Gleich nach dem Kriege hatte der Historiker Gerhard Ritter zu den sich schon abzeichnenden Kuriosa künftiger Zeithistorie mahnend Stellung bezogen. In seiner Studie Europa und die deutsche Frage (1948) befürwortete er nachdrücklich eine vergleichende Nationalgeschichte und stellte Deutschlands in Zentraleuropa so exponierte Lage – welche ständige »Wachsamkeit und Anspannung aller Kräfte« erforderlich machte – der »insularen splendid isolation« der Briten gegenüber. Ritter fragte vergleichend, wie sich denn Nationalismus und Imperialismus bei unseren europäischen Nachbarn geäußert hätten, und er tadelte Kollegen, welche der Sieger Untaten stets verkleinerten oder gar tabuisierten, hingegen Otto von Bismarck Umerziehung halber in des Führers Ahnenreihe unterbrachten. Einer seiner Leitsätze lautete: »… es gehört zur Pflicht der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit auch dies: daß man jede geschichtliche Erscheinung aus den Voraussetzungen ihrer eigenen Zeit und Umwelt versteht und beurteilt.« Dergleichen Formulierung atmete das Wissenschaftsethos des geschmähten Historismus und den Geist Leopold von Rankes, dessen historiographische Maxime hier nicht unerwähnt bleiben soll: »… allein zur Verteidigung derjenigen, die sich nicht mehr verteidigen können, die Wahrheit ans Licht zu bringen, werde ich immer für eine der wichtigsten Pflichten der Historie halten.«
Ritter hat dieser Haltung in seinem vierbändigen Klassiker Staatskunst und Kriegshandwerk Ausdruck gegeben. Doch trug ihm gerade dies das Odium seiner »Umstrittenheit« ein, so daß die Heutigen sich seiner nur mehr durch Totschweigen erinnern. Ritter war es auch, der in den sechziger Jahren Fritz Fischers berüchtigte antideutsche Polemik Griff nach der Weltmacht (1961), mit welcher der neue Stil einer Historie in nationalmasochistischer Absicht zum Durchbruch kam, nachdrücklich und begründet, aber weil gegen den Ungeist der Zeit gerichtet erfolglos, in die Schranken gefordert hatte. Dem Sonderwegsfetischismus der Zeithistorie blieb dessen ausgeprägtes Streben nach Objektivität herzlich zuwider, und so heimste sich Ritter, »brauner Verstrickung« verdächtigt, seitens gewisser Zunftgenossen noch postum Eselstritte ein.
Pragmatische Nationen handhaben ihre Irr- und Sonderwege ganz anders: die einen mit einem flapsigen right or wrong – my country! – sie haben fällige Untaten für ihr Vateroder Mutterland stets mit Bravour geleistet, ihre Kriege waren immer gerechte namens des Fortschritts, namens des Rechts der »kleinen Völker« oder der Menschenrechte wegen, oder schlicht aus Gründen der Balance of power. Paris erließ für erbrachte Frevel Amnestien, und kein Makel befleckt die Gloire der Grande Nation. Die Polen haben ohnehin nie etwas verbrochen, und andere wiederum erlitten Gewalt immer nur als die Opfer einschlägiger »Täter«. Im Bunde mit dem Weltenlenker und von Skrupeln unangefochten, gerieren sich die Vereinigten Staaten: Über Gods own country weht unbekümmert das Banner einer missionarischen Democracy, und für die Fülle der ex urbe condita begangenen Greuel hat noch keiner sie je vor ein Tribunal gezerrt.
Welchem Eroberer läge nicht daran, seinen Sieg durch die fortwährende Exorzisierung des Besiegten als eines Erzschurken für alle Zeiten abgesichert zu sehen? Klugheit sollte das eigentlich durchschauen, wußten doch des Frundsbergs Landsknechte schon: »Wer übrig bleibt, hat recht, und wer verliert, ist schlecht.« Nachdem obendrein das Nürnberger Militärtribunal die Geschichte der Deutschen als einen abartigen »Sonderweg « geächtet hatte, stand die fortan den Siegern und ihren Trabanten zum Zwecke der Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung zu beliebiger Disposition. Und stets zählen sich zu den Siegern auch die Nutznießer des jeweils neu installierten Systems, weshalb sich also die Deutschen daran haben gewöhnen müssen, sich für »befreit« zu halten.
