1917 und 1933 sind klar als Grundlage und Ursache für diverse Verbrechen auszumachen, zum Beispiel der Mord an den Juden durch den nationalsozialistischen Staat oder der Vernichtungszug gegen die Kulaken seitens der Bolschewiken in Rußland. – Sind nun aber die Auflösungen von Familie, Gesellschaft und Institutionen und deren Auswirkungen der Revolte von 1968 anzukreiden? Immerhin ging’s doch bloß um Vietnam, die Abrechnung mit der Elterngeneration und Rock’ n’ Roll? Wurde Wind gesät und Sturm geerntet? Oder ist das nur der Zahn der Zeit, der an allem nagt? Darüber versucht man seit Jahren mit großer Lust zu streiten, jedes harte Wort gegen die, realen oder angeblichen, Verheerungen dieser berühmten westlichen Kulturrevolution an den einzelnen Menschen und ihren Lebensumständen, wie sie beispielsweise Michel Houellebecq in seinem Romanessay Elementarteilchen beschrieb, wird sogleich kritisiert und in Frage gestellt: regelmäßige Tauchgänge in die seichten Gewässer eines ermüdenden Diskurses.
Vielleicht wird das, was von manchen im Zusammenhang mit dem Jahr 1968 als negative Auswirkungen, als etwas Schlechtes und Falsches wahrgenommen wird, ja nur durch den Pop-Appeal dieser Generation und die von ihr hervorgebrachten Veränderungen verdeckt. Der ist nämlich amtlich bestätigt: Che-Guevara-T-Shirts an jungen und auch nicht mehr ganz so jungen Körpern, Andreas Baader als „rebel without a cause” auf der Leinwand, Jimmy Hendrix in Woodstock, repressionsfreies Kiffen in einer Studentenwohngemeinschaft, Sponti-Sprüche im Kopf und an den Wänden begleiten den bemerkenswerten Marsch durch die Institutionen. Die von vielen vielleicht als notwendig empfundenen Veränderungen im Zusammenleben, der Sitten, der Moral und der Anschauungen, von denen wir zu einem großen Teil zehren und Gebrauch machen, wären wahrscheinlich auch ohne diese wirkungs- und deutungsmächtige Protestbewegung über uns gekommen. Das Problem, das bei allem Wohlwollen bleibt, ist die politische Verbrämung der ganzen Sache.
DWEM – „dead white European men”.
Und das Politische, das ist das Böse. „Das Abendland geht nämlich meiner Meinung nach gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen oder den SS-Verbrechen, auch nicht an seiner materiellen Verarmung oder an den Gottwalds und Molotows, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen. Das zoon politikon, dieser griechische Mißgriff, diese Balkanidee, – das ist der Keim des Untergangs, der sich jetzt vollzieht.” Dies schrieb im Jahr 1948 Gottfried Benn an den Herausgeber der Zeitschrift Merkur – der Berliner Brief. Der dichtende Dermatologe kannte die Tücken des Politischen nur zu gut. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren wurde er unter anderem von linken Autoren wie Johannes R. Becher und Egon Erwin Kisch wegen angeblicher antihumaner Tendenzen in seinen Schriften angegriffen, da er jegliche Art der „engagierten Literatur” als sinnlos, künstlerisch verfehlt und unnötig ablehnte. Benn verstand es zu dieser Zeit, Kunst und Leben zu trennen, ein „Doppelleben” zu führen – als Arzt ein hilfsbereiter und korrekter Zeitgenosse, als Schriftsteller ein Herr im eigenen Reich, dem Reich der „Ausdruckswelt”. Sein Verständnis von Kunst, sein Kunst-Selbstverständnis, sein philosophischer Glaube waren maßgeblich von Nietzsche und dessen „Artistenevangelium” beeinflußt. Bis ans Ende seines Lebens hat sich Benn mit dem Philosophen auseinandergesetzt; die Briefe an Freund Oelze geben ein beeindruckendes Zeugnis davon: immer wieder Nietzsche.
