Doch dieser Mühe muß man sich heute nicht mehr unterziehen. Man hat sich auf das Erklären verlegt, das seine Heimat in der Naturwissenschaft hat und eine Kausalität annehmen muß, ohne die naturwissenschaftliche Phänomene nicht erklärbar wären. Daraus wird in Zeiten der Wissenschaftsgläubigkeit ein absolutes Weltbild. Es reiht Phänomene nach einem bestimmten Muster aneinander, und am Ende steht die Bestätigung einer Theorie, die schon in den Voraussetzungen gegeben war. In dieser Art und Weise geht die Industrie der Aufarbeitung vor. Ihr genügen drei Thesen, um die Vergangenheit eines jeden, der das Pech hatte, zwischen 1933 und 1945 in Deutschland gelebt zu haben, zu erklären: 1. Was der Einzelne über sein eigenes Handeln und die Gründe sagt, ist in jedem Fall falsch. 2. Jeder, der nicht im KZ gesessen hat, ist kriminell. 3. Differenzierungen sind grundsätzlich zu vermeiden.
Sollte der Eindruck entstanden sein, daß sich die Vergangenheitsbewältigung etwas entspannt hat, ist dieser falsch. Es kann, wie aus heiterem Himmel, jeden treffen, jüngst auch den Verleger Ernst Rowohlt (1887–1960).
Der Hintergrund: Der Rowohlt-Verlag, der seit 1982 zum Holtzbrinck-Konzern gehört, feiert in diesem Sommer sein einhundertjähriges Bestehen. Deshalb ist ein opulenter Jubiläumsband erschienen (siehe Sezession 24), der diese 100 Jahre Revue passieren läßt: die Gründung als Verlag der literarischen Moderne, in dem Kafka sein erstes Buch veröffentlichte, die Neugründung nach dem Ersten Weltkrieg als Verlag, der eine neue Art des Sachbuchs (was man heute als Kulturgeschichte bezeichnet) entwickelte, in seinem Bestand rechte und linke Autoren versammelte (beispielsweise Kurt Tucholsky und Ernst von Salomon) und der die moderne amerikanische Literatur für Deutschland entdeckte.
Was zum Streit führen mußte, war die Darstellung des Verlags in der NS-Zeit, die den drei genannten Thesen nicht entsprach, nicht entsprechen konnte. Das rief den Spiegel auf den Plan: „Der legendäre Verleger Ernst Rowohlt umgab sich gern mit der Aura des trinkfesten Lebemannes und entschiedenen Nazi-Gegners – entsprechend ungern wird jetzt, zum 100-Jahre-Jubiläum der Gründung des Rowohlt-Verlags, über seine dubiose Tätigkeit in der Wehrmacht geredet.” Der Einwand des heutigen Verlagsleiters, Alexander Fest, es handele sich um eine Verlagsgeschichte, nicht um eine Biographie Rowohlts, wird vom Spiegel mit dem Hinweis auf die anhaltende Identität von Verlag und Gründer beiseite geschoben. Dieses Argument hat sicher seine Berechtigung. Damit wird allerdings auch impliziert, daß es sich bei Ernst Rowohlt um keine subalterne Existenz handelt, die mal einen Verlag gegründet hat, sondern um eine Persönlichkeit, bei der man eben mehr Problembewußtsein vermuten dürfte als bei anderen Zeitgenossen.
Die ganze Geschichte des Rowohlt-Verlags in den dreißiger Jahren ist oft erzählt worden, nicht zuletzt von Salomon in seinem Fragebogen, und auch schon oft genug kritisiert worden. Vor ziemlich genau 25 Jahren, zum 75. Jubiläum des Verlags, ritt die tageszeitung eine ähnlich Attacke: „Der Verleger Rowohlt war wirklich in keiner Lage verlegen um Ausreden, Geschichtsfälschung, unglaubliche Verdrängungsakrobatik, Eigenlob, Schönfärberei, doppelte Moral, Instinkt für die Forderungen der Zeit, Geschäftssinn. Nur eines war er nicht, ein Mann, der sich seiner Verantwortung bewußt ist.” Der Sohn und Nachfolger, Heinrich Maria Ledig-Rowohlt (1908–1992), kommentierte dies damals trocken: „Das können junge Leute heute schreiben, weil sie nicht wissen, wie es damals war.” Heute wie damals muß man sich die Frage stellen, was wirft man Rowohlt eigentlich vor?
