Die Unabhängigkeit des Kosovo und der Auftritt des türkischen Staatschefs Erdogan vor der Brandruine in Ludwigshafen haben nämlich eines gemeinsam: Beide Ereignisse belegen, daß ethnische Minderheiten ab einer gewissen Größe zu staatspolitisch entscheidenden Akteuren werden können. Die durch die Globalisierung erhöhte Mobilität der Menschheit beschleunigt und erleichtert den Konflikttransfer, der zuvor durch staatliche Grenzen erschwert wurde. Historisch betrachtet, waren ethnische Minderheiten oft Sündenböcke. Aber sie waren auch oft „fünfte Kolonnen” oder „trojanische Pferde” bei Interessenkonflikten, in Grenz- und Gebietsstreitigkeiten, bei Migrationsbewegungen oder offenen Auseinandersetzungen zwischen Gast- und Herkunftsland. Sie waren Geiseln oder Druckmittel, aber selten neutral.
Auch die türkische Minderheit in Deutschland ist nicht neutral: Sie jubelt im Zweifelsfall mehrheitlich einem radikalen Politiker des Herkunftslandes bei einer Drohveranstaltung in Köln zu, einem Politiker, der gerne ein Gedicht des Dichters Ziya Gökalp zitiert: „Die Minarette [sind] unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme / Die Moscheen unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten […].”
Verwundert sind die deutschen Entscheidungsträger, wenn der Ton rauh wird und eine wachsende Minderheit den gesellschaftlichen Wertekonsens in Frage stellt oder ihre Funktion als ethnischer Brückenkopf offen zur Schau trägt. Dies ist lediglich die unbedachte Schattenseite des angestrebten Ziels der multikulturellen Gesellschaft, wieso also Verwunderung? Die zugewanderte Minderheit fühlt sich nicht mehr „fremd” – nur eben auch nicht „einheimisch”. Die psychologische Geographie hat sich verändert. Bestenfalls sehen sich die Migranten berechtigt, formal ihre Wertevorstellungen (eigene Lebensabläufe, Sozialisationsinstanzen und die Wahrung der Herkunftsidentität) mit denen der Autochthonen als Gruppe gleichzustellen. Im schlimmeren Falle fühlen sie sich als Kolonisten auf fremdem Terrain, das es zur Kopie der Heimat umzuwandeln gilt. Sie sind bereit zur Partizipation im Erwerbsleben und im Sozialsystem, aber keineswegs zu Integration oder gar Assimilation.
Die Utopie einer multikulturellen Gesellschaft ist nicht einmal mehr in der Lage, den Teilnehmern einer Talkshow Glanz in die Augen zu zaubern. Die letzte Verteidigungslinie ist die Feststellung Heiner Geißlers, daß es zum Weiterwurschteln keine Alternative gebe. Bei der Suche nach Erklärungen für das Scheitern des Gesellschaftsentwurfs und dem wiederholten Bekenntnis zur kulturellen Unterwürfigkeit, schwingt auch etwas Angst mit.
Es ist die Angst vor der Erkenntnis, daß den Konstrukteuren der „Bunten Republik Deutschland” ein wesentlicher Denkfehler unterlaufen ist. In fünf Punkten:
1. Manche Kulturen bereichern einander, manche zerstören sich gegenseitig. Der Verlauf der Beziehungen (bereichernde Assimilation oder gewalttätige Balkanisierung) wird weniger durch guten Willen, ökonomische Notwendigkeit oder volkspädagogische Plädoyers bestimmt, als vielmehr durch kulturelle Kompatibilität und Demographie. Der „Kampf der Wiegen” (Eibl-Eibesfeldt) bestimmt, wessen Werte gelten und wer verdrängt wird. In beiden Fällen ist die Integrationsprognose aus Sicht der Gastgeber eher ungünstig.
2. Integration gelingt entweder durch kompromißlose Härte (und ist dadurch eher ein Zwang zur Assimilation), oder sie ist ein Prozeß beidseitiger Freiwilligkeit, die nur schwer künstlich erzeugt werden kann. Wo indes weiche Integrationsstrukturen – etwa geförderte häufige Begegnungen – geschaffen werden müssen, ist die Integration im Prinzip schon gescheitert. Menschen erkennen durch künstlich vermehrten Kontakt nämlich nicht nur ihre Ähnlichkeit, sondern auch die Unüberwindbarkeit bestimmter Wertunterschiede. Kompatible Kulturen arrangieren sich ohne Sozialingenieure.