Von Nietzsche nun stammt die Definition der „Sezession” als „große Loslösung” – es ist nicht bekannt, ob Benn diesen Ausdruck gesondert zur Kenntnis genommen hat. Zur Kenntnis genommen werden sollte allerdings, daß Benn im Jahre 1933 die „große Loslösung” betrieb, und das für viele recht unerwartet. Sein kurzzeitiges Eintreten für den Nationalsozialismus sorgt immer noch und immer wieder für ratloses Kopfschütteln: Was gab den Ausschlag für Benns plötzlichen Glauben an die Veränderbarkeit der Welt zum vermeintlich Guten, Richtigen und Schönen? Den Ausschlag dafür, seine Stimme öffentlich für eine politische Sache zu erheben und sein bisheriges Konzept des künstlerischen Ichs, das monologisch und asozial der Welt gegenübersteht, aufzugeben? Auch wenn monokausale Erklärungen strikt abzulehnen sind, ist man geneigt zu sagen: Nietzsche, der gab den Ausschlag. Nietzsche, der tief in den Schlund des Ressentiments geschaut hatte und dieses selbst betrieb, denn die „große Loslösung” bedient sich ordentlich an der reich gedeckten Tafel des Ressentiments. Nietzsche, der neben der Rolle des unerhört genialen Philosophen seiner Zeit die Rolle des großen „Vergifters” der nachfolgenden Generation – um 1890 warnten deutsche Universitätsprofessoren eindringlich vor dem „Neo-Cynismus”, der von Nietzsche ausgehend die Jugend gefährde -, und der somit auch als der „Vergifter” Benns zu bezeichnen ist, auch wenn Benn selbst immer darauf hingewiesen hat, daß er selbst und seine Generation, die Expressionisten, und deren Werke ohne Nietzsche undenkbar wären.
Goethe und die anderen.
Benn hatte 1932, kurz vor seinem Jahr der Entscheidung, im Sonderheft der Neuen Rundschau zum hundertsten Todesjahr Goethes einen seiner brillantesten Essays veröffentlicht: Goethe und die Naturwissenschaften. Benn stellt den Dichter, Naturforscher und Staatsmann als beispielhafte, ja exemplarische Existenz dar, die noch Denken und Leben, Sein und Bewußtsein, Form und Inhalt verband, scheinbar ohne Rückgriff auf die Krücke eines Doppellebens. Und Benn entfernt sich in diesem Text von den Vorbildern seiner früheren Jahre. „Das heißt: Benn vollzieht in den Krisenessays auf seine Weise jene ‚Konservative Revolution‘, an deren politische Verwirklichung er nicht mehr glaubte. In dem Goethe-Aufsatz kommt es zu einer Apotheose der antik-mittelalterlichen Kosmos- und Adelswelt und ihres ‚natürlichen Weltbildes‘, deren Ausläufer Benn in seiner Selliner Jugend noch erlebt hatte. Der rebellierende Sohn kehrt heim in die Welt der Väter und tauscht das ästhetische Vaterbild Heinrich Mann gegen die fortan leitende konservative Vaterfigur Goethes aus.” Diese Einschätzung des Literaturwissenschaftlers Jürgen Schröder relativiert Benn 1933 auf merkwürdige Art und Weise wieder. Die Sehnsucht und das Bedauern des Verlusts eines konservativen, eines gefestigten Weltbildes und des „konstruktiven Geistes” einer früheren Zeit wird nun durch den Glauben an etwas Neues, an Veränderung überlagert, und mag das Neue auch nur der aktive Versuch einer Hinwendung zum Alten sein. Es ist vielleicht die Übersprungshandlung eines Intellektuellen, der wie viele kurzzeitig zwischen den Begriffen „konservativ” und „revolutionär” aufgerieben wurde – zur „Achse des Bösen” gehört nämlich neben dem Politischen gleichfalls das Primat des Begrifflichen und dessen zwanghafter und pervertierter Drang zur Verwirklichung von Theoremen und Träumen: nachts am Schreibtisch schaut häufig die Eschatologie vorbei.
