Postdemokratie

pdf der Druckfassung aus Sezession 25/August 2008

sez_nr_251von Karlheinz Weißmann

„Postdemokratie" ist mittlerweile als Begriff so geläufig, daß ein entsprechender Artikel in Wikipedia existiert. Es häufen sich die Analysen, die vom Beginn eines neuen „post-", also „nachdemokratischen" Zeitalters ausgehen. Sollten sie zutreffen, dann wird die Vorstellung von der segensreichen Herrschaft des Volkes nach zwei Jahrhunderten abgelöst, und es tritt eine andere Art von Legitimitätsglauben an deren Stelle.


Selbst­ver­ständ­lich hat es immer Ein­wän­de gegen die Demo­kra­tie gege­ben, sol­che die seit der Anti­ke und sol­che, die seit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on vor­ge­tra­gen wur­den – „Bar­ba­rei der Zahl” (Gon­court), „zusam­men­ge­zähl­te Nul­len” (Nietz­sche), die Stim­me des Bür­gers als „Kar­tof­fel in einem Kar­tof­fel­sack” (Marx) -, und dann sol­che, die man erst ange­sichts der Ent­ste­hung von Mas­sen­staa­ten äußer­te. Aber noch die gro­ßen tota­li­tä­ren Bewe­gun­gen sahen sich gezwun­gen, nach außen „demo­kra­tisch” auf­zu­tre­ten, und das­sel­be gilt für die Fun­da­men­ta­lis­men und für die Mehr­zahl der Dik­ta­tu­ren Asi­ens, Afri­kas und Latein­ame­ri­kas. Kei­ne Beru­fung auf Tra­di­ti­on oder Reli­gi­on konn­te im 20. Jahr­hun­dert leis­ten, was die Beru­fung auf den demos, das Volk, zu leis­ten ver­moch­te, und nach dem Kol­laps des sowje­ti­schen Sys­tems schien es tat­säch­lich so, als gebe es gar kei­nen Ein­wand mehr gegen die uni­ver­sa­le Gel­tung des demo­kra­ti­schen Prinzips.
Dabei wur­de über­se­hen, daß des­sen Anzie­hungs­kraft ganz wesent­lich mit dem wirt­schaft­li­chen Erfolg des Wes­tens und den inak­zep­ta­blen Ver­hält­nis­sen im Ost­block zusam­men­hing. Die „feind­lo­se Demo­kra­tie” (Ulrich Beck), die nach dem Ende des Kal­ten Krie­ges ent­stand, muß­te ihre Legi­ti­mi­tät aus eige­ner Kraft bewei­sen, und das fiel ihr schwer. Der fran­zö­si­sche Autor Pas­cal Bruck­ner schrieb schon 1990: „Wir sind … in eine Epo­che der demo­kra­ti­schen Melan­cho­lie ein­ge­tre­ten, denn in unser Gefühl des Tri­um­phes mischt sich der Ver­dacht, etwas ver­lo­ren zu haben: den Antrieb, uns und ande­ren die Demo­kra­tie zu wün­schen, denn künf­tig wird sie nur von weni­gen ange­foch­ten. Mit ande­ren Wor­ten, da nie­mand dage­gen ist, fehlt uns fast gänz­lich die Kraft, dafür zu sein. Zwar haben wir das unbe­stimm­te Gefühl, die gan­ze Arbeit lie­ge noch vor uns, doch sind wir wil­len­los, da uns kein Geg­ner moti­viert. Die gro­ßen Schlach­ten sind geschla­gen, doch ist unse­re Voll­kom­men­heit dem Tode nahe.”