Auch wenn der gnadenlose Umgang der Deutschen mit sich selbst im Kalkül der Nationen als Joker im Spiel gilt, die Psychologie lehrt, solchem Partner zu mißtrauen. Auch halten Beobachter des Auslands die servil-beflissene Selbstverleugnung der Deutschen eher für krankhaft als für beruhigend. Nicht von ungefähr schrieb vor Jahren der schweizerische Literaturwissenschaftler Adolf Muschg (1982) unseren seinsvergessenen Landsleuten unter dem Thema »Wenn ich Deutscher wäre …« ins Stammbuch: »Würde ich die Aufgabe der Nation dadurch für gelöst halten, daß ich die Nation aufgebe? Es ist eines, glaube ich, die Quittung der Geschichte zu unterschreiben als ehrlicher Schuldner. Es ist ein anderes, zugleich aus der eigenen Geschichte auszutreten. Es ist eines, daß die eigene Nation nie mehr das Letzte sein darf. Darf sie darum nie das Selbstverständliche sein?«
Solche Auffassung übersteigt aber den Horizont der zur Niederhaltung der deutschen Nation bestellten und erbötigen Zeithistorie und einer Bonn-Berliner Politik, die überdies jahrzehntelang den Eindruck zu erwecken suchte, die Wiedervereinigung der zur »deutschen Frage« zerstückelten Nation sei ein Anliegen, ja sei sogar die Pflicht der Siegermächte, nur weil diese bisweilen dafür »die Verantwortung« zu haben heuchelten.
Die Geschichte hat sie schließlich alle eingeholt – Sieger und Besiegte, auch wenn letztere sich das Leben aus zweiter Hand längst zur politischen Quintessenz gemacht hatten und die Erlösung von ihren eingebildeten nationalen Übeln in der »Einbindung« und Flucht nach »Europa« suchten. Mit der »Wende« forderte des deutschen Volkes nationaler Imperativ – »Wir sind das Volk!« – das Regime zu eigenständigem Handeln heraus: zu dem von ihm so verabscheuten Alleingang, nämlich namens eines den Deutschen bisher immer vorenthaltenen Selbstbestimmungsrechtes die Vereinigung zweier Teile des einstigen Reiches zu wagen.
Zu einem ähnlichen Alleingang hätten sich nun auch die Zeithistoriker gegenüber der ihnen abverlangten Politpädagogik und damit zur Rehistorisierung der deutschen Geschichte ermutigt sehen müssen. Doch die hielten sich beflissen an die Parole, an die Anfang der achtziger Jahre im Institut für Zeitgeschichte wieder einmal erinnert worden war: »Gibt man die These eines ›deutschen Sonderwegs‹ auf oder relativiert man sie, so bricht man dem deutschen politischen Bewußtsein nach 1945 das Rückgrat.« Allein diese These gäbe die Kraft zum »Festhalten an der moralischen Umkehr«.
Die insofern vorformulierten politpädagogischen Axiome beinhalten notwendigerweise, daß die Zeithistorie von einer komparativen, also einer vergleichenden Geschichtsschreibung die Finger zu lassen habe: »Besonders wir Deutsche dürfen nicht aufrechnen« geschweige denn vergleichen. Denn die Beteiligung aller an den ausschließlich dem Besiegten vorgeworfenen Verbrechen setzte womöglich einen Revisionismus in Gang, der den Euphemismus der »Nachkriegsordnung« aus den Angeln höbe. So haben wir es denn »Hitler«, doch mehr noch dem unendlichen Gerede der ihm zur Unsterblichkeit verholfen habenden Zeithistoriker zu verdanken, daß die Geschichte der Deutschen in ihren historisch überschaubaren Bereichen zu einem pathologischen »Sonderweg« diskriminiert worden ist. Seien doch – nach geltendem Kanon – künftige Irrwege nur durch beständiges moralisches Einwirken – sie nennen es »Erinnerungskultur« – zu unterbinden, zur Aufrechterhaltung von Scham und einem permanent schlechten Gewissen.