In welcher Richtung hier, bei Benn, die „große Loslösung” auch immer vollzogen worden sein mag, die Absage an die „Vaterfigur” Heinrich Mann und damit auch an Nietzsche – Benns Verehrung für Heinrich Mann bezog sich immer auf dessen frühe, „artistische” Werke – scheint gerade 1933 noch oder wieder in weiter Ferne zu sein: totaler Staat, totale Kunst, die „Ästhetisierung des Politischen”, Züchtungsphantasien. Nietzsche taugt einfach mehr zur Revolte von 1933 als Goethe, denn der repräsentiert ja höchstens das „Glück” einer vergangenen Zeit, einer versunkenen Welt. Doch Goethe, als Prinzip, trug Benn durch die Wirren der Zeit bis zu seinem Tod, und das vermögen Utopien wohl nicht.
Nichts und viel.
Zu den von Schröder erwähnten „Krisenessays” gehört auch der Text Nach dem Nihilismus, 1932 erstmals in der national-konservativen Wochenschrift Der Vorstoß erschienen. Benn schreibt am Beginn des Aufsatzes: „Haben wir noch die Kraft, so fragt sich der Verfasser, dem wissenschaftlich determinierenden Weltbild gegenüber ein Ich schöpferischer Freiheit zu behaupten, haben wir noch die Kraft, nicht aus ökonomischen Chiliasmen und politischen Mythologemen, sondern aus der Macht des alten abendländischen Denkens heraus die materialistisch-mechanische Formwelt zu durchstoßen und aus einer sich selbst setzenden Idealität und in einem sich selbst zügelnden Maß die Bilder tieferer Welten zu entwerfen? Also konstruktiver Geist als betontes und bewußtes Prinzip weitgehender Befreiung von jedem Materialismus, psychologischer, deszendenztheoretischer, physikalischer, ganz zu schweigen soziologischer Art -, konstruktiver Geist als der eigentliche anthropologische Stil, als die eigentliche Hominidensubstanz, die, mythenbildend sich entfaltend, ewig metaphorisch überglänzt, den Menschheitsweg vollendete in der Irrealität des Lichts, in dem Phantomcharakter aller Dinge, in einer Art von weither betriebenem Spiel zwischen die Sterne ihren Raum und ihr Unendliches ergießend und die Genien der eigenen Brust mit den Himmeln und den Höllen weiter Schöpferscharen mischend.” Nun, haben wir noch die Kraft? Und wenn ja, wie kann der Einzelne diese Kraft gegenüber der von Benn umrissenen Welt einsetzen? In welcher Form wird sich also diese Kraft darstellen? Vermutlich ist es von dieser Frage und deren Implizierungen nicht weit zum Begriff der „Sezession”, zur Möglichkeit der Sezession – wie auch immer sie dann aussehen mag: mit Fackeln durchs Brandenburger Tor laufend, sich aufs Land zurückziehend – Aktionismus, Rückzug, Resignation.
Es ist Fluch und Segen unserer pluralistischen Gesellschaft, daß sie so vieles nivelliert und darum auch so vieles zuläßt. Wenig kann sie gefährden, und so versteht man auch, daß schon mal vorschnell von einem „Ende der Geschichte” gesprochen wird. Es ist also vieles erlaubt und angeblich alles möglich. Sicher, man kann nicht ohne größere Probleme in einer SS-Uniform die Straße entlangspazieren – da gibt es Grenzen -, aber man kann sich nur von Äpfeln und Nüssen ernähren, kann seine Kinder zu Hause verfassungsfeindliche Lieder vorsingen lassen, kann die Wände seiner Wohnung schwarz anmalen, kann eine große Sammlung an Pornographie sein eigen nennen, kann sich der Stille und dem Gebet in seinem Alltag widmen, kann das ganze Jahr über barfuß laufen, sehnsüchtig die Ankunft von Außerirdischen erwarten oder vehement die Gesetze der Schwerkraft ablehnen – und wenn das entsprechende soziale Umfeld da ist, und das sucht man sich ja meistens, die Nische, dann geht das schon in Ordnung und man wird auch irgendwie akzeptiert. Wir haben eine Welt, also richten wir uns in ihr ein. Sie ist nicht mehr tragisch, sie antwortet kaum: eine sich dahinwälzende Farce.