3. Kulturen und Ethnien verfügen über unterschiedliches Kulturkapital. Das allgegenwärtige Mobilisierungspotential der türkischen, arabischen und kurdischen Minderheiten deutet nicht nur auf die demographischen Vorteile gebärfreudiger Diasporagemeinden hin, sondern ist ein klares Indiz für engere Identifikationsradien und die martialische Sozialisation in sogenannten „Kriegerkulturen”. Beispiele zeigen, daß bei nationalen Ereignissen in solchen Volksgruppen Medien, Regierung und Volk eine ethnonationalistische Dynamik entwickeln, die im Europa des 21. Jahrhunderts schwer ihresgleichen findet. Schlachtrufe von den Tribünen türkischer Fußballstadien illustrieren das überzeugend: „Eu-ropa! Höre unsere Stimme!/ Was Du hörst, sind die Schritte der Türken./ Niemand kann es mit den Türken aufnehmen./ Europa, Du Schlampe!/ Nimm Dich in acht!”
Wenn es um den EU-Beitritt geht, unterscheidet sich der Ton der Türkei auch sehr stark vom freundlichen Anklopfen anderer Kandidaten. Im Notfall kann sich das Land auf die handfeste Unterstützung seiner in der Diaspora lebenden „Verwandten” verlassen. Ausschlaggebend ist dabei die starke Beziehungsorientierung bei Völkern, die weder die Aufklärung noch die psychologische Erschöpfung der beiden Weltkriege im kulturellen Gedächtnis tragen.
Die Ideologie der multikulturellen Gesellschaften beruht hingegen grundsätzlich auf der Annahme, daß weitgehend normativer gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden kann und daß Spielregeln durchsetzbar sind. Beziehungsorientierte Kulturen befinden sich jedoch nicht selten im Loyalitätskonflikt mit diesem Regelgerüst, weil Regeln keineswegs als wertneutral betrachtet werden können oder über eine Universalgültigkeit verfügen, sondern zutiefst kulturspezifisch sind. Verfügen ethnische Brückenköpfe über eine kritische Masse und eine hohe ethnische Mobilisierung, hebeln sie die ungeliebten Regeln aus oder zwingen den Staat dazu, diese nicht mehr durchzusetzen. Der Konflikttransfer im Fall Öcalan 1999 zeigte, daß die Furcht vor einer Eskalation so stark sein kann, daß der Rechtsstaat handlungsunfähig wird oder seinen eigenen Haftbefehl ignoriert.
4. Im Loyalitätswettbewerb zwischen einem Staat mit kulturell und demographisch erschöpfter Urbevölkerung und der selbstbewußten Herkunftsidentität einer mobilisierten Minderheit, verliert erfahrungsgemäß der Staat, wie die Geschichte des Kosovo wieder zeigt. Sich attraktiver für Migranten zu präsentieren, seine Strukturen verstärkt zu öffnen, um durch größere Teilhabe die Wertschätzung zu erhöhen, funktioniert nicht, wenn die Inkompatibilität der jeweiligen Kulturen nicht überwunden worden ist. Denn ansonsten durchdringen unzuverlässige „Staatsbürger” die staatlichen Strukturen und sorgen für Fragmentierung oder Lähmung, bis hin zur gänzlichen Dysfunktion. Die Suche nach haltbaren Kompromissen scheitert an der Notwendigkeit, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Dieser ist dann selten fruchtbar genug, um eine Senkung von Standards jeglicher Art zu verhindern. Der Staat als Integrationsinstanz oder gar ‑motor kann dadurch zuletzt sogar in die geographische Fragmentierung getrieben werden (wie Serbien) oder in Gänze an seinen vielfältigen Bruchlinien scheitern, mit allen Vorstufen eines Vorbürgerkriegs und eines Verfalls funktionierender Regelwerke.
5. Die Dauerhaftigkeit und Gefährlichkeit solcher Bruchlinien wird von den Befürwortern multikultureller Gesellschaften regelmäßig unterschätzt. Sie erkennen nicht, daß multikulturelle Gesellschaften stets Konfliktgesellschaften sind.