Bruck­ner gehör­te zu jener Lin­ken, die sehr früh und sehr klar gese­hen hat, daß nach dem Ende der Block­kon­fron­ta­ti­on Glo­ba­li­sie­rung und Neo­li­be­ra­lis­mus Rah­men­be­din­gun­gen schu­fen, die mit den übli­chen Metho­den poli­ti­scher Kon­trol­le nicht zu bän­di­gen waren, daß der Bedeu­tungs­ver­lust der Natio­nal­staa­ten und der Bedeu­tungs­zu­wachs inter­na­tio­na­ler Kon­zer­ne zur Ent­ste­hung von Macht­bal­lun­gen neu­er Qua­li­tät führ­te, die jen­seits des bekann­ten Rah­mens lagen. Wenn man es bei Bruck­ner zum Teil mit dem satt­sam bekann­ten anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Affekt zu tun hat, so wird man die­ser Kri­tik doch ein gewis­ses Maß an Hell­sich­tig­keit nicht abstrei­ten kön­nen. Das ist in bezug auf die vor­ge­schla­ge­nen Alter­na­ti­ven aber nicht zu behaup­ten. Denn der Gedan­ke, dem Pro­blem sei durch eine wei­ter­ge­hen­de Demo­kra­ti­sie­rung zu begeg­nen, ver­kennt die prin­zi­pi­el­len Schwie­rig­kei­ten, und die seit den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren gemach­ten Erfah­run­gen spre­chen dafür, daß „mehr Demo­kra­tie wagen” vor allem die Zer­mür­bung der Mit­be­stim­mungs­be­reit­schaft und das Über­grei­fen von Inkom­pe­tenz im Namen der „Betrof­fe­nen” zur Fol­ge hat.

Daß die alten Rezep­te nicht hel­fen, hat sich auch sonst her­um­ge­spro­chen. Das ist etwa dem gera­de erschie­ne­nen Buch des ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik­wis­sen­schaft­lers Colin Crouch über Post­de­mo­kra­tie zu ent­neh­men, das im Grun­de nur das Dilem­ma beschreibt und die Beschrei­bung mit einem Plä­doy­er für mehr Bür­ger­nä­he ver­knüpft, aber kei­ne uto­pi­schen Ent­wür­fe einer basis­de­mo­kra­ti­schen Welt­re­pu­blik ent­hält. Crouchs Posi­ti­on nähert sich der lin­ken Mit­te an, wo der Ton sowie­so weni­ger alar­mie­rend ist, eher nüch­tern ange­sichts der Sach­zwän­ge oder erfreut wegen der kom­for­ta­blen Stel­lung, in der man die Trans­for­ma­ti­on beob­ach­tet. Zu den Vor­den­kern die­ser Rich­tung gehört der Fran­zo­se Jean-Marie Gué­hen­no, der Anfang der neun­zi­ger Jah­re zuerst die Auf­fas­sung ver­trat, daß nicht das „Ende der Geschich­te” und die fina­le Durch­set­zung von Frei­heit und Kapi­ta­lis­mus bevor­stün­den, son­dern das „Ende der Demo­kra­tie”. Wir befän­den uns – so Gué­hen­no – in einer Pha­se des Über­gangs, weg von der Epo­che der Natio­nal­staa­ten, hin zu neu­en impe­ria­len Bil­dun­gen. Das Zukunfts­sze­na­rio blieb in vie­lem dif­fus, auf Andeu­tun­gen beschränkt, zeich­ne­te sich aber doch durch die Vor­stel­lung aus, daß für die Bewäl­ti­gung der Kri­se kein Rück­griff auf die Ver­gan­gen­heit mög­lich sei. Weder las­se sich der alte Glau­ben restau­rie­ren, noch die alte Poli­tik. Die Geschich­te bie­te kei­ne Model­le, nur noch schwa­che Ana­lo­gien. Gué­hen­no mein­te jeden­falls, daß die Alter­na­ti­ve zur Demo­kra­tie nicht zwangs­läu­fig Dik­ta­tur und Ter­ror bedeu­te, son­dern im bes­ten Fall eine Reichs­bil­dung wie in der Zeit des huma­ni­tä­ren Kai­ser­tums: „Das neue impe­ria­le Zeit­al­ter soll­te am ehes­ten dem Römi­schen Reich Hadri­ans und Mark Aurels glei­chen: Es dürf­te kei­nen Anspruch auf über­ir­di­sche Grö­ße erhe­ben und sich auch nicht gött­li­che Befug­nis zur Erfül­lung irdi­scher Bedürf­nis­se aneig­nen wol­len. Es müß­te sich damit begnü­gen, ledig­lich eine Funk­ti­ons­wei­se zu sein, und die­se Erkennt­nis akzeptieren.”
