Wenn sich nun sein Todestag zum zehnten Mal jährt, ist dergleichen wohl nicht zu erwarten. In derselben Stadt ging vor kurzer Zeit eine Lesung des Jünger-Biographen Heimo Schwilk weitgehend diskussionsarm über die Bühne. So begrüßenswert es ist, wenn aus den Feuilletons jenes „antifaschistische” Geschichtsbild verschwindet, das Jünger einseitig auf die Rolle eines Bellizisten und – mindestens – Prä-Nazis festlegen will, so bedauerlich wäre umgekehrt eine fortschreitende biographische Glättung, die sein Wirken als einer der profiliertesten Köpfe der revolutionären Rechten ab der Mitte der zwanziger Jahre bis 1933 ausklammerte. „Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, falls man nicht zu den Primitiven zählen will.”
Dieser Passus am Beginn von Jüngers Strahlungen ist berühmt geworden. Obwohl er unmittelbar an eine Bemerkung über das „Schicksal Nietzsches” anschließt, „den zu steinigen heute zum guten Ton gehört”, ist evident, daß der Autor hier vor allem auf sein eigenes Schicksal anspielt. Als Seismograph oder Barometer wollte Jünger gesehen werden; als jemand, der lediglich angezeigt und aufgezeichnet hat, was an Veränderungen und Erschütterungen mit Gewalt über den Planeten und die Menschen gekommen ist. Der Seismograph löst nicht das Beben aus, das Barometer nicht den Taifun – und wer anderes behauptet, gehört eben zu den Primitiven. Dieses Verdikt träfe dann etwa auch Thomas Mann, der Jünger im Dezember 1945 diffamierend einen „Wegbereiter und eiskalte(n) Genüßling des Barbarismus” nannte.
Begünstigt wird die Wirkung dieses Bildes vom Seismographen durch den Verweis auf Jüngers Schriften Die totale Mobilmachung (1930) und Der Arbeiter (1932), die beide – revidiert – Eingang in die Gesamtausgabe fanden. In ihnen gibt es tatsächlich Anhaltspunkte, die die rückblickende Behauptung des Verfassers, es handele sich um „eine Feststellung, … keine Wertung” (so Jünger 1982 in einem Spiegel-Interview) zutreffend erscheinen lassen. Mit dem Hinweis auf den geschichtsphilosophischen Gehalt dieser Essays begegnete Jünger auch den Einwänden Wohlmeinender, die wegen der politischen Brisanz von einer Kanonisierung abrieten. Und nicht zuletzt konnte sich Jünger auf die nationalsozialistische Kritik am Arbeiter berufen, die das Buch als „bolschewistisch” verriß.
Doch ist dieser vermeintlich neutrale Standpunkt auch im Falle des Arbeiters erst im nachhinein von Jünger so dezidiert betont worden. Denn vor dem Erscheinen stellte er in einem Schreiben an einen Verlagsmitarbeiter ausdrücklich klar, daß Der Arbeiter in einer Kontinuität mit seiner bisherigen politischen Publizistik stehe: „Da ich seit Jahren mit meinen politischen Aufsätzen starken Anklang gefunden habe, fühle ich mich bei der Herausgabe meines ersten politischen Buches verpflichtet, die Erwartungen zu rechtfertigen …” Mit der Begründung, das Werk sei zu kurz vor 1933 erschienen, als daß es den neuen Machthabern als ideologische Grundlage hätte dienen können, wollte Jünger den „nicht immer anerkennend” gemeinten Stimmen entgegentreten, die dem Arbeiter einen solchen „Einfluß darauf zubilligten”. Außerdem, so Jünger weiter, überschätze er „den Einfluß von Büchern auf die Aktion nicht”. Doch genau das sah der politische Publizist der zwanziger Jahre offenbar noch ganz anders. In seinem 1927 im Arminius erschienenen Aufsatz „Nationalismus und Nationalsozialismus” legte Jünger gerade besonderen Wert auf die Bedeutung der „vorwiegend literarischen Tätigkeit” der Vorkämpfer des „Neuen Nationalismus”. Während der Nationalsozialismus „als politische Organisation auf die Gewinnung von tatsächlichen Machtmitteln angewiesen ist”, um „eine Idee zu verwirklichen”, sei es die Aufgabe des Nationalismus, „sie möglichst tief und rein zu erfassen”. Jemand, der dies tue, könne schwerer wiegen „als hundert Sitze im Parlament”. Mit der Schaffung eines „neuen Deutschland” sei, so Jünger unter Rückgriff auf eine Formulierung Adolf Hitlers, die Aufgabe des Nationalsozialismus beendet; dazu sei aber außer machtpolitischen Erfolgen auch die „Vertiefung” der nationalsozialistischen Idee nötig, die dann ausschließlich als „die deutsche anerkannt werden kann”.