Dazu hatten sich schon einige Nonkonformisten der Zunft wie Ernst Nolte und Hellmut Diwald kritisch geäußert, Caspar von Schrenck-Notzing hatte längst seine Charakterwäsche (1965) geschrieben, und Bernard Willms erklärte entschieden: »Es zeugt geradezu von denkerischem Schwachsinn, sich zu vergangener Geschichte zu verhalten, als müsse man dafür oder dagegen sein, als sei vergangene Geschichte Gegenstand moralischer Bekenntnisse. Zur Geschichte verhält man sich nicht moralisch, das ist eine Perversion auch der Moral, die, wenn überhaupt, direktiven oder regulativen, niemals aber einen reprospektiven Sinn hat … Geschichte selbst zum Gegenstand von Parteilichkeit zu machen … ist genau das totalitäre Verhältnis, das sich in Orwells 1984 darin zeigt, daß Geschichte ständig umgeschrieben werden muß.« – Man hört es ungern, aber eben solches heißt: Umerziehung. So wird man also auf eine neuerliche Aufklärung, auf die Revision längst überständiger Legenden, Klitterungen, Fälschungen, volkspädagogischer Ideologeme und moralisierender Begrifflichkeiten weiterhin warten müssen.
Als man 1945 vom sogenannten Jahr Null aus, auch der Neuanfang der deutschen Geschichte genannt, die Vergangenheit unter bestimmten moralischen Prämissen zu »bewältigen« anhob, da verkürzte sich der Zeithistorie die deutsche Geschichte als Ganze zu einem durchaus schreckenerregenden Pandämonium. Sie glaubte bald als deren einzige Lichtblicke die leider! fast immer gescheiterten Revolutionen mit ihren nicht recht zum Zuge gekommenen Kleineleute-Ressentiments linker Provenienz ausmachen zu müssen, was dann die Zunft auf den damals so modischen Holzweg einer »kritischen« Historischen Sozialwissenschaft führte. Diese stellte dann – bis in die simpelsten Verlautbarungen des homo oeconomicus verfolgt – ihrerseits einen historiographischen Sonderweg als den Gipfel an Trostlosigkeit dar. Doch ausgerechnet einer der Protagonisten dieser Richtung, Geschichte aus der Froschperspektive zu schreiben (Hans-Ulrich Wehler), bemerkte eines Tages mit Erschrecken: »Diese Expansion der ›Sozialwissenschaften‹ auf Kosten der Geschichte ist ein krasser Fehlgriff«.
Aus diesen und aus anderen Gründen, wie beispielsweise alle Vorbilder entmythologisierend dem Gedächtnis zu entfremden, wird hierzulande eine Geschichte als durch große Männer gestaltet, auch für gänzlich verpönt gehalten. Es wundert deshalb keinen, daß mit einer auf das unterste Niveau ihres Gestaltungstriebes reduzierten Historie kein Deutscher mehr für die Dinge der Nation zu begeistern ist, geschweige denn daß ein Gymnasiast zur Identität seiner selbst mit Volk, Staat und Geschichte fände. Überhaupt zeugt das Lamento, die Deutschen hätten sich vor Zeiten von den für »universal« gepriesenen Ideen der Demokratie abgesondert (welche man als in der »westlichen Wertegemeinschaft« schlechterdings für mustergültig verwirklicht wähnt), von mangelnder Übung in komparativer Geschichtsbetrachtung. Ist doch eine Verfassung, die für das eine Volk recht sein mag, für Völker unter anderen Himmeln schwerlich gleichermaßen billig. Zudem nimmt die Lebenskurve jeden autochthonen Volkes als dessen ureigene Geschichte ihren je eigenen Verlauf. Deshalb gibt es auch keine immanente Verpflichtung, sich um »westlicher Werte« willen dem Fetisch einer zweifelhaften »Zivilgesellschaft « zu unterwerfen. Intellektuell gesehen erweist sich darum die Sonderwegsdoktrin mit den aus ihr abgeleiteten Derivaten zur »nationalpädagogischen Zerknirschung« als ähnlich verwerflich wie der einstige Antisemitismus der Nationalsozialisten.
Man erinnert sich noch des Intermezzos des sogenannten Historikerstreits in der Bundesrepublik der achtziger Jahre – als des uneingestandenen Versuchs, die westdeutsche Geschichtsschreibung zu rehistorisieren. Das hätte dem Sonderwegssyndrom über kurz oder lang den Garaus gemacht und die deutsche Geschichte aus ihrer bisherigen Klitterung wieder in die Logik ihrer kausalen Abfolge gebracht haben müssen. Doch das Vorhaben fiel bald den Knüppeln der Denunzianten und den Bütteln gesinnungsethischer Maximierungen Frankfurter Couleur – Stichwort: Habermas – zum Opfer, und am Ende war man wieder bei dem Refrain, deutsche Hybris zu beklagen und mit verbissenerer Intensität die Unverjährbarkeit und Singularität deutscher Schuld zu beschwören.