Redu­ziert man das Gesag­te auf sei­nen Kern, also die Legi­ti­ma­ti­on der nach­de­mo­kra­ti­schen Ord­nung durch Funk­ti­ons­tüch­tig­keit, trifft man auf einen Vor­stel­lungs­zu­sam­men­hang, der heu­te vie­len akzep­ta­bel erscheint. So schrieb Josef Jof­fe, Mit­her­aus­ge­ber der Zeit, in bezug auf die Euro­päi­sche Uni­on: „Die EU ist ein frei­heit­li­ches, freund­li­ches und für­sorg­li­ches Gebil­de, aber eine Demo­kra­tie im klas­si­schen Sin­ne? Nen­nen wir es eine ‚Geschäfts­füh­rer-‘, oder ‚Ost­de­mo­kra­tie‘, in der der Bür­ger das Herr­schen den Räten und Kom­mis­sio­nen über­läßt. Und zwar frei­wil­lig.” Das ist mit Wohl­wol­len gemeint, ein Plä­doy­er für eine sanf­te Erzie­hungs­dik­ta­tur und jeden­falls ver­knüpft mit dem Droh­bild des Vol­kes als „gro­ßem Lüm­mel”, der schon der Ein­füh­rung des Euro sei­ne Zustim­mung ver­wei­gert hät­te und inso­fern dis­qua­li­fi­ziert ist, weil er dem Fort­schritt im Wege steht.

Auch wenn das nicht ganz offen gesagt wird, legt man hier ein neu­es Kri­te­ri­um für die Beur­tei­lung poli­ti­scher Ord­nun­gen fest, das sich nicht mehr an irgend­wel­chen wol­ki­gen „Wer­ten” aus­rich­tet, son­dern an här­te­ren, wirk­lich­keits- und das heißt heu­te wirt­schafts­nä­he­ren Maß­stä­ben. „Sind Demo­kra­tien inef­fi­zi­ent?” Unter die­ser Über­schrift brach­te die Neue Zür­cher Zei­tung unlängst einen Leit­ar­ti­kel aus der Feder Rein­hard Mey­ers. Mey­er weist in sei­nem Text dar­auf hin, daß die Demo­kra­tien des Wes­tens mit den „Halb­de­mo­kra­tien” (Ruß­land, Indi­en) oder den offen auto­ri­tä­ren Sys­te­men (Chi­na) kaum noch Schritt zu hal­ten ver­mö­gen. Deren Wirt­schafts­wachs­tum sei ungleich stär­ker, deren Mög­lich­keit, rasch auf neue Ent­wick­lun­gen zu reagie­ren, bes­ser ent­wi­ckelt, jeden­falls nicht behin­dert durch lang­wie­ri­ge Abstim­mungs­vor­gän­ge oder die Suche nach Kom­pro­mis­sen. Der eigent­li­che Aus­gangs­punkt von Mey­ers Über­le­gun­gen war aller­dings das Ergeb­nis des iri­schen Refe­ren­dums über den Ver­trag von Lis­sa­bon, das heißt der kon­kre­te Fall eines Vol­kes, das über eine Schick­sals­fra­ge demo­kra­tisch abstimm­te, und das in einem Sinn, der sei­ner Obrig­keit miß­fiel und einen Pro­zeß blo­ckier­te, der nicht nur von die­ser, son­dern vom euro­päi­schen Estab­lish­ment ins­ge­samt befür­wor­tet wur­de. Mey­er hielt sich bei der Beur­tei­lung zurück, wies aber dar­auf hin, daß es eine Debat­te über die Zukunft des demo­kra­ti­schen Prin­zips gebe, die sich aus sol­chen unlieb­sa­men Erfah­run­gen näh­re. Lei­der nennt Mey­er kei­ne Namen der Debat­ten­teil­neh­mer, aber viel­leicht hat er an das Buch von Fareed Zaka­ria, des Chef­re­dak­teurs von News­week Inter­na­tio­nal, gedacht, das mit dem deut­schen Titel Das Ende der Frei­heit? Wie­viel Demo­kra­tie ver­trägt die Welt? erschien und zu den