Abseits der Masse – eine Apologie der Absonderung

pdf der Druckfassung aus Sezession 24/Juni 2008

sez_nr_246von Till Kinzel

Abseits der Masse - was kann das heißen? Eine Position, in der man sich ohnehin befindet oder die man sich erarbeiten sollte? Was heißt es, abseits der Masse zu denken? Kann man, angesichts der fast totalen Medialisierung unseres Daseins, überhaupt abseits der Masse stehen? Im Wege des Erinnerns gilt es entscheidende geistige und ästhetische Voraussetzungen für eine Absage an die Masse kenntlich zu machen. Die Menschlichkeit des Menschen steht dabei in Rede, und es muß beunruhigen, wenn Max Horkheimer feststellt: „Im zwanzigsten Jahrhundert ist das Objekt des Gelächters nicht die konform gehende Menge, sondern vielmehr der Sonderling, der es immer noch wagt, autonom zu denken." Wer wollte behaupten, daß es sich heute anders verhielte? Bestenfalls werden Pseudo-Sonderlinge den Massen als Unterhaltung vorgesetzt, deren Nonkonformität sich auf nichts erstreckt, das in wirklich beunruhigender Weise vom standardisierten Denken unserer Kultureliten abweicht.


Der Arche­typ des­je­ni­gen, der nicht zur Mas­se gehör­te und der sich doch nicht von ihr in Ver­ach­tung abson­der­te, der in denk­bar radi­ka­ler Wei­se die ethisch-poli­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen des Lebens der Mas­se auf den Prüf­stand stell­te, war Sokra­tes. Die­ser steht des­we­gen abseits der Mas­se, weil er ganz bei sich und eben des­halb mit sich selbst Freund ist. Denn ohne die­se Fähig­keit, es bei sich selbst aus­zu­hal­ten, ist die Absa­ge an die Mas­se nicht zu machen. Die läu­tern­de Lek­tü­re der Dia­lo­ge Pla­tons, in denen sich Sokra­tes um sei­ne Erzie­hung und die sei­ner Mit­men­schen bemüht, ist selbst Teil einer sol­chen Erzie­hung zum Selbst­sein. Die­se Fähig­keit, bei sich selbst sein zu kön­nen, ist es auch, die für die Erzie­hung der Erzie­her allein maß­ge­bend sein kann, um der Mas­se zu trot­zen, die immer auch die Mas­se in einem selbst ist.
In Milan Kun­de­ras Roman Die uner­träg­li­che Leich­tig­keit des Seins fin­det sich eine gute Illus­tra­ti­on für die­ses Pro­blem im Kapi­tel „Der gro­ße Marsch”, das Kun­de­ras Kri­tik des Kit­sches im Kon­text des Kom­mu­nis­mus bezie­hungs­wei­se der lin­ken Welt­an­schau­ung über­haupt ent­hält. Sabi­na, die Male­rin, hat sich dem Mot­to ver­schrie­ben: „In der Wahr­heit leben”, was nichts ande­res bedeu­tet als „weder sich selbst noch ande­re zu belü­gen”; dies jedoch ist „nur unter der Vor­aus­set­zung mög­lich, daß man ohne Publi­kum lebt”. Denn: „Ein Publi­kum zu haben, an ein Publi­kum zu den­ken, heißt, in der Lüge zu leben.” Indem man als Künst­ler oder auch sonst auf das Publi­kum bezo­gen leben­der Mensch dar­auf bedacht ist, Wir­kung zu haben, lebt man bereits in der Lüge. Da aber die­se Ori­en­tie­rung unver­meid­lich ist, müß­te dies fak­tisch bedeu­ten, daß es nicht mög­lich ist, außer­halb der Lüge leben. Die Lüge wäre dann das zwangs­läu­fi­ge Medi­um für den­je­ni­gen, der in einer Mas­sen­ge­sell­schaft über­haupt ein Inter­es­se dar­an hat, sich an ande­re zu wen­den. Denn selbst wenn er als sein Publi­kum den Ein­zel­nen wünscht, jene Stir­ner­schen Ein­zi­gen, die sich nur um ihr „Eigen­tum” küm­mern, könn­te er nicht ver­hin­dern, daß sich dar­aus gegen sei­ne Inten­ti­on ein „Mas­sen­phä­no­men” ent­wi­ckeln könn­te. Man wird dies nicht leicht mit einem Schul­ter­zu­cken abtun kön­nen, doch die Impli­ka­ti­on, daß man nur dann in der Wahr­heit leben kann, wenn man ohne Publi­kum lebt, kann auch so gedeu­tet wer­den, daß man lebt, als ob man kein Publi­kum hät­te. Indem sich der Künst­ler, dem es um die Wahr­heit zu tun ist, so ver­hält, als ob er kein Publi­kum hät­te, erfüllt er dadurch auf para­do­xe Wei­se die Anfor­de­rung, in der Wahr­heit zu leben. Der Künst­ler, der so lebt, als ob er kein Publi­kum hät­te, hat es auch gewis­ser­ma­ßen nicht, jeden­falls nicht so, daß es ihn in die Lüge führt.

