­ren; alle wer­den es erfah­ren … Es gibt nichts Gehei­mes, das nicht offen­bar wer­den wird. Das hat Er gesagt.«

Er wies in fie­ber­haf­ter Eksta­se nach dem Bil­de des Erlö­sers, vor dem ein Lämp­chen brann­te. Peter Ste­pano­witsch wur­de ganz wütend.

»An Ihn glau­ben Sie also immer noch und haben ein Lämp­chen ange­zün­det; wohl ›für alle Fälle‹?«

Der ande­re schwieg.

»Wis­sen Sie was? Mei­ner Ansicht nach glau­ben Sie womög­lich noch fes­ter als ein Pope.«

»An wen? An Ihn? Hören Sie,« sag­te Kiril­low, indem er ste­hen blieb und mit einem star­ren, ver­zück­ten Bli­cke vor sich hin sah. »Hören Sie einen gro­ßen Gedan­ken: es war auf der Erde ein Tag, und mit­ten auf der Erde stan­den drei Kreu­ze. Einer der Gekreu­zig­ten glaub­te so fest, daß er zu einem der andern sag­te: ›Heu­te wirst du mit mir im Para­die­se sein.‹ Der Tag ging zu Ende, bei­de star­ben, gin­gen hin und fan­den weder ein Para­dies noch eine Auf­er­ste­hung. Was der eine gesagt hat­te, bewahr­hei­te­te sich nicht. Hören Sie: die­ser Mensch war der höchs­te auf der gan­zen Erde; er stell­te das Ziel dar, zu des­sen Errei­chung sie leben soll­te. Der gan­ze Pla­net, mit allem, was auf ihm ist, ist ohne die­sen Men­schen nur ein Wahn­sinn. Weder vor Ihm noch nach Ihm hat es einen eben­sol­chen Men­schen gege­ben; er war gera­de­zu ein Wun­der. Das Wun­der besteht eben dar­in, daß es einen eben­sol­chen nie gege­ben hat und nie geben wird.

Wenn dem aber so ist, wenn die Natur­ge­set­ze nicht ein­mal mit Ihm Mit­leid gehabt, ihr eige­nes Wun­der­werk nicht geschont, son­dern auch Ihn gezwun­gen haben, inmit­ten der Unwahr­heit zu leben und für eine Unwahr­heit zu ster­ben, dann ist der gan­ze Pla­net Unwahr­heit und beruht auf Unwahr­heit und dum­mer Ver­höh­nung. Mit­hin sind die Geset­ze des Pla­ne­ten selbst Unwahr­heit und eine vom Teu­fel erson­ne­ne Komö­die. Wozu soll man also leben? Ant­wor­ten Sie, wenn Sie ein Mensch sind!«

FJODOR DOSTOJEWSKIJ, Die Dämonen

 

Habt ihr nicht von jenem tol­len Men­schen gehört, der am hel­len Vor­mit­tag eine Later­ne anzün­de­te, auf den Markt lief und unauf­hör­lich schrie: “Ich suche Gott! Ich suche Gott!”
Da dort gera­de vie­le von denen zusam­men­stan­den, wel­che nicht an Gott glaub­ten, so erreg­te er ein gro­ßes Gelächter.
Ist er denn ver­lo­ren­ge­gan­gen? sag­te der eine. Hat er sich ver­lau­fen wie ein Kind? sag­te der andere.
Oder hält er sich ver­steckt? Fürch­tet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegan­gen? aus­ge­wan­dert? – so schrien und lach­ten sie durcheinander.

Der tol­le Mensch sprang mit­ten unter sie und durch­bohr­te sie mit sei­nen Blicken.

“Wohin ist Gott?” rief er, “ich will es euch sagen!
Wir haben ihn getö­tet – ihr und ich!
Wir sind sei­ne Mör­der! Aber wie haben wir das gemacht?
Wie ver­moch­ten wir das Meer auszutrinken?
Wer gab uns den Schwamm, um den gan­zen Hori­zont wegzuwischen?
Was taten wir, als wir die­se Erde von ihrer Son­ne los­ket­te­ten? Wohin bewegt sie sich nun?

