Schienen oder an Tagebaugruben betreuen geistliche Seelsorger vereint mit Psychologen und Sozialpädagogen die Davongekommenen und die Angehörigen. Gibt es dafür Lehrgänge, oder sind Pfarrer von Amts wegen in der Lage, jedem auf die ihm gemäße Art beizustehen? Der evangelische Pfarrer in Dieter Wellershoffs Roman steht ohne Zusatzausbildung bei, als er nächtlich zu einem Unfall gerufen wird: Ein Auto ist vom Weg abgekommen, Gattin und Kind sind ertrunken, während sich der Mann mit einem Sprung aus der Fahrertür retten konnte.
Jetzt steht ihm der Seelsorger bei und weiß nicht, ob er ihn anfassen, trösten oder über die schreckliche Wirklichkeit unterrichten soll. Der Pastor macht von allem ein wenig, nur sein ureigenes Handwerkszeug, das Gebet, steht ihm nicht zur Verfügung: Es ist ihm zu formelhaft in dieser Situation. So unterscheidet sich der Geistliche in dieser Nacht in nichts vom profanen Berufsfürsorger; der Himmel scheint für ihn kein Ort zu sein, an dem sich in solcher Grenzsituation Halt finden ließe. Dieses Dilemma (oder: dieser Offenbarungseid) ist das Thema des Romans: Er ist eine Zustandsbeschreibung der sich selbst unsicheren Kirche und eines ihrer sich redlich mühenden Vertreter. Die Unfähigkeit, ein festgefügtes Glaubensgebäude zu bewohnen, strahlt auf die Wortwechsel und Lebensentscheidungen des jungen Pastors aus. Während er seinen Beistandsauftrag fortzusetzen versucht, muß er immer wieder die plausible Version des Unfall-Hergangs zugunsten einer neuen, differenzierteren, nicht festgefügten Perspektive aufgeben. Weil er sich seine Unvoreingenommenheit nicht nehmen lassen möchte, steht er bald in offenem Gegensatz zur vermögenden, kirchennahen und von einem Mord überzeugten Sippe der ertrunkenen Frau, die an der Komplexität der Vorgeschichte kein Interesse hat. Wo wäre Halt zu finden? Bei einem Freund und dessen Frau, zu deren Hochzeitstag er eingeladen ist und deren Eheglück an diesem Abend auf ihn ausstrahlt, obwohl er um die Brüchigkeit auch dieser Bindung weiß?
Wellershoffs unbehauster Pfarrer lebt ziemlich kraftlos im noch immer uneingerichteten Pfarrhaus: »Für seine Wohnung im ersten Stock hatte er ausrangierte Möbel seines Vorgängers übernommen und sie mit wenigen eigenen Möbeln zusammengestellt.« Dieses stilunsichere Sammelsurium paßt nicht zum Selbstanspruch »seiner Studienkollegen, die sich gerne als eine Generation von Neuerern verstanden hätten, aber natürlich wußten, daß vor Ort in den Gemeinden viele fortschrittliche Neuerungen und Aktivitäten auf sie warteten, so daß nicht mehr viel Spielraum für weitere Projekte blieb.« Die Kirche als »florierender Betrieb« in Konkurrenz mit anderen florierenden Betrieben, in denen man ein altruistisches Bedürfnis und zivilgesellschaftliches Engagement ausleben kann. Es gibt, neben einer hilflosen Briefliebe, eine theoretische Verdichtung gegen Ende des Romans: Der Pastor besucht einen Kongreß, der sich mit der Rolle der Kirche in einer säkularen Welt beschäftigen soll. Als der Veranstaltungsleiter in seiner Rede davon spricht, daß man »die Seelsorge kritischen multiperspektivischen Ansichten ihrer selbst auszusetzen« vorhabe, ist klar, daß die Teilnehmer keine Stärkung im Glauben, sondern seine Infragestellung zu erwarten haben. So kommt es auch, verdichtet in einem Wortwechsel zwischen einem »multiperspektivischen « Generalisten (»Das Urchristentum und das der Kreuzzüge und unser sozialpädagogisches Christentum unterscheiden sich gewaltig«) und einem Theologen der alten Schule (»Aber die Kraft eines wahren Gedankens setzt sich unter wechselnden historischen Bedingungen immer wieder durch«). Der junge Pastor verläßt den Kongreß nach einem halben Tag. Der Himmel ist kein Ort ist kein hämisches Buch. Es zeichnet einen Autor von vornherein aus, wenn er sich nicht über seinen Betrachtungsgegenstand lächerlich macht, obwohl es naheliegt.
(Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort Roman, Köln: KiWi 2009. 300 S., 19.95 €)
Der junge Österreicher Kaiser-Mühlecker hat auch hier (Heft 24/2008) für seinen Debütroman Der lange Gang über die Stationen viel Lob erhalten. Sein zweites Buch enttäuscht: Ein junger Mann kommt nicht recht los vom elterlichen Hof und deshalb nie wirklich woanders an. Sein Bruder ist konsequenter und geht endgültig, um nach einigen Jahren in Wien von einer Straßenbahn überrollt zu werden. Ihm wird nachgetrauert. Derweil macht sich eine Laptop-Besitzerin in der Wohnung breit, es gibt Schnaps, es wird viel geschwiegen, und dann geht die Frau wieder. Das ist ein postpubertäres Herumgesitze vor einem leeren »Quartheft«, ein Herumgeschweige in Gesellschaft. Ja nun, möchte man sagen, der Kerl braucht seine Heimat. Die ist dort, wo man sich nicht erklären muß und schweigen darf. Im Wirtshaus etwa: »Es war, wie es immer gewesen war. Ab und zu fiel ein Name, der in mir klang. Niemand fragte mich etwas.« Vermutlich ist Magdalenaberg ein Roman darüber, daß man sich für einen Ort entscheiden muß, um der Vorläufigkeit zu entkommen – ein Heimatroman also. Aber diese Zuordnung macht ihn leider nicht besser.
(Reinhard Kaiser-Mühlecker: Magdalenaberg. Roman, Hamburg: Hoffmann und Campe 2009. 224 S., 20 €)