Das englische Original des von Burke 1790 veröffentlichten Werkes trägt den Titel Reflections on the Revolution in France. Mit dem Titel seines 2009 erschienenen Buches Reflections on the Revolution in Europe verweist Christopher Caldwell auf Burkes konservatives Manifest, obwohl es im Text keine direkte Rolle spielt. Der subkutane Bezug ist jedoch klar: Wird Europa heute wiederum von seinen Eliten einer Umschaffung unterzogen?
Caldwell (geb. 1962) ist Journalist und leitender Redakteur (Senior Editor) der Zeitschrift The Weekly Standard. Seine Kolumnen und Beiträge erscheinen unter anderem in Financial Times, The New York Times und The Washington Post. Wo Burke, als Engländer, den Blick auf das Frankreich der Französischen Revolution richtet und den Epochenbruch dort mit scharfem Verstand und spitzer Feder analysiert, da richtet der Amerikaner Caldwell den Blick auf Europa. Beider »Betrachtungen« unterscheiden sich freilich sowohl in bezug auf das Ziel als auch die Anlage. Dient das Beispiel der Französischen Revolution Burke als Ausgangspunkt für die Entwicklung der allgemeinen Grundlagen einer konservativen Staats- und Gesellschaftsphilosophie, so will Caldwell Europas riskantes Experiment der Transformation durch Masseneinwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg auf seine möglichen Folgen für Europas Identität hin untersuchen. Sein Blick ist wie der des Arztes, der seinem Patienten mit großer Sachkenntnis und in höchst sachlichem Ton die Diagnose stellt und ihn vor den möglichen oder wahrscheinlichen Folgen seines Lebenswandels warnt. Sein Ton ist nüchtern, beinahe leidenschaftslos, seine Kritik gilt Europa und nicht eigentlich dem Islam. Diesen Umstand gilt es hervorzuheben, denn sollte Caldwells faktengesättigtes, überaus informatives Buch in deutscher Übersetzung erscheinen, dann dürfte es bald von jenen als »islamfeindlich« denunziert werden, die eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Europa und der Islam« nicht wünschen.
Caldwell beschreibt den Islam als expansive politische Kraft, die ihren Anhängern neues Selbstbewußtsein verleiht. Er kritisiert Europas intellektuelle Eliten, denen nach über zweihundert Jahren Säkularisation jegliches Verständnis für den Ernst einer durch die Religion geprägten Lebensform abhanden gekommen ist. Auch in diesem Punkt wird die Wahlverwandtschaft zwischen Caldwell und Burke deutlich, der schon 1790 über Frankreichs Intellektuelle schrieb: »Die neuen Lehrer … prahlen unaufhörlich mit ihrem Geiste der Duldung. Daß die, welche keine einzige Religionsgemeinschaft achten, alle dulden, ist ein elendes Verdienst. Allgemeine Gleichgültigkeit ist nicht unparteiisches Wohlwollen.« Betrachtet man die bunte Szene der vom Islam hierzulande und außerhalb der deutschen Grenzen Faszinierten an den Universitäten, in Redaktionen und in der Politik, so kann man sich des Verdachts nicht erwehren, daß man es mit Leuten zu tun hat, denen ansonsten die Religion herzlich gleichgültig ist, ja die sich eher als »Verächter« der Religion hervortun. Insbesondere das Christentum wird in diesen Kreisen nicht sonderlich geschätzt, so daß auch ein moderner Schleiermacher hier auf verlorenem Posten stünde. Wie schizophren diese Haltung ist, macht gerade die diesen »neuen Lehrern« offenbar unbekannte Verehrung deutlich, die Muslime Jesus Christus als Vorläufer des Propheten Mohammed zollen.
In der Abwendung von der eigenen Religion und dem Vakuum, das sie hinterläßt, sieht Caldwell einen Grund der Sympathie für den Islam. Seine Kritik richtet sich in diesem Zusammenhang auch gegen ein zaghaftes Christentum, das nicht mehr die Kraft hat, selbstbewußt auf seine eigenen Werte und seine Bedeutung als Grundlage von Europas Identität zu verweisen: »Wenn Europäer brauchen, was Muslime bringen … schlug Europa dann eine falsche Richtung ein, als es seine Traditionen amputierte? Falls es so ist, ab wann wurde in die falsche Richtung gesteuert? Ab den 1960er Jahren? Oder den 1760ern? Und falls die Europäer ein neues Bedürfnis nach Religion verspüren, warum sollten sie sich denn dann von einer eingeschüchterten und verhöhnten Religion wie dem Christentum angezogen fühlen, dem es im Vergleich mit dem dynamischen, selbstgewissen und lebensnahen Islam an dem nötigen Chic fehlt?« Kein Wunder, daß solch ein Christentum nicht mehr konkurrenzfähig ist, meint Caldwell, der auch den hilflosen Vorwurf der »Rückwärtsgewandtheit« des »mittelalterlichen« Islam nicht gelten läßt: Der Islam sei »rückständig« in einer Zeit, in der der »Fortschritt« zunehmend in Zweifel gezogen wird. Man müsse kein Fanatiker oder »Fundamentalist« sein, um auf den Gedanken zu kommen, daß der Westen zu schnell zu weit »fortgeschritten« ist.