Der Gedan­ke, den Kun­de­ra an die­ser Stel­le des Romans ent­wi­ckelt, fin­det sei­ne Fort­set­zung noch in einer auf­schluß­rei­chen Ergän­zung. Von Sabi­na heißt es wei­ter, ihre „ers­te inne­re Auf­leh­nung gegen den Kom­mu­nis­mus war nicht ethi­scher, son­dern ästhe­ti­scher Natur. Was sie als absto­ßend emp­fand, war weni­ger die Häß­lich­keit der kom­mu­nis­ti­schen Welt (die in Kuh­stäl­le umge­wan­del­ten Schlös­ser), als die Mas­ke der Schön­heit, die sie sich auf­ge­setzt hat­te, anders gesagt, der kom­mu­nis­ti­sche Kitsch.”
Das Abset­zen von der Mas­se hat eine zwei­te Sei­te, die nicht leicht in den Blick gerät. Denn Mas­se ist einer­seits nicht schon jedes Kol­lek­tiv, nicht jede grö­ße­re Men­ge Men­schen, der der Ein­zel­ne zuge­hört. Mas­se ist viel­mehr „ent­wur­zel­tes Volk”. Absa­ge an die Mas­se heißt also nicht not­wen­dig auch Absa­ge an das eige­ne Volk oder die Vor­stel­lung von Völ­kern über­haupt. Viel­mehr kann die Hin­wen­dung zum Volk eben dadurch auch eine Abwen­dung von der Mas­se sein.
Ein ande­rer Gegen­be­griff zur Mas­se ist die Per­son, als die der Ein­zel­ne sich begrei­fen muß, um sie auch zu sein. Per­son in die­sem Sin­ne ist kein psy­cho­lo­gi­scher Begriff, der sich auf jedes empi­ri­sche Indi­vi­du­um bezieht. Per­son ist hier zu ver­ste­hen in einem empha­ti­schen Sin­ne, den man bei Bal­ta­sar Gra­cián ler­nen kann, dem gro­ßen spa­ni­schen Jesui­ten, zum Bei­spiel in sei­nem gran­dio­sen Roman, dem Kri­ti­kon. Gra­cián ent­wi­ckelt hier eine gewal­ti­ge Alle­go­rie auf das mensch­li­che Dasein und pos­tu­liert die Per­son­wer­dung als Bedin­gung dafür, sich nicht von der Welt des Scheins gefan­gen­neh­men zu las­sen, in die wir Men­schen stets ein­ge­hüllt sind – im übri­gen, das zeigt der Roman Gra­ciáns auch schon lan­ge bevor es die neu­en und neu­es­ten Medi­en der letz­ten Jah­re mit ihren Schein­wel­ten gab, und lan­ge bevor heu­ti­ge Pro­phe­ten die Auf­he­bung der Unter­schei­dung von vir­tu­el­ler und wirk­li­cher Welt pro­pa­gier­ten. Für den­je­ni­gen, dem es um die Frei­heit des Men­schen zu tun ist, hängt jedoch alles davon ab, daß die­se Unter­schei­dung von vir­tu­el­ler und wirk­li­cher Welt nicht auf­ge­ho­ben wird. Denn in einer Welt, in der Vir­tua­li­tät und Wirk­lich­keit unun­ter­scheid­bar wären, könn­te es auch kei­ne Frei­heit geben, die nicht auch Mani­pu­la­ti­on sein könnte.