Moral als Beute – Beute als Moral.
Und wie kommt nun das Gift in die Welt, in der wir uns einrichten und eingerichtet haben? Wohl durch vielerlei, aber auch, und dies während der letzten Jahrzehnte ganz besonders, durch das Politische. Daß sich also ein Subjekt als ein politisches Wesen versteht, sich gemein macht mit der von Benn als „Balkanidee” denunzierten Sache. Wenn man nun der Auffassung sein sollte, daß sowieso alles, auch und vor allem das Private, das oben kurz umrissen wurde, politisch sei, dann dürfte die Diskussion hiermit beendet sein. Falls man aber davon ausgehen möchte, daß alles eher privat ist, auch das Politische, dann kann eigentlich erst richtig abgerechnet werden, und die Sache wird interessant. Dann müßte für den politischen Menschen die Frage, was man nun tun müsse und könne, immer schwerer zu beantworten sein. Aber für das politische Wesen, für das Politische überhaupt, scheint zu gelten, daß mit einer Aktion, Idee, einem Gesetz, einer Bewegung und all den anderen Sachen, die uns vor allem das 20. Jahrhundert bereithielt, auf Notwendigkeiten geantwortet wird – hier herrscht eisern und treu die Monokausalität. Dem muß man einen von Benn vor 1933 formulierten Allgemeinplatz entgegenhalten: „Die Notwenigkeit ruft, und der Zufall antwortet.” Wer dies versteht, akzeptiert, verinnerlicht, der müßte wissen von Tragik, von Scheitern, von Farce, von Resignation, und der sollte sogar daraus neue und vielleicht unbekannte Kräfte schöpfen. Aber irgendwie blieb das bisher aus. – Wann ist diese Reife denn zu erwarten, wann und wo eine innere Entwicklung des Menschen? Was kommt nach dem Politischen?
Der politische Mensch, wenn er uns als Idealist begegnet, was wohl oft, wenn auch verborgen, der Fall ist, operiert mit Begriffen und verdummt mit Ideen, macht aus einer Sezession einen Sezessionskrieg, offeriert konkrete Paradiese und Lösungsmöglichkeiten, will denjenigen, der möglicherweise danach strebt, frei und unpolitisch zu werden, auslöschen. Auch wenn er es nie verwirklichen sollte und sicher nie zugeben wird: Er würde die Lager bauen, die dann immer zu einem Großteil mit Leuten gefüllt sind, die einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen. Und Ruhe ist bekanntlich die erste Bürgerpflicht. Jedoch nicht für Hysteriker. – Goebbels frohlockte 1940 in Posen: „Denn das deutsche Volk ist heute ein anderes als ehedem. Wir sind ein erwachtes und ein politisches Volk.” Bei anderen Rednern ist der Begriff „deutsches Volk” durch „Arbeiterklasse” auszutauschen. Interessant, daß hier nicht von Stolz, sondern von Politik und Erwachen gesprochen wird. An ihren Begriffen sollt ihr sie erkennen!