Daß Ernst Jünger mit der Funktion eines Wegbereiters, die in solchen Formulierungen enthalten ist, offensichtlich in dieser Zeit keine Probleme hatte, davon zeugt auch die folgende, freilich noch sehr allgemeine Aussage: „Der große Führer ist noch nicht aufgetreten. Sein Erscheinen entspricht einem Naturereignis, es ist nicht vorauszusehen und läßt sich durch keine Maßnahmen beeinflussen. Ihm jedoch die Wege zu bahnen, ist die nächste Aufgabe des Frontsoldatentums.”
Von einer „Anfangsperiode warmer Sympathie” sei das Verhältnis Ernst Jüngers zum Nationalsozialismus zunächst gekennzeichnet gewesen, so Hans-Peter Schwarz. Davon zeugt ein Beitrag Jüngers im Parteiblatt der NSDAP aus der Zeit vor dem Hitlerputsch: „Die echte Revolution hat noch gar nicht stattgefunden, sie marschiert unaufhaltsam heran. Sie ist keine Reaktion, sondern wirkliche Revolution mit all ihren Kennzeichen und Äußerungen, ihre Idee ist das Völkische, … ihr Banner das Hakenkreuz, ihre Ausdrucksform die Konzentration des Willens in einem einzigen Punkt – die Diktatur! … Das sind die Ziele, für die auf unseren Barrikaden gefochten wird!”
Später bringt er seine Sympathie für den Nationalsozialismus noch einmal zum Ausdruck. Neben dem Kriegserlebnis, so Jünger in einem Beitrag für das Stahlhelm-Jahrbuch 1926, habe auch das Erleben der Revolution einen tiefen Eindruck hinterlassen; dadurch sei im eigenen Denken außer dem Nationalismus noch dem Sozialismus ein wesentlicher Platz eingräumt worden – „… und daß es sehr vielen so gegangen ist, das beweist die Gründung der Nationalsozialistischen Partei …” Weiter heißt es: „Nun, wir haben als Anhänger den plötzlichen Aufstieg dieser Partei erlebt, wir waren in den Novembertagen begeistert dabei, wir haben den Fehlschlag für einen unerklärlichen Irrtum der Geschichte gehalten.” Auch an anderer Stelle kommt Jünger auf den mißlungenen Hitler-Putsch zu sprechen, den er als „noch unklaren Aufstand in München” umschreibt, bei dem allerdings der Nationalismus noch mitten im Prozeß einer innerlichen Überwindung der „Formen eines alten Staates” gesteckt habe. Hier macht er allerdings keinen ausdrücklichen Unterschied zwischen Nationalismus und Nationalsozialismus, sondern subsumiert diesen unter jenem.
Jünger führte in einem Artikel in der von ihm mitherausgegebenen Standarte aus, wie der „moderne nationalistische Staat”, der „Staat der Zukunft” seiner Meinung nach auszusehen habe: „Er wird national sein. Er wird sozial sein. Er wird wehrhaft sein. Er wird autoritativ gegliedert sein.” Keineswegs beschränkte sich Jünger dabei auf die Betrachtung von Ereignissen, die ohnehin kommen würden, sondern forderte seine Leser zur Beteiligung am Aufbau dieses Staates auf: „Erkennt, was die Uhr geschlagen hat, stellt das einzelne zurück und laßt Euch blenden durch den Glanz des Zukünftigen … Wir müssen vorwärts, solange das Feuer noch in uns ist! Uns stehen noch die größten Aufgaben bevor und gerade wir sind es, die sie lösen müssen.” Jünger forderte den Zusammenschluß der „Einzelbewegungen” zur „nationalistischen Endfront”, denn „die Form unserer Bewegung wird auch die Form des zukünftigen Staates sein”. Zu den angesprochenen Einzelbewegungen gehörte ausdrücklich die Partei Hitlers, mit deren Hilfe die Arbeiterschaft gewonnen werden sollte: „Der Nationalsozialismus besitzt auf Grund seiner andersgearteten Führerschicht diese Fähigkeit, und es wird kein entscheidender Erfolg erzielt werden, ehe man sich nicht … von beiden Seiten her die Hand gegeben hat”. Der Nationalist Jünger plädierte für eine klar getrennte Aufgabenverteilung: „Soldaten als Führer im Machtkampf, Arbeiter als Führer im Wirtschaftskampf”.
