Der „Kulturelle Relativismus” wird irritierenderweise von Anhängern ganz entgegengesetzter Weltanschauungen vertreten: von Linken genauso wie von Rechten, von den Verteidigern der Ausgestoßenen und Geächteten wie von revolutionären Nationalisten, von den Verfechtern des Multikulturalismus wie von denen des Ethnopluralismus, von der UNO ebenso wie von asiatischen Diktatoren, die gegen die Menschenrechte ihre eigenen „Werte” setzen. Um in dieser Unübersichtlichkeit eine gewisse Ordnung zu schaffen, sollte man der Frage nachgehen, warum der „Kulturelle Relativismus” überhaupt eine solche Bedeutung erlangen konnte. Dazu sei auf ein Buch verwiesen, das vor vierzig Jahren zum ersten Mal veröffentlicht wurde, aber das Problem so gründlich behandelt und klug analysiert, daß es bis heute aktuell ist und seine Neuauflage nur begrüßt werden kann. Es handelt sich um die 1968 als Habilitationsschrift von der FU Berlin angenommene Arbeit Der Kulturelle Relativismus von Wolfgang Rudolph (Forschungen zur Ethnologie und Sozialpsychologie, Bd 6, Berlin: Duncker & Humblot 2008. kart, 291 S., 52.00 €).
Gewidmet hatte Rudolph seine Untersuchung Franz Boas (1858–1942), den er als Zentralfigur des „Kulturellen Relativismus” behandelt. Das, obwohl Boas keine Theorie im eigentlichen Sinn geschaffen hat, sondern seine Grundannahmen in Auseinandersetzung mit jenen Völkerkundlern und Anthropologen entwickelte, die sich an der Evolutionslehre orientierten. Diese Schule hatte am Ende des 19. Jahrhunderts großen Einfluß auf die amerikanische oder allgemeiner die angelsächsische Forschung, was Boas Widerspruch herausforderte, der einer deutsch-jüdischen Familie entstammte, in Deutschland studiert hatte und nachhaltig von Ideen der Romantik und des Idealismus beeinflußt wurde. Im Grunde wandelte Boas das Konzept des „Volksgeistes” ab und verknüpfte es mit einer Art Hermeneutik der Kulturen, die deren Ganzheit und deren Eigenwert von vornherein anerkennen, aber vor einer reinen, letztlich fruchtlosen, Beschreibung des Anderen bewahren sollte. In einem Brief an einen Freund umriß Boas seine Vorstellung: „Keinem von uns ist es gegeben sich frei zu machen von dem Bann, in den das Leben ihn geschlagen. Wir denken, fühlen und handeln getreu der Überlieferung, in der wir leben. Das einzige Mittel uns zu befreien ist die Versenkung in ein neues Leben und Verständnis für ein Denken, ein Fühlen, ein Handeln, das nicht auf dem Boden unserer Zivilisation erwachsen ist, sondern seine Quellen in anderen Kulturschichten hat.”
Es lag nur in der Logik seines Konzepts, daß Boas der Annahme eines unendlichen „Fortschritts” ablehnend gegenüberstand. Was daraus mit gewisser Zwangsläufigkeit folgte, war die Kritik der zeitgenössischen Ethnologie und verwandter Disziplinen, sofern sie sich mit „Wilden” oder „Halbzivilisierten” unter dem Gesichtspunkt beschäftigten, das diese auf der Stufenleiter der menschlichen Entwicklung (noch) nicht vorangekommen seien. Boas Adepten weiteten diese Kritik zu einer grundsätzlichen am Kolonialismus und aller Ideen von der Überlegenheit der weißen Kultur aus.
Bis in die Zwischenkriegszeit gewann der Ansatz von Boas zwar Unterstützung, aber von allgemeiner Anerkennung konnte keine Rede sein. Wie so oft in der Wissenschaftsgeschichte kam auch hier dem „Paradigmenwechsel” (Thomas S. Kuhn) ein gesellschaftlicher Prozeß zu Hilfe, der mit der Wissenschaft eigentlich gar nichts zu tun hatte. Boas entfaltete jedenfalls in den zwanziger und dreißiger Jahren – mitbedingt durch seine jüdische Herkunft – eine heftige Agitation nicht nur gegen die NSIdeologie, sondern gegen jede Behauptung, daß die Biologie für die Anthropologie eine ausschlaggebende Rolle spiele. Das brachte ihm mächtige Verbündete ein, aber den Enthusiasmus der Öffentlichkeit weckten erst die Bücher seiner Schülerinnen Ruth Benedict und Margaret Mead, die den Nachweis zu führen glaubten, daß es keine natürlichen Unterschiede zwischen den Menschengruppen und ‑individuen gebe, daß grundsätzlich auch eine ganz andere als die europäische Form der Zivilisation möglich sei, die sich noch dazu als friedlicher, lustvoller und sozialer darstelle. Wer demgegenüber auf der Anschauung beharrte, daß die Kulturen schon wegen rassischer Differenzen und der biologischen Seite der Geschlechtlichkeit und dann aufgrund von Ausleseprozessen, die darwinistischen Regeln folgten, von verschiedener Qualität seien, sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, Auffassungen zu vertreten, die faktisch denen des ideologischen Hauptfeinds der westlichen Welt beziehungsweise ihrer tonangebenden Intelligenz entsprachen.
Nach dessen Niederwerfung standen die Konzepte der Boas-Schule auf dem Lehrplan der amerikanischen reeducation, dienten der „Milieu-Theorie” als Argumentationsbasis und fanden außerdem Eingang in die UNO-Doktrin. Das war insofern überraschend, als der Kulturelle Relativismus eigentlich der Annahme universaler Werte widersprach. Rudolph sah diesen Mangel an Logik, schloß sich aber trotzdem Boas an und ergänzte dessen Konzept um die Geltung jener Patterns of Culture – Konfigurationen, die das Wesen einer Kultur ausmachen -, die deren Funktionstüchtigkeit gewährleisten. Das ist nicht ganz befriedigend, aber man wird anerkennen müssen, daß Rudolphs Parteinahme ausdrücklich gegen den „ideologisch-emotionalen ‚Anti-Rassismus‘” wie den „Anti-Biologismus” gerichtet war, der die Forschungen von Benedict und Mead kennzeichnete. Hätte er schon 1968 wissen können, auf welchen Wegen die ebenso einflußreichen wie abwegigen Thesen der Mead zustande kamen, wäre seine Kritik an diesem Punkt sicher noch schärfer ausgefallen.
Man kann an der Wirkungsgeschichte der Boas-Schule einmal mehr erkennen, wie kompliziert der Weg der Ideen verläuft und wie stark die Umstände auf ihre Entfaltung, oder um genau zu sein: die Entfaltung bestimmter Aspekte, Einfluß nehmen. Dem Ursprung nach ein konservatives, die Verschiedenheit und Ganzheit der Kulturen betonendes Konzept, hat der „Kulturelle Relativismus” sich letztlich als revolutionäres, die Uniformierung und Globalisierung stützendes Ideologem entpuppt.