ein­fluß­reichs­ten poli­ti­schen Essays der letz­ten Jah­re gehört, in sieb­zehn Spra­chen über­setzt wur­de und eine Art Gene­ral­li­nie für die Argu­men­ta­ti­on gegen die Demo­kra­tie ent­hält: Die, so Zaka­ria, ist zu trä­ge, schwächt die Insti­tu­tio­nen, ver­ab­so­lu­tiert das Mehr­heits­prin­zip und droht – qua­li­fi­zier­te – Min­der­hei­ten zu unter­drü­cken. His­to­risch gese­hen, habe sich die älte­re Demo­kra­tie nur in Klein­staa­ten bewährt und sei nach kur­zem in Cha­os oder Dik­ta­tur umge­schla­gen; auch nach ihrem ers­ten Sie­ges­zug im Gefol­ge des Tri­umphs der Entente von 1918 erwies sie sich als insta­bil, in Zukunft könn­ten ähn­li­che Belas­tungs­pro­ben bevor­ste­hen, und es schei­ne frag­lich, ob sie die Prü­fung nun bes­ser bestehe, und schließ­lich: „Beim gegen­wär­ti­gen Trend steu­ert die Demo­kra­tie gera­de­wegs auf eine Legi­ti­mi­täts­kri­se zu, die ihr womög­lich den Boden entzieht.”

Argu­men­ta­ti­on Zaka­ri­as ist nicht neu, aber län­ge­re Zeit zurück­ge­tre­ten. Er will kei­ne Anknüp­fung an die klas­si­sche Demo­kra­tie­kri­tik, eher greift er auf Vor­stel­lun­gen zurück, wie sie in der Nach­kriegs­zeit Libe­ra­le genau­so wie Tech­no­kra­ten und eini­ge „Neo­kon­ser­va­ti­ve” vor­ge­tra­gen hat­ten, die alle an der Fähig­keit der Demo­kra­tie zwei­fel­ten, einen moder­nen Indus­trie­staat zu steu­ern oder im Ernst­fall zu bestehen. Wenn sol­che The­sen jetzt wie­der ins Feld geführt wer­den, ist das kein Zufall und kei­ne Nost­al­gie. Zaka­ria hat sei­ne The­sen zuerst 1997 in einem Arti­kel für For­eign Affairs ent­wi­ckelt, jener Zeit­schrift, von der alle gro­ßen Welt­an­schau­ungs­de­bat­ten der letz­ten bei­den Jahr­zehn­te – um das „Ende der Geschich­te” (Fran­cis Fuku­ya­ma) wie den „Kampf der Kul­tu­ren” (Samu­el Hun­ting­ton) – ange­sto­ßen wur­den, und auch die Ver­öf­fent­li­chung sei­nes neu­es­ten Buches The Post-Ame­ri­can World hat er mit dem Abdruck einer Art Zusam­men­fas­sung in For­eign Affairs vor­be­rei­tet. Er stärkt dar­in die Posi­ti­on jener „Zen­tris­ten”, die weder der Linie der Bush-Regie­rung fol­gen, noch einen lin­ken oder rech­ten Iso­la­tio­nis­mus ver­tre­ten. Obwohl ein rela­ti­ver Macht­ver­lust der USA unaus­weich­lich sei und der Auf­stieg von Kon­kur­ren­ten wie Ruß­land, Chi­na, Indi­en, Bra­si­li­en bevor­ste­he, glaubt Zaka­ria, daß die Ver­ei­nig­ten Staa­ten auch im 21. Jahr­hun­dert die Welt­po­li­tik beherr­schen. Um die­se Auf­ga­be bewäl­ti­gen zu kön­nen, sei es aber ent­schei­dend, die Illu­sio­nen einer bewaff­ne­ten Aus­brei­tung des demo­kra­ti­schen Sys­tems auf­zu­ge­ben. Dabei ste­hen ihm nicht nur die mili­tä­ri­schen Fehl­schlä­ge Wa-shing­tons vor Augen, son­dern auch die unkal­ku­lier­ba­ren Kon­se­quen­zen bei erfolg­ter Demo­kra­ti­sie­rung, die etwa in den Nach­fol­ge­staa­ten der Sowjet-uni­on und