Wer über Vergangenes berichten möchte, muß genau beobachten, die Beobachtungen redlich deuten und die Erkenntnisse in Relation zu anderen Perspektiven stellen. Auch für den literarischen Erzähler mit historischem Anspruch sollten diese drei Regeln gelten. Schließlich beansprucht er doch zu schreiben, wie es hätte geschehen können.
Beobachten, deuten, relativieren: Mit diesem auf das Schreiben übertragenen wissenschaftlichen Kodex ist die literarische Verfahrensweise Marcel Beyers markiert. Sein Roman über den berühmten Ornithologen Ludwig Kaltenburg kommt ohne das Klischee aus. Er bedient die Erwartungshaltung seiner Leser nach klaren Rastern nicht und darf als Gegenstück zu jener sensationsheischenden Beschäftigung mit der Vergangenheit gelten, die der junge Franzose Jonathan Littell im vergangenen Jahr zu seinem Erfolgsrezept machte – wie so viele vor ihm. An solcherlei pflegen sich Feuilletonisten abzuarbeiten.
An Kaltenburg kann man sich nicht abarbeiten. Die Geschichte beginnt im Warthegau und endet in Dresden. Dazwischen wird ein Forscherleben nachgezeichnet. Der gebürtige Wiener Kaltenburg tritt erstmals in Posen in Erscheinung, verschwindet dann als Gefangenenarzt in sibirischen Lagern und bleibt nach der Entlassung in Dresden, um im Villenviertel Loschwitz eine Forschungsanstalt für Ornithologie aufzubauen.
Kaltenburg ist charismatisch, erfolgreich, misanthrop, rätselhaft. Der Leser wird in ihm Konrad Lorenz wiedererkennen: Neben den Initialen teilen fiktive und historische Figur Geburts- und Sterbejahr, die Professur in Königsberg und lange Jahre sowjetischer Kriegsgefangenschaft. »Kaltenburg« stammt wie Lorenz aus Wien und kann nach dem Krieg in Österreich aufgrund seiner NS-Vergangenheit keine Professur antreten. Beide gründen ein Institut und stiften die Grundlagen der Verhaltensforschung, die Romanfigur in der DDR, Lorenz ab 1950 in Westfalen. Vergleichende Verhaltensforschung: Beyers Roman ist vergleichendes und abgleichendes Schreiben, wobei dies vor allem den Verzicht auf das Grelle, den Effekt bedeutet. Wer genau beobachtet, deutet und vergleicht, kann unmöglich Gut und Böse verteilen, schwarz und weiß malen, richten und freisprechen. Gelebt werden muß immer, das ist schon die ganze Weisheit.
Und so verbergen sich hinter dem Projekt-Künstler Martin Spengler und dem Tierfilmer Knut Sieverding zwei Berühmtheiten, die als Deutsche im Kriege und damit – so billig ist das heute – auf der falschen Seite gedient haben: der Bordschütze Joseph Beuys und sein Ausbilder Heinz Sielmann. Jeder dieser Männer hat viel erlebt, hat handeln müssen, hat leben, kämpfen, ja überleben müssen. Aber das wird nicht klar erzählt, ausgeleuchtet, vor ein Publikum gezerrt. Beyer insistiert nicht, sondern deutet an, und wenn sich der Leser sicher wähnt, daß nun die Bewältigungsflut losbricht, versickert der Bericht. Wie es um eine Figur steht, ist dann nur an ihrem Verhalten ablesbar, und selbst hier nur für den, der vergleichend blicken und redlich deuten kann – wie Lorenz, wie Kaltenburg, wie Beyer.
Nur einmal wird es richtig grell. Da berichtet Kaltenburgs Schüler Funk, der Erzähler des Romans, daß nach den Angriffswellen der alliierten Bombergeschwader auf Dresden eine Horde Affen aus dem brennenden Zoo in den Großen Garten geflohen sei. Vögel fallen federlos aus der glühenden Luft, und die Menschen stehen auf den Wiesen zwischen den Leichen und wissen nichts mehr zu tun. Aber dann sammeln sie die Toten ein, und Funk berichtet: »Nichts wissen die Schimpansen von der Identifizierung verstorbener Angehöriger, nichts von den Toten, die man in eine Reihe im Gras bettet, und nichts davon, wie man einen Leichnam an Schultern und Füßen greift, um ihn zu seinesgleichen zu tragen. Und dennoch schließt sich ein Affe nach dem anderen dieser Arbeit an.«
Ist das so geschehen? Wir wissen es nicht, jedenfalls: Es hätte so gewesen sein können. Beyer läßt Funk im ersten Kapitel diese apokalyptische Szene berichten, weil in ihr eine grundsätzliche Angst seines Erzählers gründet: die Auflösung des Gewohnten im Extremfall, die Verwischung der Grenze zwischen Mensch und Tier, die traumatische Grundierung eines Lebens. Funk verlor im Bombardement seine Eltern. An diesem Schock des Verlusts hat er sein Leben auszurichten. Dorther rührt seine Urform der Angst, und auch damit ist er wissenschaftlich bestens aufgehoben bei Kaltenburg: »Urformen der Angst« nennt Beyer das im Roman beinahe mythisch aufgeladene Hauptwerk Kaltenburgs.
Ist Angst eine arterhaltende Kraft? Konrad Lorenz schrieb in seinem Werk über Das sogenannte Böse der Aggression diese Eigenschaft zu. Wie Lorenz überträgt Kaltenburg die aus der Tierbeobachtung gewonnenen Erkenntnisse auf das menschliche Verhalten und verbindet sie zu einer Konstanten des menschlichen Antriebs vor jeder Geschichte.
In solch großen Deutungsversuchen gründet der Ernst des Lebens und des Erzählens: Das individuelle Verhalten ist nicht mehr launisch oder eine kokette Mode. Es gibt vielmehr in Abschattierungen immer Auskunft darüber, welche Angst (oder bei Lorenz: welche Aggression) den Beobachteten treibt.
Marcel Beyer: Kaltenburg, Roman, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 393 S., 19.80 € – hier bestellen