Mas­se statt Per­son ist dort, ganz im Sin­ne Gra­ciáns, wo man kapi­tu­liert oder sich „in Ver­hand­lun­gen mit dem Zeit­geist” ein­läßt, wie Ernst Jün­ger sagt. Daß die Anpas­sung an den Zeit­geist in man­cher, vor allem prak­ti­scher Hin­sicht (also was das blo­ße Über­le­ben angeht) auch not­wen­dig ist, wird nie­mand bestrei­ten, der sich nicht der thea­tra­li­schen und nur im Aus­nah­me­zu­stand ange­mes­se­nen Ges­te des Hara­ki­ri ver­schrie­ben hat. Gra­ciáns klei­nes Buch Hand­ora­kel und Kunst der Welt­klug­heit bie­tet hier wert­vol­le Anre­gun­gen, so in einem Apho­ris­mus über das Ver­hält­nis von Mas­se und Ein­zel­nen (Nr. 43): „DENKEN WIE DIE WENIGSTEN UND REDEN WIE DIE MEISTEN.

Gegen den Strom schwim­men zu wol­len, ver­mag kei­nes­wegs den Irr­tum zu zer­stö­ren, sehr wohl aber in Gefahr zu brin­gen. Nur ein Sokra­tes konn­te es unter­neh­men. Von ande­rer Mei­nung abwei­chen, wird für Belei­di­gung gehal­ten; denn es ist ein Ver­dam­men frem­den Urteils. Bald meh­ren sich die dar­ob Ver­drieß­li­chen, teils wegen des geta­del­ten Gegen­stan­des, teils des­sent­we­gen, der ihn gelobt hat­te. Die Wahr­heit ist für weni­ge, der Trug so all­ge­mein wie gemein. Den Wei­sen wird man nicht an dem erken­nen, was er auf dem Markt­platz redet, denn dort spricht er nicht mit sei­ner Stim­me, son­dern mit der der all­ge­mei­nen Tor­heit, so sehr auch sein Inne­res sie ver­leug­nen mag. Der Klu­ge ver­mei­det eben­so­sehr, daß man ihm, als daß er andern wider­spre­che; so bereit er zum Tadel ist, so zurück­hal­tend in der Äuße­rung des­sel­ben. Das Den­ken ist frei, ihm kann und darf kei­ne Gewalt gesche­hen. Daher zieht der Klu­ge sich zurück in das Hei­lig­tum sei­nes Schwei­gens; und läßt er je sich bis­wei­len aus, so ist es im engen Krei­se Weni­ger und Verständiger.”
Gra­ciáns nüch­ter­ner Rea­lis­mus ent­wirft eine Art anthro­po­lo­gi­sches Modell des Ver­hält­nis­ses von Ein­zel­nem, der als Per­son begrif­fen wird, und Mas­se bezie­hungs­wei­se Men­ge, die ihrem Wesen nach als das Unwah­re erscheint. Gra­cián erin­nert dar­an, daß man aus Par­tei­nah­me für die Wahr­heit der Mas­se kri­tisch gegen­über­ste­hen muß, weil die­se nicht an der Wahr­heit, son­dern an ihrer eige­nen Mei­nung inter­es­siert ist. Die Äuße­rung des Gegen­teils der von der Mas­se für rich­tig gehal­te­nen Auf­fas­sun­gen aber, das ist die vor der Auf­klä­rung for­mu­lier­te auf­klä­rungs­skep­ti­sche Poin­te Gra­ciáns, führt nicht zur Zer­stö­rung des Irr­tums. Wenn aber damit in der con­di­tio huma­na selbst lie­gen­de Gren­zen der Auf­klä­rung ange­zeigt sind, bekommt Gra­ciáns Apho­ris­mus Nr. 33 beson­de­res Gewicht, der über­schrie­ben ist mit „Sich zu ent­zie­hen wis­sen” und eine radi­ka­le The­se dar­über ent­hält, wie, wem und was man sich ent­zie­hen sollte.
