Die Union muß sich in Hannover anders als in den beiden Nachbarländern im Norden und Süden nicht den Kopf über (un-)mögliche neue Koalitionen zerbrechen (Hamburg), oder gar den Machtverlust ertragen (Hessen): Ministerpräsident Christian Wulff setzt nicht nur das Bündnis mit dem Wunschpartner FDP fort, sondern verzichtete auch nahezu ganz auf Auswechselungen in der Regierungsmannschaft. Lediglich ein Tausch an den Spitzen des Kultus- und des Justizministeriums wurde vollzogen. Schnell deuteten Beobachter diese einzige Änderung als eine Abschiebung des bei Wulff offenbar nicht sonderlich beliebten Bernd Busemann in das Justizressort, während dessen ehemalige Chefin Elisabeth Heister-Neumann künftig mit der obersten Leitung des Schulwesens betraut wird. Auf dem Gebiet hat die Union sicherlich mit am meisten Prestigeverlust erlitten. Zwar löste sie in der vergangenen Legislaturperiode endlich ihr Wahlversprechen ein, die Orientierungsstufe als eigenständige Schulform (Klasse 5 und 6) abzuschaffen; da jedoch der Elternwille und nicht die Empfehlung der Grundschule ausschlaggebend für den Besuch der weiterführenden Schule ist, platzen die Gymnasien aus allen Nähten, während die Hauptschulen veröden. Um nicht kurz vor dem Urnengang die Wähler doch noch wieder in die Fänge der bildungspolitisch egalitären SPD zu treiben, mußte Busemannn schließlich auch seinen Widerstand gegen die Ausweitung des Angebots an Gesamtschulen aufgeben.
Mit der lautlosen Regierungsneubildung ist aus Sicht der Wulff-Truppe bereits eine wesentliche Hürde überwunden. In der niedersächsischen CDU gilt es nämlich nicht, verschiedene Parteiflügel (die es eigentlich schon gar nicht mehr gibt) in das Machtgefüge von Kabinett und Landtagsfraktion einzubinden, sondern eben dort den Regionalproporz zu berücksichtigen; denn – so paradox es klingt – nirgendwo tritt so deutlich wie hier zutage, daß der von der britischen Besatzungsmacht 1946 geschaffene Flächenstaat eigentlich ein Kunstgebilde ist. Die CDU ist ein Jahr älter als das Bundesland, und so existieren – als landesspezifisches Kuriosum – neben den Bezirks- noch zwei weitere Landesverbände (Oldenburg und Braunschweig) innerhalb Niedersachsens, die noch dazu auf Bundesebene unabhängig agieren. Entsprechend selbstbewußt treten die Regionalfürsten der Union auf, und so ist die Kabinettsbildung, für die der Wohnsitz eines möglichen Postenbewerbers schon mal wichtiger sein kann als seine Fachkompetenz, stets ein ausgesprochener Balanceakt.
Während also Christ- und Freidemokraten schon am Wahlabend unisono betonten, sie hätten den Beweis für den möglichen Fortbestand bürgerlicher Mehrheiten in Deutschland erbracht, werden die kleinen Schönheitsfehler beschwiegen: In absoluten Zahlen verlor die Wulff-Union 470.000 Wähler, allein 270.000 ehemalige Anhänger von Schwarz-Gelb blieben diesmal gleich ganz zu Hause.
Ein Blick auf die Landkarte, in der die regionalen Parteipräferenzen eingezeichnet sind, beweist, daß es die klassischen Wählermilieus durchaus noch gibt: Niedersachsen wählt dort schwarz, wo es ländlich, traditionsverbunden und – vor allem – katholisch ist: im Emsland, in Cloppenburg und südlich von Osnabrück erzielte die Union auch diesmal wieder Ergebnisse von über sechzig Prozent der Zweitstimmen, während die SPD dort zum Teil bei lediglich 15 Prozent dümpelte.
Umgekehrt sind die klassischen Industriegebiete Peine, Salzgitter, ebenso wie das strukturschwache Ostfriesland und der äußerste Südzipfel Niedersachsens tiefrot; dort erlangten die Sozialdemokraten außerdem fast alle zu vergebenden Direktmandate. Und auch in den Wahlbezirken der großstädtischen Ballungsräume brachte es die Union teilweise bloß auf magere 25 Prozent.
Grün sind die Wohnorte der „Postmaterialisten”, also die gehobenen Altbauviertel der Groß- und Universitätsstädte (z.B. mit über 20 Prozent in Göttingen-Stadt). Und wo das Einkommen niedrig, die Arbeitslosenquote hoch und die Nachbarschaft eingewandert ist, wählte man tiefrot: in Hannover-Linden, Wilhelmshaven oder Delmenhorst.
Natürlich war der mühelose Einzug der „Linken” bei ihrer niedersächsischen Landtagswahl-Premiere die Sensation; hatte die „alte” West-PDS bei ihrem letzten Soloauftritt 2003 doch nur schlappe 0,5 Prozent der Zweitstimmen erhalten. Nun sitzen 10 Abgeordnete als fünfte Fraktion im Leineschloß, die nicht nur fest im linken Gewerkschaftsspektrum verankert sind, sondern in mindestens zwei Fällen auch über gute Verbindungen ins Lager „autonomer Antifaschisten” verfügen. Die DKP-Frau Wegner wurde wegen ihres allzu ostalgischen Fernsehauftritts sogleich mit großer Geste aus der Fraktion verbannt – obwohl sie dieser qua Geschäftsordnung ohnehin nicht hätte angehören dürfen.
Fast überflüssig zu betonen, daß am rechten Rand totale Flaute herrscht: Die Republikaner verzichteten gleich ganz auf einen landesweiten Wahlantritt und beließen es bei einem einzigen Direktkandidaten. Die NPD beschränkte sich darauf, lange vor dem eigentlichen Wahlkampfbeginn ein wenig für Furore zu sorgen. Mit der Nominierung des ehemaligen Waldorf-Pädagogen Andreas Molau zum Spitzenkandidaten gelang es ihr, zumindest in einigen Strategiezirkeln der Union Verwirrung und Unruhe zu stiften; dort nämlich war der NPD-Mann einerseits völlig unbekannt, andererseits genügte der Hinweis, es handele sich dabei offenbar um einen „Rechtsintellektuellen”, um hektische Betriebsamkeit auszulösen. Man befürchtete das Einsickern rechter Kader in eigene Wahlveranstaltungen, und so wurden flugs Formulierungshilfen und Merkblätter produziert, um nach Möglichkeit die eigenen Leute in solchen Fällen vor einem argumentativen Schiffbruch zu bewahren.
Am Ende war die ganze Aufregung offensichtlich übertrieben, die NPD erreichte lediglich 1,5 Prozent. So machte sich auch der Versuch, mit einer Einbindung sogenannter „Freier Nationalisten” den Spagat von Bildungsbürger bis Bürgerschreck hinzubekommen, in den Wahlkabinen nicht bezahlt.
Unionsintern heißt die Lektion nach Niedersachsen: Polarisierungen vermeiden (siehe Hessen als abschreckendes Beispiel), weiter auf der liberalen Linie à la Rüttgers-Wulff-Beust. Ein interessantes Spannungsverhältnis ergibt sich, wenn man diesem Umstand die – oben erwähnte – schwarze Stammwählerschaft gegenüberstellt: Niemand steht loyaler zur CDU als diejenigen, deren Wertvorstellungen am rasantesten aus dem Programm dieser Partei getilgt werden.