Auch hinsichtlich seines aktivistischen Ansatzes für den Machtkampf ließ Jünger seine Leserschaft nicht im Unklaren: „Es wird nicht protestiert in Vortragsreihen … sondern sehr sachlich und nüchtern mit Handgranaten und Maschinengewehren auf dem Straßenpflaster”. Das Ziel hatte Jünger ein gutes halbes Jahr zuvor bereits bekanntgegeben: „Der Tag, an dem der parlamentarische Staat unter unserem Zugriff zusammenstürzt, und an dem wir die nationale Diktatur ausrufen, wird unser höchster Festtag sein.” In demselben Artikel Jüngers heißt es über die Anfänge der NSDAP durchaus anerkennend: „Hitler tat einen großen Schritt vorwärts, er sagte, was er wollte, und er sagte es so gut, daß er selbst in weiten Kreisen der Arbeiterschaft schlagartig verstanden wurde.” Die Behauptung von Jüngers publizistischem Gegenspieler Peter de Mendelssohn: „Nicht Welten, nur Schulen trennen ihn von Adolf Hitler!”, erscheint auf solche Aussagen bezogen durchaus plausibel.
Daß der anfänglichen Sympathie laut Schwarz „eine längere Zeit vorsichtiger Reserve” Jüngers gegenüber dem Nationalsozialismus folgte, lag nicht etwa an dessen zunehmender Radikalisierung, sondern umgekehrt an dem Legalitätskurs, den die Partei eingeschlagen hatte.
Damit schien sich die NSDAP dem parlamentarischen System in einer Weise anzunähern, die Jünger in seinem elitären Rigorismus ablehnte. Als Hitler schließlich 1929 aus taktischen Gründen von der Landvolkbewegung abrückte, rügte Jünger dies öffentlich als egoistisch und zutiefst bürgerlich: „Wir haben von Anfang an einen Unterschied zwischen Nationalismus und Nationalsozialismus gemacht”, behauptete der nationalistische Schriftsteller in einem „Reinheit der Mittel” betitelten Artikel in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift Widerstand. Trotz der Kritik heißt es am Schluß des Artikels jedoch: „Wir wünschen dem Nationalsozialismus von Herzen den Sieg; wir kennen seine besten Kräfte, deren Begeisterung ihn trägt … Aber wir wissen auch, daß er seinen Sieg nur dann erfechten kann, wenn … auf jeden Zusatz aus den brüchigen Resten einer vergangenen Zeit verzichtet wird.”
Daß Hitler nicht wegen Jüngers politischer Publizistik an die Macht gekommen ist, versteht sich von selbst. Was dessen Wegbereiter-Dasein angeht, so ist daher seine Formulierung im Tagebuch der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus passend: „Wenn ein Pulverturm in die Luft fliegt, überschätzt man die Bedeutung der Streichhölzer.” Genauso trifft jedoch Hans-Peter Schwarz’ Feststellung zu, Jünger habe „bis in die dreißiger Jahre hinein die kriegerische, nationale und sozialistische Diktatur nicht allein prophezeit, sondern auch postuliert”.
Jünger selbst legte in der nach dem Ende des „Dritten Reiches” einsetzenden Debatte um seine Person und Rolle als „Wegbereiter” zunächst lediglich Wert auf eine strikte Trennung zwischen dem Politischen und dem Literarischen: „… das politische Leben eines Autors besagt gar nichts über seinen literarischen Rang. Wenn meine Gegner das nicht begreifen, so ist das ihre Sache – was mich betrifft, so möchte ich auf keinen Fall mich politisch verteidigt sehen”, schrieb er 1947 an seinen Mitarbeiter Armin Mohler. Die „Inkongruenz von Selbstverständnis und realer Funktion, die Wirkung wider Willen”, nannte Karl Prümm dieses „Dilemma Jüngers”.
Jünger hat sich allen Hofierungen durch die Nationalsozialisten unmittelbar vor und nach 1933 konsequent entzogen, hat weder ein Reichstagsmandat noch den Platz in der Dichter-Akademie angenommen. Daß er dennoch – trotz Auf den Marmorklippen, trotz seines erzwungenen Ausscheidens aus der Wehrmacht – nach 1945 zunächst mit Publikationsverbot belegt wurde, macht eine verbitterte Reaktion und die daraus resultierende Formulierung von den geschlagenen Seismographen nachvollziehbar. Daß dieses Bild bezogen auf seine politische Rolle vor Hitlers Regierungsantritt nicht zutreffend ist – oder zumindest nicht in dieser Ausschließlichkeit, sollte herausgestellt werden, will man Jünger nicht ex post entschärfen.