George-Metastasen

pdf der Druckfassung aus Sezession 33 / Dezember 2009

von Baal Müller

Vergangene Größe zu beschreiben ist Sache des Künstlers, während der Historiker mehr Erfolg bei der Darstellung des Verfalls hat. Der Künstler, der den Blick für das Wesentliche besitzt, wird stets das aus der Zeit hinausragende Außerordentliche darstellen, das Gültige sozusagen; der Historiker hingegen tut sich schwer mit dem Inkommensurablen: Noch so viele Entstehungsgründe mag er anführen, es bleibt der Eindruck, daß sich das Eigentliche stets entziehe.

Die lan­ge Zeit der Auf­lö­sung hin­ge­gen, wenn die aus­ein­an­der­stre­ben­den Kräf­te nicht mehr für einen Augen­blick in schöp­fe­ri­scher Faust zusam­men­ge­ballt wer­den, ist die Domä­ne des His­to­ri­kers. Das Zer­rin­nen­de zieht selbst schon die Fur­chen, denen der deu­ten­de Fin­ger nach­fol­gen kann; die Ver­selb­stän­di­gung des Mate­ri­als von sei­ner Form ermög­licht Zer­glie­de­rung, Ver­gleich, Auf­samm­lung und Neu­ord­nung, und an den auch im Zer­fall sich vor­über­ge­hend bil­den­den neu­en For­men von Kunst oder Poli­tik wird das Zeit­be­ding­te leich­ter erklär­bar: Am Tages­schrift­stel­ler oder Durch­schnitts­po­li­ti­ker läßt sich das »Wesen« einer Epo­che bes­ser erken­nen als an dem, der sei­ne Zeit über­steigt und jede Epo­che zu immer neu­en Deu­tun­gen her­aus­for­dert. Ver­falls­zei­ten sind inter­es­san­ter als die »schö­nen« Augen­bli­cke der Fülle.
Über­le­gun­gen die­ser Art könn­ten Ulrich Raulff bewo­gen haben, nach all den in den letz­ten Jah­ren fast modisch gewor­de­nen Dar­stel­lun­gen des Geor­ge­krei­ses eine umfang­rei­che Unter­su­chung über »Ste­fan Geor­ges Nach­le­ben« vor­zu­le­gen. Sein Kreis ohne Meis­ter (Mün­chen: C.H. Beck 2009. 544 S., 29.90 €) zeigt den Direk­tor des deut­schen Lite­ra­tur­ar­chivs Mar­bach als aus­ge­zeich­ne­ten Ken­ner sei­ner Mate­rie, der den Bio­gra­phien zahl­rei­cher bekann­ter und unbe­kann­ter Gestal­ten, die oft eher an der Peri­phe­rie des Krei­ses ange­sie­delt waren, ihren Gemein­schafts­bil­dun­gen und Wir­kun­gen bis in unse­re Tage nach­spürt. Sei­ne Spra­che ist unprä­ten­ti­ös und unter­halt­sam, so daß man ihm eine gele­gent­li­che Flap­sig­keit ger­ne nach­sieht; die Fül­le des aus­ge­brei­te­ten Mate­ri­als ist so beein­dru­ckend, daß man über die bei der­ar­ti­gen Arbei­ten unver­meid­li­chen Pro­ble­me der Aus­wahl hinwegsieht.
Jedoch stol­pert man über Raulffs Begriff des Kunst­werks. Drei davon habe Geor­ge nach Ansicht des Ver­fas­sers sei­ner »pos­tu­men Bio­gra­phie « vor allem geschaf­fen: ers­tens sei­ne Lyrik, zwei­tens sei­nen Kreis und des­sen Sub­krei­se, »ein unge­heu­res Mobi­le aus Men­schen, Bil­dern und Ideen«, und drit­tens als »Meis­ter­werk der Dekom­po­si­ti­on « den »Zer­fall die­ses Krei­ses, der sich frei­lich in Abwe­sen­heit des Urhe­bers und gegen des­sen Inten­ti­on vollzog«.
Es gibt gro­ße Bei­spie­le der Welt­ge­schich­te für die Kunst des Ster­bens – Jesus und Sokra­tes sind wohl an ers­ter Stel­le zu nen­nen –, aber kann man auch von einer »Kunst des Tot­seins« spre­chen? Allen­falls dann, wenn man eine Kunst­be­tä­ti­gung ande­rer Künst­ler am Toten meint, etwa des Pau­lus an Jesus oder des Pla­ton an Sokra­tes. Raulffs Buch, das er selbst als Essay bezeich­net und damit in die Mit­te zwi­schen Kunst und Wis­sen­schaft setzt, zeigt indes, daß sol­ches Ver­mö­gen den Geor­geanern, bei allem Wil­len, das meis­ter­li­che Erbe zu pfle­gen, gründ­lich abging. Ent­spre­chend ist sein Buch auch kei­ne »Gespens­ter­ge­schich­te für Erwach­se­ne« (Aby War­burg), son­dern eine gro­ße, wenn­gleich unge­wöhn­lich gut les­ba­re Mate­ri­al­samm­lung gewor­den, die mit inter­es­san­ten Befun­den im Detail auf­war­tet, nicht aber deut­lich machen kann, war­um gera­de der Zer­fall des Geor­ge­krei­ses sein Kunst­werk gewe­sen sein soll.
»Du spürst in allen / nur eine Lust: in Hoheit zu ver­fal­len«, heißt es in Rolf Schil­lings Gedicht »Die Mes­sing­stadt« – hier aber, in den von Raulff so bezeich­ne­ten »Meta­sta­sen« des sich auf­lö­sen­den Krei­ses ist von sol­cher Lust wenig zu bemer­ken. Ein Toter kann eben doch kein Künst­ler mehr sein, und sei­ne Nach­fol­ger waren ent­we­der kei­ne Künst­ler, oder sie gin­gen als sol­che ande­re Wege. Meta­sta­sen sind kei­ne pro­duk­ti­ven Bil­dun­gen, und rei­ne Entro­pie­zu­nah­me ist das Gegen­teil von Kunst. Viel­leicht ist es aber sym­pto­ma­tisch für unse­re Zeit, daß man gera­de die Deka­denz zur eigent­li­chen Erschei­nungs­form der Kunst erklä­ren möchte.

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