Die Zeithistoriker ließen es nämlich gänzlich an einer vergleichenden Nationalgeschichte, die auch die Komplotte und »Zivilisationsbrüche« der sogenannten Völkergemeinschaft bei der Erzeugung und Durchführung zweier Weltbürgerkriege durchforstet hätte, fehlen. Vielmehr folgten sie dem Diktat Du-sollst-nicht-aufrechnen! Sollst-nicht-relativieren! und beließen es beflissen und vielfach wider besseres Wissen bei dem unter ihnen zum Konsens gewordenen Mea maxima culpa! – Jedenfalls sieht sich die Geschichte der Deutschen auch nach 65 Jahren noch unentwegt vor die Inquisitionstribunale der Zeithistorie und diverser Nebenkläger gezerrt, und die gingen neben der Abrechnung mit dem Nationalsozialismus gleich auch zur Ahnenverfolgung über. Lebenshilfe hat jedenfalls die Zeithistorie dem deutschen Volk in der schwersten Zeit seines Daseins keinen Deut gegeben. Im Gegenteil: sie machte sich mit dem Segen der politischen Klasse und unter wohlwollender Obhut der Sieger zum Büttel einer »nationalen Sterbehilfe « (Dietrich Aigner). Denn unwidersprochen ließ sie sich in den Dienst solcher Mächte stellen, denen am Erhalt und an der Identität unseres Volkes nicht das Geringste gelegen ist und die es nach Kräften befeinden.
Obwohl sich das von den Zeithistorikern sekundierte System der Bundesrepublik flugs auf die Ideologie der Sieger und die Metaphorik des von ihnen umschwärmten westlichen Modells eingeschworen hatte, ist man mittlerweile nolens volens genötigt festzustellen, daß die wütende Negativierung der Nationalgeschichte einer mit dem neuen deutschen Gutmenschen zu beglückenden Menschheit keineswegs den Weltfrieden beschert hat. Nur sich selbst hat man durch die Hypertrophierung weltfremder Moralien aus der Geschichte eskamotiert und läßt sich zu Knechtsdiensten an den fernen Hindukusch und sonstwohin delegieren. Somit gilt: Mit den Menschenrechten und der deutschen Schuld als den Ikonen republikanischer Staatsraison ausgestattet, bleibt der Nation für den Rest ihrer Zeitlichkeit nur mehr die Büßerrolle inmitten der im übrigen recht unverhohlen gehandhabten machiavellistischen Aktivitäten anderer. Denn längst sind die Deutschen dazu abgerichtet, daß ihr Wollen lediglich eines aus zweiter Hand zu sein habe, sei es an eines Weltregimes langer Leine oder gemäß dem Diktat eines anonymen Brüsseler Molochs oder sonstiger Dritter immer »entsetzter« Aufpasser und Mahner. Denn gemäß der Sprachregelung deutscher Regime und dementsprechender Weisungen an ihre Zeithistoriker sollen wir nämlich »unsere Niederlage als das heilsamste Ereignis für uns selbst und die Sieger als unsere größten Wohltäter segnen «! So jedenfalls höhnte Johann Gottlieb Fichte Napoleons beflissene charakterlose deutsche Parteigänger in seinen berühmten Reden an die deutsche Nation. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang der Befreiungsschalmeien, welche vor Jahren (1985) ein Bundespräsident seinen darob staunenden Landsleuten andiente.
Wohl konnte, um die Katastrophe von 1945 zu überleben, es zweckmäßig gewesen sein, zeitweilig unter die Wasseroberfläche der Geschichte zu tauchen. Zeitweilig! Wenn aber »die Süßigkeit des Dienens«, wie Fichte auch sagt, zu langjähriger Gewohnheit wird, und wenn fremder Völker Anspruch auf deutschen Boden und die Hunderter von »Minderheiten« auf deutschem Boden für höherwertig gehalten sind als die Lebens- und Überlebensinteressen des eigenen Volkes, dann werden Seinsverlust und Charakterlosigkeit unumkehrbar. Und das geriete dann unter maßgeblicher Beihilfe durch die Zeithistorie zum eigentlichen Finis Germaniae.
Und so läßt sich aus allem hier Gesagten ableiten: Mit der Aufhebung der Legende des »deutschen Sonderwegs« als eines so »einzigartig« verwerflichen unter den Völkern schlüge die Stunde eines deutschen Imperativs zur Wiederherstellung der Freiheit der Nation!