Wohin bewe­gen wir uns?
Fort von allen Sonnen?
Stür­zen wir nicht fortwährend?
Und rück­wärts, seit­wärts, vor­wärts, nach allen Seiten?
Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unend­li­ches Nichts?
Haucht uns nicht der lee­re Raum an?
Ist es nicht käl­ter geworden?
Kommt nicht immer­fort die Nacht und mehr Nacht?

Müs­sen nicht Later­nen am Vor­mit­tag ange­zün­det werden?
Hören wir noch nichts von dem Lärm der Toten­grä­ber, wel­che Gott begraben?
Rie­chen wir noch nichts von der gött­li­chen Ver­we­sung? – auch Göt­ter verwesen!
Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!
Wie trös­ten wir uns, die Mör­der aller Mörder?

Das Hei­ligs­te und Mäch­tigs­te, was die Welt bis­her besaß, es ist unter unsern Mes­sern ver­blu­tet – wer wischt dies Blut von uns ab?
Mit wel­chem Was­ser könn­ten wir uns reinigen?
Wel­che Süh­ne­fei­ern, wel­che hei­li­gen Spie­le wer­den wir erfin­den müssen?
Ist nicht die Grö­ße die­ser Tat zu groß für uns?
Müs­sen wir nicht sel­ber zu Göt­tern wer­den, um nur ihrer wür­dig zu erscheinen?
Es gab nie eine grö­ße­re Tat – und wer nun immer nach uns gebo­ren wird, gehört um die­ser Tat wil­len in eine höhe­re Geschich­te, als alle Geschich­te bis­her war!”

Hier schwieg der tol­le Mensch und sah wie­der sei­ne Zuhö­rer an: auch sie schwie­gen und blick­ten befrem­det auf ihn. End­lich warf er sei­ne Later­ne auf den Boden, dass sie in Stü­cke sprang und erlosch. “Ich kom­me zu früh”, sag­te er dann, “ich bin noch nicht an der Zeit.

Dies unge­heu­re Ereig­nis ist noch unter­wegs und wan­dert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Men­schen gedrun­gen. Blitz und Don­ner brau­chen Zeit, das Licht der Gestir­ne braucht Zeit, Taten brau­chen Zeit, auch nach­dem sie getan sind, um gese­hen und gehört zu wer­den. Die­se Tat ist ihnen immer noch fer­ner als die ferns­ten Gestir­ne – und doch haben sie die­sel­be getan!” – Man erzählt noch, dass der tol­le Mensch des­sel­bi­gen Tages in ver­schie­de­nen Kir­chen ein­ge­drun­gen sei und dar­in sein Requi­em aeter­nam deo ange­stimmt habe. Hin­aus­ge­führt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies ent­geg­net: “Was sind denn die­se Kir­chen noch, wenn sie nicht die Grä­ber und die Grab­mä­ler Got­tes sind?”

FRIEDRICH NIETZSCHE, Die fröh­li­che Wissenschaft

 

Wenn aber stirbt alsdenn
An dem am meisten
Die Schön­heit hing, daß an der Gestalt
Ein Wun­der war und die Himm­li­schen gedeutet
Auf ihn, und wenn, ein Rät­sel ewig füreinander
Sie sich nicht fas­sen können
Ein­an­der, die zusammenlebten
Im Gedächt­nis, und nicht den Sand nur oder
Die Wei­den es hin­weg­nimmt und die Tempel
Ergreift, wenn die Ehre
Des Halb­gotts und der Seinen
Ver­weht und sel­ber sein Angesicht
Der Höchs­te wendet
Dar­ob, daß nir­gend ein
Unsterb­li­ches mehr am Him­mel zu sehn ist oder
Auf grü­ner Erde, was ist dies?

Es ist der Wurf des Säe­manns, wenn er faßt
Mit der Schau­fel den Weizen,
Und wirft, dem Kla­ren zu, ihn schwin­gend über die Tenne.

FRIEDRICH HÖLDERLIN, Patmos

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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