wird zögern, diese Region als “Polen” zu bezeichnen. Von “Deutschland” kann man allerdings auch nicht mehr sprechen. Dennoch spürt man noch die deutsche kulturelle Prägung, besonders in der Architektur. Dabei ist es besonders anrührend, wenn in einem fremden Land plötzlich die Steine in der eigenen Muttersprache zu einem zu sprechen beginnen.
Fährt man durch die Straßen der Dörfer und Städte, in denen nun polnisch gesprochen wird, dann wird einem das Ungeheuerliche dieses Vorgangs, den man euphemistisch “Bevölkerungstausch” nennt, erst richtig bewußt. Der polnische Charakter des heutigen Schlesiens ist die Folge eines kriegerischen Raubes und einer blutigen und brutalen ethnischen Säuberung, die Hunderttausende Opfer gefordert hat.
Auch wenn jeglicher Revanchismus abzulehnen ist, muß man dieses Kind ehrlich beim Namen nennen. Alles andere ist moralisch nicht zu vertreten, und ohne Ehrlichkeit ist auch das Geschwätz von der “Versöhnung” nur leeres Papier. Ich denke, daß sich der heftige Widerstand von polnischer Seite gegen das geplante “Zentrum gegen Vertreibungen” und die landesübliche Hetze gegen die nun wirklich moderate Erika Steinbach, die in den polnischen Medien als eine Art rechte Hand Merkels dargestellt wird, auch aus einem tiefsitzenden schlechten Gewissen erklären lassen.
Ich hatte während meiner Reise das Glück, gleich mit drei überdurchschnittlich guten Kennern des Landes unterwegs zu sein (unter ihnen ein alter, letzter Mohikaner aus Waldenburg), die noch jeden Ort, – und in manchen Orten jede Straße‑, unter ihren deutschen Namen kennen. Die Spuren der Vergangenheit begegnen einem auf Schritt und Tritt, mal als vergessener Überrest in Form einer vom Waldwuchs verschlungenen Kirchenruine, mal als kaum sichtbare Inschrift auf einer Bahngeleise, als verfallener Friedhof oder auch exponierter als kulturelle Touristenattraktion wie die berühmten Friedenskirchen aus Holz in Jauer und Schweidnitz.
Letztere birgt auch, gut versteckt in einer Abstellkammer zwischen restaurierungsbedürftigen Kruzifixen und Engelsfiguren, die Erinnerung an einen deutschen Mythos: auf den verstaubten Tafeln eines Denkmals für die Gefallenen der Jahre 1914–18 findet sich auch ein gewisser Manfred Freiherr von Richthofen.
Verfallen und verwildert ist auch der in einem Waldstück versteckte, nicht gekennzeichnete deutsche Friedhof von Kreisau, mit der Ausnahme der Gräber der Familie Moltke, die gut gepflegt sind. Hier ist auch Freya von Moltke begraben, die Anfang dieses Jahres im Alter von sagenhaften 99 Jahren verstarb. Die Überreste des berühmten Generalfeldmarschalls sind seit Kriegsende verschwunden.
Ganz in der Nähe befindet sich das Kreisauer Schloß, das nach der Wende renoviert wurde und heute als “Internationale Jugendbegegnungsstätte” dient. Eine Dauerausstellung mit Schwerpunkt auf dem “Kreisauer Kreis” um Helmuth James Graf von Moltke würdigt den Widerstand gegen den Nationalsozialismus; ergänzt wird sie durch eine Ausstellung über den Widerstand gegen Stalinismus und Kommunismus. Von den Verschwörern des 20. Juli und der Weißen Rose ist in Polen wenig bekannt. “Alle Polen sollten diese Ausstellung sehen, damit sie erfahren, daß es viele mutige Deutsche gab, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben!” sagte unser weiser Mohikaner.
