Gleichwohl ist unübersehbar, daß die gesellschaftlichen Entwicklungen – seit gut hundert Jahren und weltweit – im krassen Widerspruch zu diesem Prinzip stehen. Die Welt hat den epochalen Schritt ins Massenzeitalter definitiv vollzogen, der geistige Widerstand ist erlahmt, und fast jeder scheint mit Leib und Seele im Zeitalter der Massen angekommen zu sein. – Woran liegt das?
Aristoteles fragt: Ist der Mensch ein zoon politikon, also ein gemeinschafts- oder staatsbildendes Wesen, und beantwortet diese Frage mit Ja, denn, so sagt er, das Wesen, das völlig für sich alleine zu leben vermöchte, sei entweder ein Tier oder ein Gott. Nietzsche ergänzt: Es fehlt ein Drittes, der Philosoph. Hobbes dagegen erklärt, Menschen seien ihrer Natur nach durchaus Einzelgänger, nur die Not habe sie zusammengeführt.
Als Utilitarist geht Hobbes davon aus, daß der Mensch nach dem ihm Nützlichen strebe. Die Ziele seien Selbsterhaltung und Lustgewinn. Da beides aber nur mit und kaum gegen die soziale Umwelt erreicht werden könne, habe sich der Mensch entschließen müssen, Verhältnisse mit anderen einzugehen, die ihm jedoch nur als Mittel dazu dienten, die eigenen Wünsche zu befriedigen. Daher sei auch der Staat ein Erzeugnis der egoistischen Interessen seiner Mitglieder und erfahre eben genau darin seine Rechtfertigung.
Man könnte, Hobbes widersprechend, nun sagen, nein, nicht das Alleinsein entspricht der Natur des Menschen, sondern das Leben in Geselligkeit. Das Bedürfnis nach Einsamkeit und Absonderung ist dagegen ein Zeichen von Kultur, nicht von Natur. Denn es waren gerade seine sozialen Fähigkeiten, die homo sapiens vor den anderen Hominiden auszeichneten und ihn bis heute auf einem nie erreichten Niveau überleben ließen, während alle anderen Arten, die über andere Fähigkeiten verfügten, ausstarben. Ist der Mensch unter allen Spezies schon an sich ein „Mängelwesen”, wie Arnold Gehlen feststellte, so ist es homo sapiens ganz besonders. Am wenigsten spezialisiert, war er seit jeher zur Anpassung an veränderte Bedingungen geradezu gezwungen. Diese Fähigkeit hat er sich bis heute bewahrt, und sie tritt in einen gewissen Widerspruch zu seinem Willen, ein freies, selbstbestimmtes Wesen zu sein.
So sehr Kulturen auch Gebilde höchster Differenzierung sind, indem sie sich immer nach strengen sozialen und religiösen Hierarchien gliedern, so sehr beruhen sie auch auf dem Prinzip der Gleichheit innerhalb der jeweiligen Schichten. Dieses Prinzip gründet auf dem archetypischen Bedürfnis nach Zugehörigkeit des Einzelnen zu irgendeiner Gruppe. Denn früh hatte der Mensch gelernt: sich wohlzufühlen unter seinesgleichen verspricht biologische Vorteile, sich zusammenzuschließen erhöht die Überlebenschance. Das Bedürfnis nach Gleichheit und Eingliederung oder wenigstens Aufnahme in den Verband ist zumeist deutlich größer als das nach Absonderung und Verschiedenheit. Beide Bedürfnisse stehen miteinander im Streit, aber die Natur des Menschen erhebt sich fast immer über seine Kultur, denn er ist und bleibt ein Mängelwesen und als solches schutzbedürftig. – Daher rührt die Anziehungskraft der Masse auf den Menschen, daher das Phänomen, daß die meisten sie suchen, nur wenige sie scheuen.
Wir haben es innerhalb der Gattung Mensch unter anderem also mit zwei Typen, zwei Wesens- oder Charakterformen zu tun, die sich, beinahe unabhängig von sozialer oder ethnischer Herkunft, seit jeher unversöhnlich gegenüberstehen. Nennen wir sie, vereinfacht gesprochen, den solitären und den sozialen Typus. Im einen ist das Bedürfnis nach Absonderung stärker ausgeprägt, im anderen das nach Zugehörigkeit. Den einen leitet ein relativ souveränes Ich, den anderen die Autorität der Menge.
Die Sozialgeschichte war stark geprägt durch den Kampf um Vorherrschaft dieser beiden Typen, die ihre Analogie auch in Hegels berühmter Herr-Knecht-Dialektik finden. Mit der Kontrolle des „Herren” über den „Knecht” war jedoch ein Ausnahmezustand erreicht, der sich – wie jeder Ausnahmezustand – permanent mit dem Willen nach Revision konfrontiert sieht. Somit spiegelt sich in der globalen Massendemokratisierung und im Machtwechsel der Typen eine gewisse Naturgesetzmäßigkeit wider, die besagt, daß jeder Zustand nach seiner „Normalität” strebt, das heißt, nach Überwindung jener Schranken, die sein natürliches Wachstum hemmen.