all­ge­mein in isla­mi­schen Län­dern zur Stär­kung ame­ri­ka­kri­ti­scher oder ame­ri­ka­feind­li­cher Kräf­te geführt hät­ten. In die­sen Fäl­len sieht Zaka­ria die Demo­kra­tie als „dele­gi­ti­miert” an, weil sie als „illi­be­ra­le Demo­kra­tie” den pro­west­li­chen Ten­den­zen ent­ge­gen­ste­he. Damit wird das Pro­blem der Legi­ti­mi­tät ver­scho­ben. Demo­kra­tie im Sin­ne von Zaka­ria ist nur die gezähm­te oder „libe­ra­le Demo­kra­tie”, in der die Fol­gen einer Wahl mög­lichst mini­miert wer­den und ein durch­dach­tes Sys­tem den Bür­ger­wil­len so kana­li­siert, daß er sich nicht schäd­lich aus­wir­ken kann, son­dern der Bestä­ti­gung der Poli­ti­schen Klas­se, ihres Füh­rungs­an­spruchs, ihrer wirt­schaft­li­chen und sozia­len Macht, dient. Das ist nicht zynisch gemeint, denn die Eli­te nutzt ihre Macht, wenn nicht direkt, dann doch indi­rekt, zuguns­ten des Gemein­we­sens. Was wie­der­um erklärt, war­um Zaka­ria ein Bünd­nis zwi­schen libe­ra­ler Demo­kra­tie und jenem „neu­en Natio­na­lis­mus” für denk­bar hält, den er als die bestim­men­de Kraft im Sys­tem glo­ba­ler Kon­kur­renz betrach­tet. Die­ser Natio­na­lis­mus ist weni­ger aus­ge­ar­bei­te­te Ideo­lo­gie als Kon­se­quenz einer Lage, in der es um das For­mie­ren poli­ti­scher, mili­tä­ri­scher, diplo­ma­ti­scher und öko­no­mi­scher Kräf­te geht.

Zaka­ria urteilt dabei ganz nüch­tern, daß es ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten gibt, um deren Effi­zi­enz zu stei­gern: Man kann sich auto­ri­tä­rer, illi­be­ra­ler, aber auch libe­ra­ler Ver­fas­sun­gen bedie­nen. Im ame­ri­ka­ni­schen Fall sei die Ver­knüp­fung mit der libe­ra­len Demo­kra­tie emp­feh­lens­wert, weil das die Inte­gra­ti­on jener Ein­wan­de­rer ermög­li­che, die der größ­ten Volks­wirt­schaft der Welt ihren Vor­sprung – tech­no­lo­gisch wie demo­gra­phisch – erhal­ten, indem die USA die bes­ten Köp­fe aus allen Regio­nen anzie­hen und zügig ame­ri­ka­ni­sie­ren. Damit las­se sich eine Syn­er­gie bewir­ken, für die es kein Vor­bild gebe. Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten könn­ten den Feh­ler älte­rer Impe­ri­en ver­mei­den, die aus der Tren­nung von Reichs­volk und Unter­wor­fe­nen ent­stan­den. Das mache sie fähig, den glo­ba­len Wett­be­werb zu gewin­nen: Ame­ri­ka habe die Glo­ba­li­sie­rung erfun­den, indem es nach zwei Welt­krie­gen und dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on die Öff­nung aller Märk­te erzwang, und nun schließt es die­sen Pro­zeß ab durch eine „inne­re Glo­ba­li­sie­rung”. An der Kon­zep­ti­on Zaka­ri­as besticht vor allem die Unvor­ein­ge­nom­men­heit. Er ist kein Anhän­ger der mani­fest desti­ny und kein nai­ver Befür­wor­ter eines Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus. Wenn er an einer Stel­le sei­nes Tex­tes auf Sin­ga­pur als Mus­ter­bei­spiel einer „meri­to­kra­ti­schen” – also