Allerdings: Man wird doch allzu oft herausgefordert und fast unsichtbar überkommt immer wieder ein lächerlicher Zwang zum Nonkonformismus den Einzelnen und auch ganze Gruppen. Orientiert sich die Gesellschaft politisch eher links, positioniere ich mich rechts, gegen die übermächtige und alles absorbierende Ironie stelle ich meinen heiligen Ernst, und so weiter. So ungefähr verläuft dieses beliebte Spiel, das natürlich ernste Hintergründe hat, denn scheinbar gibt es immer wieder Menschen, die mit ihren Meinungen gehört werden wollen. Irgendwie partizipiert man also am großen Diskurs, kann sich nicht entziehen, und jede politische Positionierung, mag sie auch noch so sinnvoll, nachvollziehbar und möglicherweise „notwendig” sein, ist daher keine Loslösung vom „Spiel”, gegen das man fundamental etwas zu haben meint. Ich mache mit, und der Status quo aus Überzeugungen, Hysterie und Ressentiment wird ausgebaut, bis er irgendwann nicht mehr einzureißen ist. Man entzieht sich scheinbar den gängigen Diskursen, meldet zaghaft Widerstand an, oder auch laut. So wird dann schnell Passivität mit Trägheit verwechselt, der aktionistische Impetus verhindert, daß die Revolte zu lahm ausfällt. Die Antwort, die Positionierung, die „Loslösung” im Gängigen, also im Politischen, gaukelt eine riesige Relevanz vor: Jetzt machen wir das eben so, und sollen die alle mal sehen, wie dagegen wir sind – die geistige Erbfolge der eingangs erwähnten 68er. Daher gilt es zu sagen: Streue den Zweifel! Nähre die Skepsis! Sorge dich – lebe! Aber ach, Herr Goethe sagt: „Was bringt zu Ehren? / Sich wehren!”
Postheroen wursteln sich durch.
Uns brennen Fragen auf den Nägeln. Die Probleme, die angegangen werden müssen, scheinen sich meterhoch zu stapeln. Lösungen müssen her. Was nehmen wir also: Liberalismus oder starken Staat? Könnte sogar sein, daß uns für beide Sachen die passenden Menschen fehlen, die das Ganze tragen, die Fähigen, die „Steuerleute” (Karlheinz Weißmann), jene, die frei, verantwortungs- und selbstbewußt tun und machen und entscheiden. Nein, dies scheint eine andere Zeit zu sein. „Durchwursteln” ist das Gebot der Stunde, das neue Gebrauchsethos, das Konzept, das trägt beziehungsweise tragen soll. – Willkommen bei den Postheroen! Wer ein Held sein will, der muß heute zum Fußball oder zum Mittelalterrollenspiel geschickt werden, der wird es vielleicht auch mit einem Amoklauf versuchen, sich für andere Arten des Terrors entscheiden oder Zuflucht in der Kunst und Popkultur suchen: Die Gitarre: mein Gewehr. Meine Pinselführung: der Widerstand.
Die „postheroische Gesellschaft” (Herfried Münkler) also. Vielleicht nimmt sie uns ja die Entscheidungen ab und schickt in absehbarer Zeit das Politische ins Reich der Mythen und Heroen. Zumal der alltägliche und wenig heldenhaft wirkende Kompromiß und sein Konzept nicht das Schlechteste zu sein scheinen, zwar Politik, aber weniger „Balkanidee”. So viele Menschen, so viele Ethnien, Religionen, Lebenseinstellungen, Alltagsansätze – wie soll man das alles unter einen Hut bringen? Durch Unterdrückung? Durch Kapitulation? Und wer sich mit diesen Fragen und Problemen nicht auf die typisch halbgare Art und Weise auseinandersetzen und herumärgern möchte, der kann ja abhauen, das Modell des Ausstiegs wählen, von Teilen der 68er genutzt und wieder salonfähig gemacht – die Verwirklichung einer Lebensreform im Privaten, das, so ist zu hoffen, bald einmal nicht mehr politisch sein wird und Begriffe wie „Kulturrevolution” und „Schaffung einer Gegenöffentlichkeit” in den wohlverdienten Ruhestand der Wörterbücher schickt. Und dann leben wir zurückgezogen in einem Kommandostand des Postheroischen und blättern leicht wehmütig in ihnen. Schlag nach bei „So war es früher”.
Weder „Passagier” noch „Steuermann”?