In der äußerst weitsichtigen Analyse Über die Demokratie in Amerika weist Alexis de Tocqueville bereits zwischen 1835 und 1840 auf die Funktionsweisen des kommenden Massenzeitalters hin. Und wie alle großen Staatstheoretiker des 19. und 20. Jahrhunderts hält auch er die heraufziehende globale Massendemokratie nicht für das Werk „böser Mächte”, sondern für eine Folge innerer Logik, ja sogar für ein „Merkmal göttlichen Willens”.
Elias Canetti spricht in seinem Buch Masse und Macht von einer „Entladung”, die im Menschen stattfinde, wenn er aktiver Bestandteil einer Masse werde. Dabei setzt Canetti das Vorhandensein von Distanzen voraus, die in allen sozialen Bereichen bestünden und nach deren Überwindung im Grunde jeder Mensch strebe, da es diese Distanzen seien, die den Menschen seine innere Einsamkeit spüren ließen. Dadurch werde er in seiner geistigen wie physischen Entfaltung gehemmt. „Die Genugtuung, in der Rangordnung höher als andere zu stehen”, schreibt Canetti, „entschädigt nicht für den Verlust an Bewegungsfreiheit. In seinen Distanzen erstarrt und verdüstert der Mensch.” Deshalb sei eine Entladung oder Entlastung nötig, ein Abstreifen der persönlichen Unterschiede. Und da sich jeder gleichermaßen daran beteiligen müsse, könne sich ein solcher Vorgang nur in der Masse vollziehen.
Zwischen diesen beiden Polen, dem von Canetti beschriebenen Bedürfnis nach Aufhebung der Distanzen und dem von Nietzsche so genannten „Pathos der Distanz”, das der solitäre Typus pflegt, spannt sich das Leben des modernen Menschen. Und das Kräfteverhältnis dieser beiden Bedürfnisse entscheidet darüber, wie tief der Riß ist, der durch jede Kultur geht. Im Massenzeitalter stehen sich jene beiden Antipoden feindseliger denn je gegenüber. Denn im Zeitalter der Massen sind sie zu Totalitäten geworden, die einander ausschließen, da sie – wie niemals zuvor – über die Bedeutung des Einzelnen bestimmen. Das erklärt die bizarren Formen, die das Verlangen nach Aufmerksamkeit besonders im Mediensektor inzwischen erreicht hat, aber auch die Gleichschaltung des Denkens als Voraussetzung all derer, die Einlaß in den Kulturbetrieb begehren.
Heute generiert sich Masse eben nicht mehr durch die Versammlung vieler Menschen an einem bestimmten Ort, sondern ihr Entstehen hängt ganz entscheidend davon ab, welcher Typus meinungsmachend vorherrscht. Demnach ist Masse keine Frage der Zahl mehr, sondern eine des Charakters. Dieser Aspekt bleibt bei Canetti weitgehend unberücksichtigt, da er das Phänomen der „unsichtbaren Masse” noch nicht kennt. „Die aktuellen Massen haben im wesentlichen aufgehört, Versammlungs- oder Auflaufmassen zu sein; sie sind in ein Regime eingetreten, in dem der Massencharakter nicht mehr im physischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen von Massenmedien zum Ausdruck kommt.” In diesen neuen Versammlungsformen „ist man als Individuum Masse. Man ist jetzt Masse, ohne die anderen zu sehen.” Der ehemals evidente Geborgenheitscharakter, den Massenveranstaltungen oder Aufmärsche zu stiften fähig waren, ist also nunmehr einem eher virtuellen Zugehörigkeitsgefühl gewichen.
Die beiden hier aufgezeigten Typen, den solitären und den sozialen, hat es freilich immer gegeben, und die längste Zeit standen sie in einem klaren hierarchischen Verhältnis zueinander, dessen gewissermaßen natürliche Berechtigung von keiner der beiden Gruppen angezweifelt wurde. – Bis ein bedeutsamer Wandel eintrat, den Ortega y Gasset als Aufstand der Massen titulierte, der allerdings weniger die Erhebung breiter Volksschichten beschreibt, als vielmehr den Aufstand eben jenes Typus, der sich daranmachte, die bisher gültige Werteordnung zu kippen, um sich mit seinen Werten bestimmend in den Vordergrund zu drängen. Dieser Prozeß habe einen sozialen Paradigmenwechsel zur Folge gehabt. Ortega y Gasset nennt die Staatsform, in der alles nach den Bedürfnissen des Massenmenschen ausgerichtet ist, „Hyperdemokratie” oder „Triumph der Überdemokratie”. Sie sei gekennzeichnet durch „die Unverfrorenheit der Menge, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall durchzusetzen”.