Im Kreisauer Schloß befindet sich neben dem Treppenaufgang eine um die Jahrhundertwende entstandene Wandmalerei. Im Format eines Breitwand-Kinofilms zeigt die eine Seite eine dramatische Szene aus dem Jahr 1806: napoleonische Truppen dringen plündernd in Lübeck ein, während die Familie Moltke, unter ihnen der sechsjährige Helmuth Karl Bernhard, verängstigt und hilflos zusieht. Die andere, gegenüberliegende Seite zeigt eine komplementäre Szene aus dem Jahr 1871. Preußische Truppen, in ihrer Mitte der nun siebzigjährige “große Schweiger” Moltke, reiten nun in einer verspäteten Revanche gegen Paris, das in Form des Arc de Triomphe visionsartig am Horizont erscheint. Im Gegensatz zu Napoleons Marodeuren traben die preußischen Truppen gesittet an der fliehenden französischen Zivilbevölkerung vorbei, die keine Angst zeigt, sie verhöhnt und ihnen mit den Fäusten droht.
Beide Szenen waren ziemlich einprägsam gestaltet, dramatisch, aber nicht allzu pathetisch. Moltke selbst etwa ist eher beiläufig in Szene gesetzt. Die Stoßrichtung der Geschichtsdeutung war auf Anhieb zu erkennen, wobei die “Montage” durch die räumliche Gegenüberstellung einen besonderen Reiz entfaltete. Ein paar Details waren mir allerdings unklar, so fragte ich eine ältere deutsche Dame, dem Anschein nach Akademikerin, die in dem Museum Aufsicht hatte. Diese meinte sofort, sich für die Bilder quasi entschuldigen zu müssen, und betonte mehrfach, daß sie historisch nicht korrekt seien, bloße Propagandaschinken, üble Geschichtsfälschungen, und daß man überhaupt urspünglich überlegt hatte, sie gänzlich zu entfernen, “weil sie nicht in die neue Zeit passen”. Mein Vergnügen an den Bildern, die auch künstlerisch recht gelungen sind, bereitete ihr sichtliches Unbehagen, und sie bemühte sich aus Kräften, mir den Spaß zu verderben.
Dabei muß sie mich für ganz schön doof gehalten haben, denn als nächstes hängte sie einen Grundsatzmonolog an, daß ja nicht bloß abstrakte, sondern auch gegenständliche Gemälde nicht exakt die Wirklichkeit abbilden, sondern ebenfalls erläutert und kontextualisiert werden müssen usw. usf. Na, das war mir armen, ungebildeten Tropf vollkommen neu! In ihrer Beflissenheit drückte sich eine beinah magische Angst aus, ich könnte nun die Gemälde naiverweise für bare Münze nehmen, der “Propaganda” Glauben schenken, und dann … – ja was? “Heil Dir im Siegerkranz” schmettern, mich mit Pickelhaube auf ein Pferd schwingen und das Elsaß zurückerobern?
Es frappiert mich jedenfalls immer wieder zu sehen, wie das deutsche schlechte Gewissen sich bis in feinste Verästelungen hinein zu einem eingefleischten Verhaltens- und Reflexmodus ausgebildet hat. Hier wirkt immer noch die Psychologie der Unterworfenen und der Niederlage nach. Die abergläubische Scheu und Infektionsangst vor nationalen und historischen Mythisierungen, und lägen sie so weit zurück wie die Bismarck-Zeit, hat auch etwas Kleinkariertes und Verdruckstes an sich. Dies fällt umso mehr im Vergleich mit Polen auf, das vollgepflastert ist mit Monumenten dieser Art, die allerdings mit Stolz und Ehrfurcht betrachtet werden. Hier läßt man sich die epischen Gefühle ungern durch historisch-kritische Zersetzung verderben.
Passenderweise lag in dem Museum eine Ausgabe des Magazins “Dialog” zur freien Entnahme auf einem Tisch, das einen klugen Aufsatz von Adam Krzeminski über die “politischen Mythen” der Deutschen und Polen enthielt. Dazu demnächst mehr.