Zunächst einmal: Rowohlt verlegte bis 1938 in Deutschland Bücher, war damit ein glatter Opportunist, der Geschäfte machen wollte. Als Beleg dafür führt der Spiegel an, daß Rowohlt, der vor 1933 „nazikritische Schriften” verlegt hatte, den Bildband Ein Volk steht auf ins Programm nahm. Ledig spricht von Tarnung, was näherliegt als die Unterstellung einer Nazi-Gesinnung. Davon abgesehen: Es war bekannt, die vollständige Bibliographie der betreffenden Jahre liegt seit 1962 vor. Ledig: „Verborgen haben wir das nie.” Was hätte Rowohlt nach Meinung des Spiegels tun sollen? Es wird zwar erwähnt, daß der Rowohlt-Verlag von den Bücherverboten nach 1933 mit am stärksten betroffen war, doch hätte man ebensogut Bücher anführen können, die die Argumentation des Spiegel ad absurdum führen würden: Erwin Topfs Die grüne Front, eine Kritik am „Blut und Boden”-Konzept erschien noch 1933. Und durch die Veröffentlichung der Korrespondenz zwischen Rowohlt und seinem Bestsellerautor Fallada sind wir in der Lage, nachzuvollziehen, wie schwierig es war, damals vernünftige Bücher zu machen. Das ist aber nicht der Punkt.
Im Juli 1938 wird Rowohlt wegen „Tarnung jüdischer Autoren” aus der Reichsschriftumskammer (RSK) ausgeschlossen, was einem Berufsverbot gleichkam. Im „Jahreslagebericht 1938 des Sicherheitshauptamtes” (Sicherheitsdienst der SS) heißt es rückblickend: „Die Ausschaltung politisch unzuverlässiger Elemente aus dem Buchverlag, der dem weltanschaulichen Gegner noch in weitem Umfange als Kampfbasis verblieben war, hielt an. Beispielsweise wurde der frühere kultur-bolschewistische Verleger Rowohlt von jeder verlegerischen Tätigkeit ausgeschlossen”. Rowohlt verläßt am 19. November 1938 Deutschland und reist nach Brasilien, der Heimat seiner damaligen Frau, wo er bis 1940 bleibt. Der zweite Vorwurf lautet also: Rowohlt kehrte nach Deutschland zurück. Warum? Rowohlt selbst sagt: Er wollte wieder verlegen, sah 1940 den Zusammenbruch kommen, konnte nicht abseits stehen in der Stunde der Not. Der Spiegel bezweifelt dies und nennt als mögliche Gründe: Langeweile und Entfremdung von der Frau. Spontan fallen einem andere ein: Heimweh und Abenteuerlust. Was soll er in Brasilien, wenn Deutschland kämpft (als er verreiste, war noch kein Krieg)? Hinzu kommt, daß 1939 seine Mutter starb und ihm ein Erbe zustand, das er in Anspruch nehmen wollte. Der Verlegerkollege Karl Baur, Callwey-Verlag, hat die Situation erlebt: „Es kam der Krieg. Den alten Soldaten zog es, allen Erfahrungen zum Trotz, nach Hause. […] Ob ich an seiner Stelle zurückgekommen wäre? Ihm aber wog seine Verpflichtung als Deutscher und Offizier schwerer als alles, was man ihm zugefügt hatte.” Der Spiegel erweckt dagegen den Eindruck, als ob Rowohlt vom soldatischen Eifer zerfressen gewesen wäre, weil er unbedingt noch vor dem Endsieg seine Regimetreue unter Beweis stellen wollte.