Seit der Industrialisierung ist das Phänomen der Masse zu einem historischen Faktor geworden, den niemand mehr übersehen und dem sich auch niemand mehr entziehen kann. Entsprechend groß war die Resonanz der geistigen Welt in Europa auf diese Erscheinung. Ob im Wachstum der Städte, das die „soziale Frage” virulent machte, ob in der Bildungspolitik, in der Kunst und Literatur, überall traten die Folgen wachsender Massen in Erscheinung und forderten zur geistigen Auseinandersetzung damit auf. Es entstanden soziale Bewegungen, Arbeitervereine und so weiter, aber es regte sich auch ein geistiger Widerstand gegen diese Entwicklung, der heute kaum noch vorstellbar ist. Denn die Gefahr, die im Aufkommen des Zeitalters der Massen gesehen wurde, verband fast alle politischen Lager: Nietzsches Widerwille, ja Ekel gegen jede Form von Vermassung ist bekannt. Auch Walter Benjamins Kritik der Entwertung von Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Oder Heideggers berühmtes Kapitel über das „Man” in Sein und Zeit von 1927. Und in der Dialektik der Aufklärung bekennen sich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als vehemente Gegner der unterhaltungsorientierten Massenkultur, die vom Fernsehen über Zeitschriften bis hin zum Jazz reiche. Noch 1973 nennt Konrad Lorenz Acht Todsünden der Zivilisation, von denen die meisten als Folge der Massengesellschaft bewertet werden.
Massenmenschen produzieren wiederum Massenmenschen, weil nur diese ihnen volle Anerkennung zollen. Das ist das Erfolgsrezept eines Prozesses, dessen Dynamik sich kaum jemand entziehen kann. In seiner brillanten Hegel-Interpretation bringt Alexandre Kojève die Sache auf den Punkt: „Es ist menschlich zu begehren, was die anderen begehren, weil sie es begehren.” Jeder will, daß der Wert oder das, was er darstellt, vom anderen als dessen Wert anerkannt und begehrt wird. Kojève folgt damit Gustave Le Bon, der in seiner Psychologie der Massen von 1895 das Prinzip der Nachahmung als eines der wesentlichen Merkmale für Massenbildungen erkannt hat: „Aus diesem Bedürfnis”, schreibt er, „wird die Macht der Mode geboren. Mag es sich nun um Meinungen, Ideen, literarische Äußerungen oder einfach um die Kleidung handeln, wie viele wagen es, sich ihrer Herrschaft zu entziehen?”
So ist die Mode zu einem Diktat geworden, das Individualität oder Eigensinn bloß noch vortäuscht. „Wo Identität war, soll Indifferenz werden, sprich eigentlich differente Indifferenz … Wenn wir schwören, daß alles, was wir tun, um anders zu sein, in Wahrheit nichts bedeutet, dürfen wir tun, was immer uns in den Sinn kommt.” (Sloterdijk) – In der Tat ist diese differente Indifferenz das große, gar nicht zu übersehende Merkmal des gegenwärtigen Kulturbetriebs, aber auch das der Politik: Wer den Ausstieg aus der vorgelebten Indifferenz wagt, begibt sich damit in die selbstgewählte Isolation, indem er Grenzen übertritt, deren Mißachtung von den Wächtern der totalitären Mitte gleichfalls mit Mißachtung des Überschreitenden geahndet wird.
„Wo Herren waren, müssen neue Aufgaben definiert werden.” (Slo-terdijk) – Fangen wir also damit an. Auch wenn die Erwartungen natürlich bescheiden bleiben müssen. Veränderung des Ganzen wird es nicht geben. Aber das zwingt den Einzelnen noch lange nicht dazu, überall mitzumachen. Eigene Räume zu eröffnen ist nötig. Parzellen des privaten Widerstands. Botho Strauß hat 1992 in seinem immer noch aktuellen, weil zeitlos gültigen Essay Anschwellender Bocksgesang geschrieben: „Ich bin davon überzeugt, daß die magischen Orte der Absonderung, daß ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen für den Erhalt des allgemeinen Verständigungssystems unerläßlich ist.”
Wo der Staat keine Leitkultur mehr bereithält, ist es erforderlich, selber eine zu schaffen. Und keine Angst vorm Alleinsein in diesen Räumen. Gefährten werden sich schon finden. Wer nicht zur Masse gehören will, hat Nietzsche gemeint, müsse nur aufhören, gegen sich bequem zu sein. Das heißt: alles selber prüfen, auf die eigene Urteilskraft vertrauen und den Mut haben, nein zu sagen, wenn die Totalität der Massengesellschaft nach dem Bekenntnis zur Einheitsgesinnung verlangt. Jeder kann ein Beispiel geben, indem er wagt, sich an dem vorgemachten Leben nicht zu beteiligen.