Insofern leben wir in konservativen Zeiten. Man muß sich diesen Sachverhalt vor Augen halten, um zu verstehen, wieso keines der aktuellen Großprobleme – Handlungsunfähigkeit der EU, Wirtschaftskrise der PIGS, Zerfall von innerer Sicherheit und Bildungssystem, Desintegration und Volkstod, Fluchtbedürfnis in Teilen der Politischen Klasse – zur Forderung nach einer Generalrevision führt. Die Mächtigen sind sich selbstverständlich einig, daß am besten alles unverändert bleibe. Die Ohnmächtigen haben resigniert oder können sich kein Gehör verschaffen. Gleichzeitig wird der Ton autoritärer, dem Abweichler droht man offen mit Disziplinierung, und es gibt keine Öffentlichkeit, die das zu korrigieren wüßte, nirgends ein »Sturmgeschütz der Demokratie«. Auch das kann man als konservativ deuten, ebenso wie die Neigung zum »Hinzu-Lügen«, auf das Nietzsche als Merkmal des Konservativen hingewiesen hat: den Wunsch, die Dinge aufzuputzen, sich und anderen etwas vorzumachen, optimistisch daherzureden und jedenfalls den Verantwortlichen immer Gründe zu unterstellen, wo es nur um schlechte Gewohnheit geht.
Daß die Dinge so sind, hängt wesentlich damit zusammen, daß unser Gesellschaftssystem im vergangenen Halbjahrhundert ein erstaunliches Maß an Stabilität gewonnen hat. Das stand nach der revolutionären Neuordnung Westeuropas zwischen 1944 und 1949 nicht unbedingt zu erwarten, denn was sprach schon dafür, daß parlamentarische Verfassungen sich im zweiten Anlauf stabiler zeigen würden als im ersten? Aber die amerikanische Kontrolle der Entwicklung und die Abschottung des östlichen Kontinents durch die Sowjetunion führten zur Entstehung einer einmaligen historischen Lage, in der die Verbannung des Krieges an die Peripherie und die gezielte Homogenisierung der Eliten, der Bedeutungszuwachs und die Einbindung der Medien, die Abkehr von verantwortlicher Geldpolitik und die Forcierung des Massenkonsums ganz neue Möglichkeiten sozialer Lenkung und Kontrolle eröffneten.
Wer diese Entwicklung nicht nur im Detail, sondern grundsätzlich kritisierte, sah sich seit dem Ende der sechziger Jahre an den Rand gedrängt. Was es an Vorbehalten gegenüber einer »Schönwetterdemokratie« oder der Leugnung des »Ernstfalls« bis dahin gegeben hatte, schwand angesichts der Plausibilität eines Fortschritts, der allen alles immer länger immer mehr zu garantieren schien. Und im Überbau wirkte eine Geschichtsphilosophie für schlichte Gemüter, die allgemeine Akzeptanz fand, auch weil sie mit der frohen Botschaft verschränkt war, daß das, was im westlichen Wohlstandsgürtel möglich sei, qua »Entwicklung « auf dem Rest des Globus umgesetzt werden könne.
Selbstverständlich war diese Vorstellung im Kern unpolitisch, setzte lange vor dem »Ende der Geschichte« bei der Vorstellung an, daß eine Welt ohne Antagonismen möglich sei, daß nur noch wirtschaftende Individuen auf der einen Seite, die Menschheit auf der anderen Seite eine Rolle spielen würden. Man kann dafür ein gewisses Verständnis aufbringen, bedenkt man den Überdruß und die Überlastung, die die totale Politisierung in der ersten Jahrhunderthälfte zur Folge gehabt hatten. Aber das Inrechnungstellen der »einen Welt«, der naive Gedanke, daß jeder offene Konflikt nur als Verzögerung, aber nicht als echte Infragestellung zu betrachten sei, hat zu einer fatalen Fehleinschätzung der Gesamtsituation geführt. Das Politische ist seither keineswegs verschwunden, sondern nur kaschiert, mit der Folge, daß die Sinne abstumpften und das Mißtrauen eingeschläfert wurde, das sonst der Behauptung galt, die entscheidenden Fragen seien geklärt und könnten nicht wieder aufgeworfen werden.
Eine solche entscheidende Frage ist die nach der »Souveränität«, und es wurde sehr viel Mühe darauf verwendet, jedes Nachdenken über die Souveränität an sich und die deutsche Souveränität im besonderen zum Verschwinden zu bringen, ohne daß zu klären war, wo der Besitz der ausschlaggebenden politischen Macht geblieben sein könnte. Abgesehen von den Grünen in ihrer Kampfzeit hat niemals eine Partei von Gewicht das Problem aufgeworfen, haben die (West-)Deutschen mehrheitlich immer jene Gruppierungen gewählt, die ausdrücklich erklärten, daß Souveränität von Übel sei und am besten delegiert werden sollte. Mit triumphierendem Unterton erklärte man dem Bürger, wie viel Prozent aller Entscheidungen in »Brüssel« gefällt werden, warum ohne Zustimmung der UNO dieses oder jenes zu tun gar nicht mehr möglich sei. Auch das hatte und hat mit dem Wunsch nach Verantwortungslosigkeit zu tun und der Möglichkeit, sich darauf herauszureden, daß es eben kommt, wie es kommt.
