Was an Freund, mit seinen kurzen grauen Haaren wie ein alter troupier anmutend, sofort auffiel, war die Lebensnähe, die Konkretheit, der Reichtum an Erfahrungen, die Lust an der Beobachtung des Alltags in all seinen Überlegungen. Der Sohn eines Industriearbeiters und einer Bäuerin, zweisprachig aufgewachsen, wurde als Kämpfer der résistance mehrfach von den Deutschen gefangen und auch gefoltert, er war kein blasser Buchgelehrter und kein weltfremder Professor. In Speyer sprach er über ein typisches Schmitt- (beziehungsweise Freund-) Thema: über den Unterschied von Partisan und Terrorist. Beiläufig erzählte er, wie er als junger Aktivist der résistance an Attentaten gegen führende Kollaborateure teilgenommen hatte, und zu einem konkreten Fall meinte er: „Dann gingen wir hin und erschossen ihn!” Wie erschraken da die biederen deutschen Professoren, diese letzten akademischen Zierden der intellektuellen Rechten! Während Freund erklärte, er sei Terrorist gewesen, versuchten sie ihm zu beweisen, daß er in Wirklichkeit ein „Freiheitskämpfer” gewesen sei. Aber Freund erklärte mit steinerner Miene, daß, da Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hatte, der deutsche Einmarsch völlig rechtens war und daß er deshalb Terrorist gewesen sei. Lachend fügte er hinzu: „Ich bereue nichts!”, wohl an Edith Piafs unsterbliches „Je ne regrette rien!” denkend. Im Eifer des Gefechts bemerkten weder Freund noch die deutschen Professoren, daß „Freiheitskämpfer” und „Terrorist” gar keine Gegensätze sind, gehören die beiden Begriffe doch unterschiedlichen Sphären an.
Die Lebensnähe Freunds zeigte sich auch bei anderen, harmloseren Gelegenheiten. Etwa wenn er in der Kneipe seines Heimatdorfes Villé (bis 1918: Weiler) in Lothringen seinem Tischnachbarn, meist einem Bauern oder Handwerker, geduldig Aristoteles’ unterschiedliche Weisen der Gerechtigkeit oder Tocquevilles Kritik der Demokratie erläuterte. Diese Bauern und Handwerker hörten aufmerksam zu, zeigte ihnen Freund doch, wieviel die Überlegungen dieser großen Geister mit ihren alltäglichen Nöten und Fragen zu tun hatten. Freund blieb „Theorie” stets im ursprünglichen Sinne des Wortes „Anschauung”: Anschauung höchst wirklicher Probleme und Konflikte. Nachdem sein Zuhörer sich von der Nützlichkeit des Aristoteles, Hobbes’ oder Tocquevilles überzeugt hatte, wies ihn Freund noch auf eine unbekannte, doch vorzügliche Kirsch-Destillerie in einem weiter entfernten Dorfe hin.
Freund gehörte zur fast ausgestorbenen Spezies der Polyhistoren. Das Erstaunlichste an diesem Vielleser war, daß er so viel schrieb, – gewöhnlich geht beides nicht zusammen. Er, der sich in seinen philosophischen Schriften um eine Erneuerung der Metaphysik bemühte, kannte die griechischen und lateinischen Kirchenväter ebenso gut wie die Lyrik der französischen Symbolisten oder der deutschen Expressionisten und war fähig, Dutzende von Gedichten Gottfried Benns oder Jakob van Hoddis’ zu rezitieren. Neben Gaston Bouthoul muß man ihn als den Begründer der Polemologie ansehen. In Clausewitz’ Kriegstheorie war er genauso zuhause wie in der Soziologie der deutschen Klassiker, seien es Max Weber, Robert Michels, Georg Simmel oder Arnold Gehlen – tatsächlich hat niemand so viel für Max Webers Erfolg in Frankreich getan wie Freund, der zahlreiche von dessen Schriften übersetzte und kommentierte. „Max Weber war kein ‚Liberaler in der Grenzsituation‘, wie Wolfgang Mommsen meint, Max Weber war Gaullist!” pflegte er paradox, doch verdeutlichend zu sagen. Freund studierte Vilfredo Paretos Ökonomie ebenso en detail wie das Thema der Angst bei Hobbes, der Religion bei Simmel, des Krieges bei Thukydides – eine Überfülle von Studien, so gelehrt wie kurzweilig, in denen eine von keinem Fanatismus beschädigte Erfahrung triumphierte. „Erfahrung” ist vielleicht das Schlüsselwort Freunds gewesen.
Eine besonders bedeutsame Erfahrung für Freund war die als Kämpfer der résistance, deren Reihen er schon 1945 verließ, als sie vor der massiven Verfolgung Unschuldiger nicht zurückschreckte und sich der Korruption hingab. Es war die Enttäuschung über die Politik, die Freund von der Politik zur Politikwissenschaft brachte, aber es war eine „déception surmontée”, eine überwundene Enttäuschung ohne Ressentiment. Diese Erfahrung war es (neben der Erfahrung des bewaffneten Kampfes), die aus dem Humanitaristen Freund, damals ein angehender, „idealistischer” Gymnasiallehrer, den realistischen Betrachter der Macht und der Gewalt werden ließ. Doch dieser Machtrealist wurde nicht zum Zyniker und hörte nie auf, sich dem Haß zu widersetzen. Nie wurde er müde, sich in die deutsche Kultur und Literatur zu versenken, die so viele Franzosen spätestens ab 1940 „vergaßen”. Als am 9. November 1989 die Deutschland teilende Mauer fiel, rief er mich eine knappe Stunde später erregt und begeistert an. Freund verfügte über eine gute und deshalb wohl so seltene Eigenschaft: er war Freund seiner Freunde und Feind seiner Feinde; zugleich war er jedoch fähig, sich rasch und ohne Hintergedanken zu versöhnen. Immer wieder stoßen wir in seinen Schriften auf den Satz, daß man nur mit einem Feinde Frieden schließen könne, mit wem denn sonst? „Der Frieden ist abhängig von der wechselseitigen Anerkennung der Feinde, die sich gegenwärtig bekämpfen.” Wie überlegen ist eine solche Haltung, die Freund nicht nur predigte, sondern lebte, der des heutigen Pazifismus, für den der Friede nicht auffindbar ist, weil er zunächst die Feindschaft leugnet und dann den Feind satanisiert.
Freund kannte die Menschen in ihrer Bosheit, ihrer Sündhaftigkeit, ihrer Schwäche und in ihrem Hunger nach Illusionen. Aber er wußte auch um ihre Trauer, ihr Angewiesensein auf Mitleid, ihre gelegentliche Fähigkeit zur Tapferkeit und zur Generosität. War er auch nicht bereit, alles zu verzeihen, so war er doch imstande, alles zu verstehen und vor allem, dem Haß keinen Fußbreit Boden zu lassen.
Julien Freund starb am 10. September 1993, vor 15 Jahren, in Straßburg. Sein sonores Lachen, oft erschallend bei einer guten bouteille und einem Leckerbissen seiner heimatlichen Küche, wird mich stets begleiten: als Ermunterung und als stärkender und tröstender Gruß.