Vielleicht kommen sie ja auch einmal wieder, die Helden und die Zeiten, in denen man sich heroisch bewähren muß und kann – Umstürze, Attentate, Revolten, Komplotte, Tyrannenmorde, Verschwörertreffs, Ausgabe von Waffen und von Plänen. Vielleicht aber taugen diese Konzepte der Veränderung auch nicht mehr, und Erfolg verspricht nur etwas, das sich am Konkreten ausrichtet, wie es die großen und kleinen Bürgerbewegungen der westlichen Welt vormachten: Befreiung der Sklaven, Kampf für die Gleichbehandlung der Frau, Friedens- und Umweltbewegung, kein Großflughafen Berlin-Schönefeld in der Nähe meines Kleingartens. Engagement: Doppelleben ja, asozial nein. Und auch hier schwingt die Frage mit, was denn der Einzelne tun kann zur Verbesserung der Welt und Vermehrung der Glückseligkeit unter den Menschen. Also doch ein bißchen der Wille, sich zum „Steuermann” aufzuschwingen, dem es vielleicht ein „Rette dich selbst (und wenn du es schaffst, noch deinen Nächsten)!” entgegenzuhalten gilt. Ein Ethos, das es immer wieder zu entdecken gibt und das in der Vision eines Menschen liegt, wie es vielleicht der Bauer Isak in Hamsuns Segen der Erde ist, sein eigener Steuermann und Passagier, der nie in die Nähe und Versuchung von Loslösung und Doppelleben geriet und der immer wieder unsere Sehnsucht nährt, das Richtige zu tun, ohne die ganze Schlacke des Begrifflichen. Die Sehnsucht nach einer Welt voll scheinbarer Ereignislosigkeit: „Kleines und Großes geschieht, ein Zahn fällt aus, ein Mann aus den Reihen heraus, ein Sperling auf die Erde herunter.”
Und so kommen wir am Ende noch einmal auf die beiden alten Männer, Goethe und Benn, zurück, zurück zu Ereignissen, die einst stattfanden und mächtig schienen, und zurück auf das, was sie schon andere Menschen wissen ließen. Der Jüngere der beiden zitiert am Ende seines Aufsatzes Goethe und die Naturwissenschaften den Älteren mit einer Rede vom 24. Februar 1784. Goethe ist Präsident der Bergwerkskommission des Herzogs von Weimar und eröffnet nach Jahren der Arbeit das alte Ilmenauer Bergwerk wieder, der neue Johannisschacht soll eingeschlagen werden. Und Goethe hält eine kurze Rede an die anwesenden Bürger Ilmenaus, die Bergleute und Mitglieder der Kommission und bittet sie dann zur Besichtigung des neuen Bergwerks: „Ich freue mich mit einem jeden, der heute sich zu freuen die nächste Ursache hat, ich danke einem jeden, der an unserer Freude auch nur entferntesten Anteil nimmt. … Ich bin von einem jeden, der bei der Sache angestellt ist, überzeugt, daß er das Seine tun wird. Ich erinnere niemanden mit weitläufigen Worten an seine Pflicht, ich will und kann das Beste hoffen. Meine Herren, ein jeder Ilmenauer Bürger und Untertan kann dem aufzunehmenden Bergwerk nutzen und schaden. Es tue ein jeder, auch der Geringste, das Seinige, was er in seinem Kreis zu dessen Beförderung tun kann, und so wird es gewiß gut gehen … Wenn es Ihnen gefällig ist, wollen wir gehen.” Ja, könnten wir noch das Beste hoffen, ja, würde doch ein jeder mitmachen und seinen geringen Teil beitragen zum Gelingen des Kleinen und des Großen, und mögen wir nach einem Jahrhundert der „großen Loslösung” in eines der „Hinwendung” treten, voll Liebe, uns selbst und uns gegenseitig rettend – aber ach, es schließen sich die Tore, es schließen sich die Herzen, und an wen wendet man sich nun? Niemand da, von dem es sich zu lösen lohnt.