Die Vertreter dieses Standpunkts betrachten sich als Realisten, aber ihr Wirklichkeitssinn hat erkennbar gelitten und um die Realität des Politischen geht es ihnen nicht: Denn sie wird immer von Machtverhältnissen bestimmt. Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek hat kürzlich auf diese wenig populäre Tatsache hingewiesen und darauf, daß man den »Grundsatz der souveränen Staatlichkeit« zu den »Verfassungsprinzipien« rechnen müsse. Murswiek geht es nicht um irgendeine idealisierte Vorstellung von Selbstbestimmungsrecht und staatlicher Unabhängigkeit, sondern um Widerstand dagegen, daß konkrete Interessen der einen und Lässigkeit der anderen Seite dazu führen, die deutsche Staatlichkeit in einer Art naturgesetzlichem Prozeß auf die Europäische Union zu überführen. Der EU würde damit die Möglichkeit eingeräumt, alle Merkmale eines Staates durch Absorption der Souveränität ihrer Mitglieder an sich zu ziehen.
Der letzte Punkt ist deshalb von Belang, weil zu den zentralen Behauptungen der Politischen Klasse in Berlin gehört, daß die großen Integrationsprozesse unumkehrbar ablaufen, nach einem Modell, das aus der Entstehung der Nationalstaaten abgeleitet wird, die die kleineren politischen Einheiten ihrerseits aufgesogen und mediatisiert haben. Nur ist ein solcher Analogieschluß trügerisch, da mit der Durchsetzung des Nationalstaats als normatives Gebilde des Völkerrechts eine Einheit entstand, die nicht durch andere – also supranationale – ersetzt werden kann, ohne daß das staatliche Gefüge selbst in Frage gestellt würde. Zu den Hauptmerkmalen von Staatlichkeit gehört Souveränität, und sie äußert sich zuerst in Handlungsfähigkeit: »Im Unterschied zu sonstigen menschlichen Verbänden«, heißt es bei Murswiek, »ist der Staat nicht auf die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben beschränkt, sondern er kann sich seine Aufgaben selbst stellen.«
Das vorausgesetzt, gibt es so etwas wie »Alternativlosigkeit« im strengen Sinn nicht. Der Staat kann immer auch anders. Murswiek wehrt deshalb die Unschärfe der üblichen Argumentation ab, die Versuche, auf schleichendem Weg Institutionen auszuhöhlen und die legitime Ordnung zwar nicht offen in Frage zu stellen, aber gleitend in etwas anderes zu überführen, das keine Legitimität beanspruchen kann, diese aber so geschickt usurpiert, daß der eingeschläferte demos das nicht oder zu spät bemerkt. Das hat wenig mit der Behandlung eines rein akademischen Problems zu tun, sondern setzt die Linie einer Argumentation fort, die Murswiek schon bei seiner Kritik der »Bush-Doktrin« und des behaupteten Interventionsrechts der USA, dem Vorgehen gegen den Vertrag von Lissabon und dann den »Rettungsschirm« der EU-Staaten für die maroden griechischen Finanzen verfolgt hatte. Im Kern verteidigt er immer den Grundsatz der Handlungsfreiheit im Politischen, bekämpft die Behauptung, daß es keine Wahl und damit keine Verantwortung gebe, weil so nur konkrete Machtverhältnisse verschleiert oder Bequemlichkeit gerechtfertigt wird.
Heute ruft schon der Hinweis auf diese Zusammenhänge erwartbare Proteste hervor. Dabei vermeidet Murswiek, das Problem der tieferen Ursache zu berühren, warum überhaupt mit solchem Erfolg die Irreversibilität der bestehenden Verhältnisse behauptet wird. Diese sollte man in einer Formschwäche suchen, die die Kehrseite der erwähnten Stabilisierung ist und schon nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu bemerken war: Der Abstieg Europas und der Aufstieg der Supermächte, der Verlust der Kolonien und die Ausbreitung des Kommunismus, schließlich der Niedergang der weißen Völker und die Globalisierung wurden als Zwangsläufigkeiten wahrgenommen. Man registrierte sie vielleicht mit Unbehagen, auch gab es vereinzelten Widerstand gegen sie – jedoch setzten sie sich so massiv durch, daß man gut daran tat, sich rechtzeitig zu fügen, ohne allzuviel Energie auf den Versuch gestaltenden Eingreifens zu verschwenden.