Die dop­pel­te Pro­ble­ma­tik der Abson­de­rung von der Mas­se mit ihren spe­zi­fi­schen Gefähr­dun­gen sei schließ­lich noch an einem Bei­spiel erör­tert, der Ver­hand­lung des Pro­blems im 19. Jahr­hun­dert bei Lord Byron und Fried­rich Nietz­sche, zwei der wir­kungs­mäch­tigs­ten Geis­ter jener Zeit. Es ist von die­sen bei­den her mög­lich, den Blick auf das zu len­ken, was man mit Nietz­sche als das Leben in Eis und Hoch­ge­bir­ge bezeich­nen kann, als ulti­ma­ti­ve Absa­ge an das Leben der Mas­se. Nietz­sche hat­te als Schü­ler in Pfor­ta inten­siv die Wer­ke Lord Byrons stu­diert und über sei­ne dra­ma­ti­schen Dich­tun­gen einen Vor­trag gehal­ten. Unter die­sen Wer­ken sticht beson­ders eines her­vor, das den Titel Man­fred trägt. Man­fred, der Titel­held, ist der Pro­to­typ des Byro­ni­schen Hel­den, jener das gan­ze 19. Jahr­hun­dert prä­gen­den faus­ti­schen Figur, die sich nie­man­dem, auch nicht der Welt der Geis­ter, unter­ord­nen will und auf­grund einer geheim­nis­vol­len Schuld und dem Erleb­nis der inne­ren Zer­ris­sen­heit von den ande­ren Men­schen getrennt lebt.

Den jun­gen Nietz­sche fas­zi­nier­te an Byrons Man­fred beson­ders, daß die­ser frei von jeder Reli­gio­si­tät und jedem Glau­ben an Gott war; Man-fred lebt völ­lig ohne jene Kon­tak­te zu ande­ren Men­schen, die ein mora­li­sches Ver­hält­nis bedeu­ten wür­den. Ent­schei­dend ist sein Gefühl, nicht mit den ande­ren ver­bun­den zu sein, wor­un­ter er offen lei­det. Sei­nem Gefühl nach haben sei­ne eige­nen Ambi­tio­nen nichts mit denen der ande­ren Men­schen zu tun; nur äußer­lich gleicht er noch den Mit­men­schen. Man­fred ist jene spe­zi­fi­sche Form des Ein­zi­gen, der als Über­mensch ange­spro­chen wer­den kann – so wie es auch Nietz­sche schon in sei­nem jugend­li­chen Vor­trag tat. Man­fred fehl­te es an eben jener Tugend, die für das Chris­ten­tum von so über­ra­gen­der Bedeu­tung war, die aber dem Ein­zel­nen, der sich über die ande­ren erha­ben fühl­te, abge­hen muß­te – Demut. Man­fred spricht aus­drück­lich davon, daß er die­se nie beses­sen habe, was ihn als Per­so­ni­fi­ka­ti­on des Hoch­muts erschei­nen läßt.
War­um nun muß uns das inter­es­sie­ren? Nietz­sches Ver­ständ­nis des Phi­lo­so­phen als Pro­to­typ des­je­ni­gen, der abseits der Mas­se lebt, ver­dankt die­ser Byro­ni­schen Figur des Man­fred ent­schei­den­de Impul­se. Nietz­sche meint, als Drei­zehn­jäh­ri­ger sei er für Man­fred reif gewe­sen, denn er habe des­sen Abgrün­de in sich gefühlt. Die­ser Abgrund aber, den man in sich ver­spürt, ist für Nietz­sche Vor­aus­set­zung dafür, Phi­lo­soph sein zu kön­nen. Das aber ist zugleich mit der topo­lo­gi­schen Meta­pher – Abgrund – ein Hin­weis auf eine wei­te­re Bestim­mung des Wesens der Phi­lo­so­phie meta­pho­ri­scher Art durch Nietz­sche. Nietz­sche sagt, er habe ein Wohl­ge­fal­len an Künst­ler­ty­pen wie Byron gehabt, die wie die­ser „unbe­dingt an die Vor­rech­te höhe­rer Men­schen glau­ben und unter der Ver­füh­rung der Kunst bei aus­ge­such­ten Men­schen die Heer­den-Instink­te über­täu­ben und die ent­ge­gen­ge­setz­ten wach­ru­fen”. Nietz­sche schätzt an Byron das Aris­to­kra­ti­sche, der Mas­se Ent­ge­gen­ge­setz­te. Gera­de auf die Weckung der aris­to­kra­ti­schen Gefüh­le und Instink­te kam es ihm an; vor allem bei jenen, die für die Phi­lo­so­phie gewon­nen wer­den sol­len, müs­sen die Her­den­in­stink­te über­täubt wer­den. Nun steht aber Byron als Dan­dy auch für eine beson­de­re Gefahr, inso­fern die phi­lo­so­phi­sche Radi­ka­li­tät der Absa­ge an die Mas­se sich auch in Dan­dy­tum, als Absetz­be­we­gung des rei­nen Stils, trans­for­mie­ren kann. Nietz­sches trans­mo­ra­li­scher Ent­wurf eines Lebens jen­seits der Mas­se – „Phi­lo­so­phie, wie ich sie bis­her ver­stan­den und gelebt habe, ist das frei­wil­li­ge Leben in Eis und Hoch­ge­bir­ge – das Auf­su­chen alles Frem­den und Frag­wür­di­gen im Dasein, alles des­sen, was durch die Moral bis­her in Bann gethan war” – hat so Anteil an einer Gefahr, die für jeden real ist, der sich auf Wegen abseits der Mas­se bewegt. Wie kann man die­ser Gefahr etwas steuern?