Löblich ist, daß der Spiegel recherchiert hat, was Rowohlt bei der Wehrmacht machte (dritter Vorwurf: Rowohlt war in der Wehrmacht). Er war bei einer Propagandatruppe in Griechenland und im Kaukasus eingesetzt. Was ist daran schlimm? Die Eckdaten stehen bereits in der Biographie von Mayer, über die genauen Aufgaben, insbesondere seine konkreten Beteiligungen an irgendwelchen antisemitischen Propagandaaktionen kann auch der Spiegel nur spekulieren, da im Januar 1943, beim Rückzug aus dem Kaukasus, alle Akten vernichtet wurden.
Rowohlt wurde am 30. Juni 1943 als „politisch unzuverlässig” aus der Wehrmacht entlassen, vermutlich weil man seine Unterschrift unter einem Aufruf von 1927 zur Überprüfung des Urteils gegen Max Hoelz fand. Der Spiegel schreibt: „Seine Entlassung bedauerte er.” Was den Eindruck erwecken soll, daß Rowohlt lieber weiter Krieg geführt hätte. Vielleicht. Näher liegt aber die Annahme, daß er befürchtete damit aus dem Schutz der Wehrmacht entlassen zu sein. Daß die Wehrmacht Schutz bot, ist bekannt. Der oben erwähnte Erwin Topf ist, wie auch Gottfried Benn, ein schönes Beispiel: „Dr. Topf hatte genau das getan, was man damals machte, wenn man in Gefahr geriet, von der Gestapo verhaftet zu werden: Er hatte sich reaktivieren lassen als Oberst der Wehrmacht – da konnte auch die Gestapo nichts mehr wollen.” (Ledig)
Vierter Vorwurf: „Was er [im März 1946] verschwieg und was auch in der Rowohlt-Chronik nicht vorkommt: Er spendete vor seiner Brasilien-Fahrt Geld an eine SS-Staffel in unbekannter Höhe.” Zunächst: Wer hätte das damals nicht verschwiegen? Auch klingt der Vorwurf so, als hätte Rowohlt jemanden umgebracht, oder es läge eine Spendenaffäre wie bei der CDU vor. Vielleicht waren es zehn Mark für eine verlorene Wette? Vielleicht wollte er sich das Wohlwollen von irgend jemandem erkaufen? Immerhin versuchte er, gegen das im Juli 1938 ausgesprochene Berufsverbot vorzugehen und hoffte vielleicht, auf diese Weise Unterstützung zu erhalten? Nicht schön – aber doch zu verstehen. Daß hinter den Kulissen die Strippen gezogen wurden, belegt Baur, der mehrfach das Ministerium einschaltete, um eben das Schlimmste, ein Berufsverbot, zu verhindern.
Daher läßt sich auch Rowohlts Mitgliedschaft in der NSDAP (fünfter Vorwurf) erklären. Er selbst kommentierte dies so: „Wenn ich nicht Mitglied bin, können sie mich um so leichter matt setzen.” Zeitgenossen nahmen diesen Schritt nicht ernst (Hans Zehrer) oder hielten ihn für naiv (Theodor Eschenburg). Keiner wäre auf die Idee gekommen, darin Rowohlts Gesinnung ausgedrückt zu sehen. Zu verstehen ist auch, warum Rowohlt sich im August 1943 um die Bestätigung seiner Parteimitgliedschaft bemühte. In der NS-Polykratie war es überlebenswichtig, irgendeiner Organisation anzugehören, um deren Schutz in Anspruch nehmen zu können.
Sechster Vorwurf ist ein Brief an Sinclair Lewis von 1933. Die zitierten Stellen aus dem Brief an Lewis rechtfertigen das Vorgehen gegen die Juden. Eine „gewisse antisemitische Bewegung der Nationalsozialisten” sei angesichts des jüdischen Einflusses durchaus berechtigt gewesen. Allerdings kam das Schlimmste für die Juden noch. Bis Ende 1933 waren Juden durch Gesetze und Boykott entrechtet worden. Daß Rowohlt angesichts dieser Maßnahmen von „ungeheuren Härten” spricht, zeigt doch, daß er bereits das als ungeheuerlich empfindet – und dennoch rechtfertigt. Rowohlts Sohn Harry (geb. 1945), der bekannte Übersetzer, hat dazu die Vermutung geäußert, daß diese Aussagen von einem Linken (Theodor Eschenburg: „Im Grunde genommen war Rowohlt immer ein Linksradikaler gewesen. Aber das nicht etwa, weil er selber linksradikal war, sondern weil er fand, daß das die interessanteren Leute seien.” Rowohlt war Mitglied der „Freunde der Sowjetunion”.) an einen Linken „vielleicht für Mitleser” gedacht waren. Damit demonstriert er eine Möglichkeit, die verstehen möchte, weil das Zitat so gar nicht mit dem zusammenpaßt, was man von Rowohlt sonst über sein Verhältnis zu Juden weiß.
