Erfüllungspolitiker waren andere auch. Der Grund, warum die Wahl ausgerechnet auf Rathenau fiel, war weniger antisemitischen Motiven als der besonderen Rolle, die Rathenau seit dem Ersten Weltkrieg spielte, geschuldet. Hinzu kam eine gewisse Faszination, die Rathenau ausstrahlte. Deshalb erhält Salomon die Anweisung, nicht so viel von ihm zu lesen: »Das macht Dich nur weich!« In vielem, was sie umtrieb, dürften seine Mörder sich in seinen Schriften wiedererkannt haben. Etwa in der unbedingten Forderung nach »echter Autorität « und der Feststellung, daß es auch in der mechanisierten Welt auf Seele, Persönlichkeit, Charakter ankomme. So wie Rathenaus Tod stellvertretend für etwas war, das er nur symbolisierte, so verlief auch sein Leben in diesem Sinne.
Lothar Gall will den Rathenau-Biographien nicht einfach eine weitere anfügen, sondern anhand der Person Rathenaus eine Epoche beschreiben. Er sieht in Rathenau quasi den »Mann ohne Eigenschaften«, der die Sehnsüchte und Gedanken seiner Epoche spiegelt. Nicht Rathenau hat demnach der Epoche seinen Stempel aufgedrückt, sondern umgekehrt. Die These hat etwas für sich: Rathenau ist nie der Originelle, der Prägende, der Erste. Sein Vater baut die AEG auf. Er selbst würde lieber Künstler werden, studiert dann aber doch Maschinenbau, ohne sich dort besonders hervorzutun. Bei einigen Aufgaben in der Firma bewährt er sich mäßig und sitzt später in zahlreichen Aufsichtsräten. Den Kampf um den AEG-Vorstandsvorsitz verliert er nach dem Tod des Vaters gegen Felix Deutsch. Bekannt wird er immerhin durch seine kulturkritischen Schriften, angefangen mit dem Aufsatz »Höre, Israel« bis zu dem erfolgreichen Buch Von kommenden Dingen. Doch Anerkennung erringt er erst, als er die deutsche Rohstoffversorgung im Ersten Weltkrieg organisiert. Deshalb ist Rathenau durchaus typisch für eine Epoche, die Effizienz mit Kulturkritik zu verbinden wußte.
(Lothar Gall: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München: C.H. Beck 2009. 298 S., 22.90 €)