Man kann der redaktionellen Einleitung entnehmen, daß die Verantwortlichen von Literaturen keine Ahnung haben, jedenfalls keine Ahnung von Carl Schmitt. Der Eindruck verbessert sich nur unwesentlich, wenn man die Beiträge zum Thema genauer durchmustert, etwa die Rezension Friedrich Balkes über den Briefwechsel zwischen Schmitt und Ernst Forsthoff, die dessen Kern systematisch verfehlt, oder die Auslassungen Micha Brumliks, der, erfreut über den gelungenen Nachweis von „Rassismus”, seine Unkenntnis in der Sache kaum als gravierend empfindet (nicht Schmitt hat den Reichsparteitag von 1935 als „Reichsparteitag der Freiheit” „gefeiert”, es handelte sich um die offizielle Bezeichnung; selbstverständlich wird die „Neue Rechte” nicht bestreiten, daß Schmitt auch die Vernichtung des „gerechten Feindes” für legitim gehalten hat).
Da den Anlaß für Brumliks Ausführungen eine wohlwollende Besprechung von Christian Lindners Der Bahnhof von Finnentrop (Eine Reise ins Carl-Schmitt-Land, Berlin: Matthes & Seitz 2008. 448 S., geb, 34.90 €€) bot, neigt man zu Mißtrauen gegenüber der Leseempfehlung, wird allerdings angenehm überrascht, wenn man diese „Großreportage” zur Hand nimmt. Es handelt sich nicht um eine Biographie, eher um eine Verknüpfung von Lebenslauf und geistiger Entwicklung Schmitts mit Reflexionen, Impressionen und Assoziationen des Autors. Das bietet zwar im Hinblick auf die Kenntnis Schmitts und die Deutung seines Werkes nicht viel Neues, ist aber manchmal überraschend und immer kurzweilig zu lesen und wirkt erhellend vor allem im Hinblick auf zwei Punkte: die Verankerung Schmitts im Sauerland – der Bahnhof von Finnentrop lag an der Rhein-Ruhr-Strecke und mußte angefahren werden, wenn man Plettenberg per Zug ansteuerte – und die Funktion der Judenfeindschaft im Denken Schmitts. Daß der eine über die Kollaboration mit dem NS-Regime hinausreichende Bedeutung zukam, ist nicht zu bestreiten. Allerdings macht Lindner auch deutlich, wie wenig man es mit dem landläufigen oder dem hochideologischen Antisemitismus zu tun hat, und wie sehr mit Schmitts ganz persönlicher Politischer Theologie, die ihre widerwärtigen Züge hatte, aber doch nicht reduziert werden kann auf das Weltbild eines „Täters”, nicht einmal eines „Schreibtischtäters”.
Lindners Bereitschaft zur Differenzierung unterscheidet sein Buch deutlich von demjenigen Jan Werner Müllers Ein gefährlicher Geist (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. 300 S., geb, 39.90 €), dessen Autor sich nichts weniger als „Carl Schmitts Wirkung in Europa” vorgenommen hat, aber an diesem großen – übergroßen – Thema scheitert und lediglich einen, fallweise nicht nur lückenhaften, sondern auch irreführenden, Abriß bietet. Es handelt sich erkennbar um jene Art von Konjunkturliteratur, die dem neuen Interesse an Schmitt dadurch begegnen will, daß sie in ermüdender Weise auf dessen politisches Belastetsein verweist und wie ein Mantra „gefährlich” – „gefährlich” – „gefährlich” wiederholt. Im Vorwort zu Müllers Buch weist Michael Stolleis denn auch darauf hin, daß man es nicht nur mit dem Schmittismus von Linken und Rechten am Rande der Szenerie zu tun habe, sondern neuerdings mit den „Vordenkern des übergesetzlichen Notstands in den Szenarien des Terrorismus”, die offen oder verdeckt auf Schmitt rekurrierten und so die „Prinzipien der pluralistischen Demokratie” und den „Universalismus der Menschenrechte” in Frage stellten.
„Pluralismus” ist ein Stichwort, das im Zusammenhang mit dem Denken Schmitts unbedingt erwähnt werden muß, und es verwundert, daß sich bisher niemand gründlich mit der Bedeutung dieses Begriffs im Werk Schmitts auseinandergesetzt hat. Das hat es allerdings erleichtert, die bereits 1989 vorgelegte Dissertation Thor von Waldsteins Der Beutewert des Staates (Carl Schmitt und der Pluralismus, Graz und Stuttgart: Ares 2008. 215 S., geb, 19.90 €) jetzt endlich in einer Buchausgabe vorzulegen. Man wird nicht zuviel sagen, wenn man es zu den bedeutendsten Arbeiten über Schmitt der letzten Jahre rechnet. Dabei hat sich Waldstein nicht damit begnügt, die Auseinandersetzung Schmitts mit der Theorie des Pluralismus beziehungsweise dessen Protagonisten Harold J. Laski nachzuzeichnen, sondern auch erklärt, warum Schmitt dieses Thema in den zwanziger Jahren mehrfach aufgriff, ohne daß dazu ein akuter Anlaß bestand. Schmitt witterte hinter der Propaganda für den Pluralismus den Versuch, die Reste von Staatlichkeit im Namen von Selbstbestimmung und Freiheit zu zerstören. Damit würden die „indirekten Gewalten” endgültig die Macht übernehmen und den „Leviathan” zerlegen, was nicht nur aus prinzipiellen Gründen zu verwerfen sei, sondern vor allem angesichts der konkreten Lage des besiegten Deutschlands verhindert werden mußte.
Gerade weil Waldstein die Überlegungen Schmitts an die politische Situation bindet, in der sie entstanden, gewinnt er einen souveränen Standpunkt im Hinblick auf die Frage nach Schmitts politischer Brauchbarkeit heute. Bemerkenswert ist dabei die Nüchternheit des Urteils, das von prinzipieller Verdammung und Häme genauso weit entfernt ist wie von Apologie und kritikloser Bewunderung. In seinem Schlußwort weist Waldstein auf das wirklich Bleibende an Schmitt hin, wenn er schreibt: „Als Vademecum zur Entwicklung bündiger Politikkonzepte taugen Schmitts Schriften ohnehin kaum. Wer politische Programme schreiben will, braucht Carl Schmitt nicht. Vielleicht sind es aber gerade seine Fragen und nicht seine Antworten, die den eigentlichen Wert seiner Bücher und Aufsätze ausmachen.”