Es hat in der Geschich­te immer wie­der sokra­ti­sche Figu­ren gege­ben, die sich den Zumu­tun­gen des Lebens mit der Men­ge ent­zo­gen haben oder zu ent­zie­hen such­ten. Aus der Fül­le mög­li­cher Gestal­ten nen­ne ich den Ame­ri­ka­ner Hen­ry David Tho­reau, der weit inter­es­san­ter ist als es die schon im Schul­un­ter­richt trak­tier­te Anek­do­te vom „zivi­len Unge­hor­sam” nahe­legt. Tho­re­aus Schrif­ten ent­hal­ten in nuce eine Erzie­hung zum Leben abseits der Mas­se, die genu­in phi­lo­so­phi­schen Cha­rak­ter hat und durch ihre gro­ße Dif­fe­ren­ziert­heit und Anschluß­fä­hig­keit erstaunt. Nach­denk­lich macht aber vor allem auch die en pas­sant geäu­ßer­te Ein­schät­zung Gómez Dávil­as, Tho­reau gehö­re – gemein­sam mit Rous­se­au, Tol­stoi und D. H. Law­rence – zum „luna­tic frin­ge” der Reak­ti­on, also zu den ver­rück­ten Reaktionären.

Tho­reau leb­te in eben jenem Staat, der ame­ri­ka­ni­schen Repu­blik, den man als die moder­ne Repu­blik schlecht­hin ver­ste­hen kann. Tho­re­aus Kri­tik am Mate­ria­lis­mus sei­ner Zeit­ge­nos­sen war scharf und kom­pro­miß­los. Tho­reau bleibt jedoch nicht bei einer immer mög­li­chen und meist nutz­lo­sen mora­lis­ti­schen Kri­tik dar­an ste­hen, son­dern nutzt die Aus­gangs­si­tua­ti­on, in der er sich befin­det, die allein ent­schei­den­de Fra­ge zu stel­len, näm­lich die Fra­ge nach dem guten Leben. Tho­reau for­dert uns daher auf, dar­über nach­zu­den­ken, wie wir unser Leben ver­brin­gen. Tho­reau selbst führt sein Leben abseits der Mas­se als Expe­ri­ment am Wal­den Pond, in einer Holz­hüt­te, die er an einem 4. Juli bezieht, sym­bo­lisch gese­hen als indi­vi­du­el­le Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung gegen­über der ihn umge­ben­den Gesell­schaft. Dabei gesteht Tho­reau aber die­ser Gesell­schaft sehr wohl zu, daß sie ihn zu Recht auf sei­ne Abson­de­rung hin befragt. Zu Tho­reau lie­ße sich noch viel sagen, ich beschrän­ke mich auf einen zen­tra­len Punkt: Freund­schaft als zen­tra­le Kate­go­rie auch und gera­de für den, der abseits der Mas­se leben will. Dies ist die Leh­re aus dem Byro­nisch-Nietz­schea­ni­schen Kon­zept der Abson­de­rung von der Mas­se: Nur im Medi­um der Freund­schaft läßt es sich abseits der Mas­se aus­hal­ten, nur durch die Exis­tenz von Bezie­hun­gen, die dann ihre Ver­läß­lich­keit erwei­sen, wenn sich die Mas­se gleich­gül­tig oder ver­hetzt zeigt.