einer auf Ver­dienst beru­hen­den – Ord­nung zu spre­chen kommt, ent­hüllt er wohl den Kern sei­ner Anschau­ung: die Vor­stel­lung, daß das kom­men­de Zeit­al­ter „sozi­al­dar­wi­nis­tisch gestimmt” (Rudolf Aug­stein) sein wer­de und bei ver­schärf­ter Kon­kur­renz nur die­je­ni­gen bestehen, die alle Kräf­te nut­zen, die ihnen zur Ver­fü­gung ste­hen. Sein Abschied von der Demo­kra­tie als Idee der Volks­herr­schaft ist ohne Res­sen­ti­ment und frei von der Vor­stel­lung, eine per­fek­te Alter­na­ti­ve zu haben; es geht ihm aber auch nicht um die defen­si­ven Argu­men­te einer Poli­ti­schen Klas­se die sich Kon­kur­renz vom Hals hal­ten will, son­dern um ein Modell, das dyna­mi­scher ist als das bis­he­ri­ge. Natür­lich kann man nicht davon abse­hen, daß Zaka­ria selbst zu jenen gehört, die er als wesent­li­chen Teil der kom­men­den Eli­te betrach­tet: Er ist einer jener hoch­be­gab­ten Ein­wan­de­rer, bezie­hungs­wei­se Ame­ri­ka­ner der ers­ten Gene­ra­ti­on, die, vor­nehm­lich aus Asi­en stam­mend, schon jetzt einen Teil der ton­an­ge­ben­den Schicht stel­len, und das Unbe­ha­gen, das die schwin­den­de wei­ße Mehr­heit emp­fin­det, ist ihm fremd. Soll­te die Ent­wick­lung tat­säch­lich in die von ihm erwar­te­te Rich­tung gehen, blei­ben drei denk­ba­re Reak­tio­nen: a) Nach­ah­mung, ein­ge­denk der Tat­sa­che, daß seit dem Ende des 19. Jahr­hun­derts noch jede Ten­denz der ame­ri­ka­ni­schen Kul­tur Modell­cha­rak­ter ange­nom­men hat; b) Ableh­nung im Namen von Basis­de­mo­kra­tie und Anti­ka­pi­ta­lis­mus; c) Modifikation.

Die zwei­te Alter­na­ti­ve ist die popu­lärs­te und gleich­zei­tig die aus­sichts­lo­ses­te. Ganz gleich, ob man sie inter­na­tio­na­lis­tisch oder natio­na­lis­tisch auf­macht, es bleibt im Kern dabei, daß der Ver­such, auf Gras­wur­zel­mit­be­stim­mung oder eine Vari­an­te des Sozia­lis­mus zu set­zen, an den Macht­ver­hält­nis­sen schei­tern wird. Aus­sichts­rei­cher ist die ers­te. In Euro­pa haben wir es längst mit Kopier­ver­su­chen zu tun. Die kurz­le­bi­ge „Green Card” war nur der sicht­ba­re Teil des Bemü­hens, hier zu wie­der­ho­len, was in den USA dau­ernd geschieht, wenn aus rein wirt­schaft­li­chen Erwä­gun­gen hoch­qua­li­fi­zier­te Ein­wan­de­rer ange­wor­ben wer­den. Daß das Pro­jekt geschei­tert ist, hat nicht nur mit der Unent­schlos­sen­heit der Ver­ant­wort­li­chen zu tun, son­dern auch mit der euro­päi­schen Nei­gung, Poli­tik und Sen­ti­men­ta­li­tät zu ver­wech­seln. Bes­ten­falls fürch­te­te man die nega­ti­ven Begleit­erschei­nun­gen des ame­ri­ka­ni­schen Kon­zepts, das heißt die wach­sen­de eth­ni­sche, reli­giö­se und kul­tu­rel­le Frak­tio­nie­rung der Bevöl­ke­rung, die Not­wen­dig­keit, immer grö­ße­ren Auf­wand zu trei­ben, um das manage­ment of diver­si­ty zu gewähr­leis­ten, sei es durch posi­ti­ve Dis­kri­mi­nie­rung der