Die grüne und globalisierungskritische Bewegung wird von ähnlichen Sorgen und Zweifeln geplagt und flüchtet in den Multikulturalismus, aber Caldwell deckt die Widersprüche der Multikulturalitätsideologie auf. So wird einerseits die »Integration« der Einwanderer gefordert, andererseits die »Bereicherung« durch die multikulturelle Gesellschaft gefeiert. Wenn aber die Integration das Ziel ist, dann kann Bereicherung ja nur das Weiterleben wie im Herkunftsland bedeuten, denn erst durch diese Diversität geschieht ja Bereicherung. Entweder wird Integration also bewußt mit »Bildung von Parallelkulturen« gleichgesetzt, oder man erkennt diesen Widerspruch erst gar nicht. Ähnliche Kritik am Multikulti-Konzept findet sich heute übrigens auch in weit links stehenden Zirkeln.
Europas Intellektuelle machten sich ferner Illusionen bezüglich der »Diversität« des Islam und seien nicht in der Lage, die Einheit hinter der Verschiedenheit seiner Erscheinungsformen zu erkennen: die eine Nation der ca. 1,2 Milliarden durch das Internet verbundenen Gläubigen (umma) weltweit. In den meisten Fällen, so Caldwell, besteht dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit eher pro forma, es vermag aber auch inbrünstig zum Ausdruck gebrachte Formen der Loyalität zu erzeugen.
Angesichts der Tatsache, daß Europas intellektuelle Eliten sich mehrheitlich als links verorten, staunt Caldwell über deren Unfähigkeit, zwischen individueller Assimilierung, Handel, Masseneinwanderung und der Entstehung von Parallelkulturen zu unterscheiden und die Auswirkungen des demographischen Wandels für Arbeitswelt und Wohlstand zu erkennen. Dabei sollte doch gerade der Linken der Zusammenhang zwischen Masseneinwanderung, dem Import eines industriellen Reserveproletariats und der Senkung des Lohnniveaus klar sein! Der Ruf nach Integration sei gerade in diesem Bezug illusionär, denn je schneller und gründlicher sich Einwanderer an die bestehende Gesellschaft angleichen und sozial aufsteigen, desto größer ist wiederum die Nachfrage nach neuen Einwanderern, die ihrerseits wieder als Lohndrücker herhalten müssen!
Daß Caldwell nicht einfach pauschal als Islamkritiker abgetan werden kann, macht sein Verständnis für die Probleme des modernen türkischen Staates deutlich. Immer wieder wird ja die Türkei wegen der Massaker an Armeniern während des Ersten Weltkrieges kritisiert. Es wird ihr vorgeworfen, die offene Auseinandersetzung mit dieser tragischen Phase ihrer Geschichte zu tabuisieren. Caldwell reiht sich jedoch nicht in den Chor der Türkei-Kritiker ein, sondern übernimmt sogar die Rolle eines um Verständnis werbenden Fürsprechers: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts benutzten die europäischen Nachbarn der Türkei die Unterdrückung ihrer griechischen »Brüder« als Vorwand für das Auseinanderreißen des Osmanischen Reiches. Seit Jahrzehnten lautet daher ein Grundsatz des türkischen nationalen Denkens, daß die im Millet-System zutage getretene Toleranz gegenüber Fremden die wichtigste Waffe der Feinde des Reiches war; ja man ist sogar der Meinung, daß das Reich gerade wegen dieser Toleranz zugrunde ging!
Es ist einfach, meint Caldwell, nationalistische Mythen zu beklagen. Aber: Man sollte die geschichtliche Hintergrunderfahrung des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches verstehen, bevor man das Massaker an den Armeniern, Atatürks nationalistische Götzendienerei und die Unduldsamkeit gegenüber den Kurden verurteilt. Die Türken betrachten nämlich den heutigen Rest des ehemaligen Reiches gleichsam als das Erbteil ihres Volkes. Sie haben die Lehre aus der Geschichte gezogen, daß es gefährlich sein kann, unter welchen Umständen auch immer, anerkannte Minoritäten in den eigenen Grenzen zu haben. Im Grunde stellt Caldwell die Frage nach der Überlebensfähigkeit des laizistischen beziehungsweise säkularen Staates. Es ist keineswegs sicher, daß dieses europäische Modell auf Dauer Bestand hat. Die europäische Kultur sieht Caldwell jedenfalls im Niedergang begriffen. Seinem Verständnis nach geht es nicht darum, ob Europa sich gegen seine kulturelle Umwandlung wehren möchte, sondern darum, daß es keinen Grund mehr sieht, seine europäische Identität zu bewahren. Die Illusionslosigkeit, mit der Caldwell seinen Gegenstand behandelt, verläßt ihn auch bei den Worten nicht, die das Buch beschließen: »Wenn eine unsichere, formbare, relativistische Kultur auf eine gefestigte, selbstgewisse und durch einen gemeinsamen Glauben gestärkte Kultur trifft, dann ist es in der Regel die erstere, die sich an die letztere angleicht.«
Ein Buch wie Reflections konnte wohl nur von einem Autor veröffentlicht werden, der den tonangebenden akademischen Eliten Europas und der USA fernsteht. Seine Thesen fordern zu einer ernsten und offenen Auseinandersetzung heraus, für die in Deutschland jedoch derzeit wohl kaum eine Chance besteht. Im Klima der politisch korrekten Gesinnungsüberwachung, das sich derzeit wie Mehltau über das geistige Leben in Medien, Parteien und Universitäten legt, würde auch gegen Caldwell sofort die Faschismuskeule geschwungen werden.