Weil die Mas­se ein­fach durch ihr Sosein Mas­se ist, der Ein­zel­ne aber nicht schon durch sein blo­ßes Sosein Ein­zel­ner, liegt die Schwie­rig­keit der Anstren­gung immer auf der Sei­te des Ein­zel­nen, der zu einem Ein­zel­nen zu wer­den beschlie­ßen muß. Er muß bewußt an sich arbei­ten, weil er ohne die­se Arbeit an sich selbst gleich­sam auto­ma­tisch ein unun­ter­scheid­ba­rer Teil der Mas­se wird.
Mas­se ist immer dort, wo nicht gedacht wird – man den­ke an Heid­eg­gers Wort, wonach es das Bedenk­lichs­te unse­rer Zeit ist, daß wir noch nicht den­ken -; Mas­se ist dort, wo nur kon­su­miert, wo die Anstren­gung des Nicht­ein­ver­stan­den­seins mit der Gegen­warts­un­kul­tur gescheut wird. Eine ange­mes­se­ne Refle­xi­on auf das Pro­blem, wie man abseits der Mas­se leben soll, wird nicht dar­um her­um­kom­men, die eige­ne Schwä­che und Anfäl­lig­keit für das Mas­sen­haf­te, ja das Pöbel­haf­te, in den kal­ten ento­mo­lo­gi­schen Blick zu neh­men. Auch Gra­cián hat immer wie­der die­se Fra­ge der Selbst­er­kennt­nis mit uner­bitt­li­cher Ein­dring­lich­keit the­ma­ti­siert (Nr. 201): „NARREN SIND ALLE, DIE ES SCHEINEN, UND DIE HÄLFTE DERER, DIE ES NICHT SCHEINEN. Die Narr­heit ist mit der Welt davon­ge­lau­fen; und gibt es noch eini­ge Weis­heit, so ist sie die Tor­heit vor der himm­li­schen. Jedoch ist der größ­te Narr, wer es nicht zu sein glaubt und alle andern dafür erklärt. Um wei­se zu sein, reicht nicht hin, daß man es schei­ne, am wenigs­tens sich sel­ber. Der weiß, wel­cher nicht denkt, daß er wis­se, und der sieht nicht, der nicht sieht, daß die ande­ren sehen. Und obschon die Welt voll Nar­ren ist, so ist kei­ner dar­un­ter, der es von sich selbst däch­te, ja nur argwöhnte.”
Des­glei­chen Gómez Dávila: „Nie­mals kön­nen wir auf den­je­ni­gen zäh­len, der sich nicht selbst mit dem Blick des Insek­ten­for­schers betrach­tet”. Die nöti­ge Distanz des Ein­zel­nen zur Mas­se berech­tigt nicht zu leicht­fer­ti­ger Ver­ach­tung; sie ver­pflich­tet viel­mehr zur Arbeit an sich selbst. Die­se for­dert auch, wie der Schrift­stel­ler Hart­mut Lan­ge sagt, „die Abkehr von der sich auf­drän­gen­den All­ge­mein­heit bis hin zum Erleb­nis exis­ten­ti­el­ler Unbe­haust­heit”. Gómez Dávila betont denn auch Ent­schei­den­des, wenn er sagt: „Um Per­son wer­den zu kön­nen, benö­tigt das Indi­vi­du­um stren­ge Regeln, gleich­zei­tig muß deren Erfül­lung frei­wil­lig sein. – Wo fes­te Regeln feh­len, wird das Indi­vi­du­um Mas­se, genau­so leicht dort, wo die Unter­wer­fung unter die­se Regeln nicht frei ist.”
Das Objekt des Geläch­ters aber, um Hork­hei­mers For­mu­lie­rung wie­der auf­zu­grei­fen, muß die Mas­se sein, nicht der ein­zel­ne, der freie Geist, den als Son­der­ling zu denun­zie­ren immer ein leich­tes ist. Denn, so Hork­hei­mer: „Wenn die Men­schen ein­mal nicht mehr mar­schie­ren, dann wer­den sie auch ihre Träu­me verwirklichen.”

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