Immerhin hat er sie bis zuletzt gedeckt und dabei sogar seinen Verlag riskiert und schließlich auch verloren. Ein schönes Beispiel dafür ist Paul Mayer, seit 1919 Lektor bei Rowohlt, der 1938 emigrieren konnte und nach Rowohlts Tod diesem mit seiner Biographie ein Denkmal (das dem Spiegel gar nicht gefällt) gesetzt hat. Wenn Rowohlt der gewesen wäre, für den ihn der Spiegel hält, hätte er das wohl nicht gemacht. Nebenbei bemerkt: Wenn der Artikel des Spiegel keine denunziatorische Tendenz haben sollte, wäre positiv vermerkt worden, daß Mayer Jude war. Das wird aber verschwiegen.
Verschweigen, Unterstellungen und ein falscher Zungenschlag bestimmen diesen Versuch, Rowohlt etwas anzuhängen. Das Infame besteht in diesem Fall darin, daß es sich bei Rowohlt um einen in jeder Hinsicht vorbildlichen Menschen handelte, der sich nach allen Zeugnissen menschlich tadellos gehalten hat. Um das zu erkennen, muß man die Situation offenbar selbst erlebt haben oder aber wenigstens verstehen wollen, und das bedeutet, dem anderen zunächst einmal (wenn nicht pathologisches oder kriminelles Verhalten vorliegt) nichts zu unterstellen, was einem selbst fremd wäre. „Auf der Grundlage des Erlebens und des Verstehens seiner selbst, und in beständiger Wechselwirkung beider miteinander, bildet sich das Verstehen fremder Lebensäußerungen und Personen.” (Dilthey) Verstehen ist ein Prozeß, der nicht ohne eigenen Einsatz zu haben ist. Zunächst muß man dabei beachten, „daß man das Verhalten der unter Diktatoren Lebenden und Aushaltenden nicht an Maßstäben messen sollte, die in liberalen Demokratien üblich sind” (Gottfried Dietze).
Rowohlt war Verleger aus Leidenschaft. Er verlegte „Bücher, um das Leben stärker zu fühlen” (Friedrich Sieburg). Er repräsentierte in der Weimarer Republik ein weltanschaulich nicht festgelegtes Programm, das Qualität in den Mittelpunkt stellte. Das brachte ihm nach 1933 den Vorwurf des „Kulturbolschewismus” ein. Sein Bemühen auch nach 1933 seiner Verantwortung als „Mittler des geistigen Gutes” (Jean Gebser) nachzukommen, kann unter dem gegenwärtigen Differenzierungsverbot nicht gewürdigt werden. Den „letzten Feldzug gegen den Adel des Menschen” (Jaspers) hat der mißgünstige Kleingeist, in diesem Fall die Spiegel-Journalisten, gewonnen. Wenn Rowohlt angesichts dieser Sachlage aufgegeben hätte, wären seine Angestellten arbeitslos gewesen, was besonders für die beiden jüdischen Lektoren schlimme Konsequenzen gehabt hätte. (Auch im NS mußte man Essen und Miete bezahlen, Geld verdienen.) Rowohlt war kein Samariter, der half, um zu helfen. Er konnte nur helfen, wenn er erfolgreich Bücher verlegen würde. Dem hat er alles untergeordnet. Bis zu einem Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Wenn man so will, hat er die kleinen Lügen gewählt, um den großen Verrat nicht begehen zu müssen. Und nach Sachlage hat er ihn nicht begangen. Wer kann das heute von sich behaupten?