ande­ren, nega­ti­ve der Eige­nen, finan­zi­el­le Ruhig­stel­lung, Indok­tri­na­ti­on und Gesin­nungs­kon­trol­le. Denn Zaka­ri­as Absa­ge an die Demo­kra­tie hat ihre Berech­ti­gung vor allem dar­in, daß Volks­herr­schaft ohne Volk nicht mög­lich ist, wenn man dar­un­ter eine hin­rei­chend klar erkenn­ba­re poli­ti­sche Gemein­schaft ver­steht, die nicht nur infol­ge – sub­jek­ti­ver – Wil­lens­ent­schei­dung zusam­men­tritt, son­dern auch durch – objek­ti­ve – Merk­ma­le ver­bun­den wird. Sol­che Erkenn­bar­keit setzt immer, aus­ge­spro­chen oder unaus­ge­spro­chen, die Ein­heit­lich­keit des demos vor­aus. In Athen wur­den bei der letz­ten Aus­deh­nung des Wahl­rechts die Bür­ger­lis­ten geschlos­sen und den Frem­den dau­er­haft die poli­ti­sche Betei­li­gung ver­wei­gert. In der Neu­zeit hin­gen der Auf­stieg des Natio­nal­staats­ge­dan­kens und der des demo­kra­ti­schen Gedan­kens unmit­tel­bar zusam­men. Seit­her war es für jeden Staat von ent­schei­den­der Bedeu­tung, „wie­viel als gemein­sa­mer ‚orga­ni­scher‘ Wil­lens­ge­halt in jedem Augen­blick wirk­lich vor­ge­ge­ben ist, und wie­viel ratio­nal ver­ein­heit­licht, herr­schaft­lich ‚orga­ni­siert‘ wer­den kann und muß” (Her­mann Hel­ler). Für unse­ren Fall bedeu­tet das, daß je wei­ter der „orga­ni­sche Wil­lens­ge­halt” zurück­geht, in Fol­ge wach­sen­der eth­ni­scher, sprach­li­cher, reli­giö­ser Hete­ro­ge­ni­tät, des­to nach­hal­ti­ger muß „orga­ni­siert” wer­den, da immer weni­ger Volk ange­nom­men wer­den kann, das sich als „Wil­lens­ein­heit” betä­tigt. Inter­es­san­ter­wei­se hat Crouch in sei­nem erwähn­ten Essay über die Post­de­mo­kra­tie die­ses Pro­blem so cha­rak­te­ri­siert, daß der demos die Fähig­keit ver­lie­re, ein „Bild” von sich zu ent­wer­fen, das ihm erlau­be, poli­ti­sches Selbst­ver­ständ­nis und poli­ti­sche Ziel­set­zung zu ent­wer­fen. Man könn­te auch von einem Ver­fall der Reprä­sen­tanz spre­chen, einem Viru­l­ent­wer­den jenes Schlüs­sel­pro­blems aller staat­li­chen Ord­nung, die klä­ren muß, war­um die vie­len mei­nen sol­len, daß sie eins sind. Zaka­ria hält das bes­ten­falls für eine Fra­ge der Pro­pa­gan­da, tat­säch­lich geht es aber um den Kern der Sache, wenigs­tens für die Euro­pä­er, die ihr Selbst­ver­ständ­nis nie­mals nur auf den Besitz von Macht und die Anzie­hungs­kraft eines bestimm­ten way of life gegrün­det haben. Sie müß­ten sich auf­ge­for­dert sehen, eine Alter­na­ti­ve im Sinn der Modi­fi­ka­ti­on zu ent­wi­ckeln: eine poli­ti­sche Ver­fas­sung, die nicht nur die Selbst­be­haup­tung erlaubt, son­dern auch die Inte­gra­ti­on des „orga­ni­schen Wil­lens­ge­hal­tes”. Das wird um so schwe­rer, als man weder guten Gewis­sens „Demo­kra­ti­sie­rung” for­dern kann, noch den Apo­lo­ge­ten des neu­en auf­ge­klär­ten Abso­lu­tis­mus fol­gen darf.

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