Man ist damit in Deutschland gut gefahren, wenn man die Entwicklung an der Steigerung des individuellen Wohlstands und des Grads geglückter Verschweizerung mißt. Aber heute kehren lange verdrängte Probleme wieder, wird der Verschleiß spürbar und das notorische »Weiter so!« reicht offenbar nicht mehr aus. Ein Leitartikler der FAZ meinte unlängst, daß das Umfragetief der Regierung, das fehlende Gespür und Geschick der Kanzlerin, die Tatsache, daß ein Sarrazin mit seinen unangenehmen Wahrheiten so viel Zustimmung finde, der verbreitete Unmut über den Afghanistan-Einsatz und das »Schielen nach dem Isolationismus« Indizien für ein Unbehagen in der Bevölkerung seien, die auf einen Wandel der Mentalität hindeuteten. Mentalität bezeichnet ein schwer greifbares Etwas, nach der Definition Theodor Geigers ist sie »geistig-seelische Haltung, Ideologie aber geistiger Gehalt … Mentalität ist ›früher‹, ist erster Ordnung – Ideologie ist ›später‹ oder zweiter Ordnung … Mentalität ist Lebensrichtung – Ideologie ist Überzeugungsinhalt … Mentalität ist, im Bilde gesprochen, eine Atmosphäre – Ideologie ist Stratosphäre. Mentalität ist eine Haut – Ideologie ist ein Gewand«. Man könnte auch mit Jacques Le Goff auf die »Langsamkeit« als Hauptmerkmal des Mentalitätswandels hinweisen und damit wieder auf einen konservativen Faktor kommen, denn Mentalitäten halten sich zäh und werden nur zögernd, wenn überhaupt, aufgegeben. Sie sind ein besonders schwer faßbarer Teil des kollektiven Seelenlebens, jenes Substrat, aus dem sich erst ergibt, was die meisten als Überzeugung vortragen, obwohl es sich nicht um das Ergebnis eigenen Nachdenkens handelt, sondern um eine Menge von Konventionen, halbverstandenen Ideen, Gemeinplätzen und – um noch einmal Le Goff zu bemühen – »intellektuellem Trödel«.
Warum es trotz dieser Beharrungskraft zu einem Mentalitätswandel kommt, die Wahrheiten von gestern, die alle geteilt haben, mehr oder weniger abrupt zu Irrtümern werden, und die Wahrheiten von heute an ihre Stelle treten, gehört zu den Mysterien der Geschichte. Oft müssen die Träger der alten Auffassungen physisch verschwinden, um Platz für etwas Neues zu machen, eine neue »Haltung«. Manchmal wirken sich auch schockartige Erlebnisse aus oder die Dissonanzen lassen sich nicht mehr auf die übliche Weise reduzieren. Ob ein Mentalitätswandel bevorsteht, ist insofern wichtiger als die Entstehung einer einflußreichen »rechtspopulistischen Bewegung«, die der Leitartikler der Frankfurter Allgemeinen für denkbar oder wahrscheinlich hält. Denn wenn, dann geht es um eine Veränderung in der prinzipiellen Einstellung zum politischen Geschehen, das heißt um eine Abkehr von jener Mentalität, die überall Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit ohne Eingriffsmöglichkeiten sieht.
Natürlich ist auch das Gegenteil, das »reine Wollen«, unpolitisch, wünschenswerter ein tapferer Pessimismus, der bereit ist, konkrete Optionen zu nutzen, notfalls auch Maßnahmen zu ergreifen, die riskant sind, um eine prinzipielle Veränderung zu erreichen. Arnold Gehlen hat das Gemeinte an einem Beispiel illustriert. Er schilderte die Sioux, die ursprünglich als friedliche Bauern in großen Dörfern siedelten. Nach dem Eindringen der Weißen gerieten sie allerdings zunehmend unter den Druck ihrer indianischen Nachbarn, der Cree und Illinois, die sie immer wieder aus ihren Siedlungsgebieten verdrängten. Irgendwann standen die Sioux vor der Wahl, unterzugehen oder ihre traditionelle Lebensweise aufzugeben. Sie entschieden sich für die zweite Möglichkeit und wurden zu jenem kriegerischen Präriestamm, den wir vor Augen haben, wenn wir von den Sioux sprechen. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatten sie den Gebrauch von Pferd und Gewehr perfekt erlernt. Gehlen wies darauf hin, daß zu diesem Entschluß außerordentlicher Mut gehörte, weil die Gefahren schwer kalkulierbar waren. Die Selbstsicherheit muß groß gewesen sein, der Glaube, daß der Identitätskern unberührt bleibe, trotz der radikalen Veränderung.
Der Vortrag, den Gehlen während seiner Wiener Zeit, zu Beginn der vierziger Jahre, gehalten hat, ist übrigens nur seinem ungefähren Inhalt nach erhalten, im Fragment eines Gestapo-Berichts. Der stammt aus einer anderen Zeit, in der man glaubte, die bestehende Ordnung sei für die Ewigkeit errichtet, aus der Feder von solchen, die meinten, es bleibe alles, wie es ist, und die jeden mit Mißtrauen beobachteten, der darauf hinwies, daß die Geschichte noch jedesmal gezeigt hat, daß aus dem Bestehen der Verhältnisse nicht auf deren dauerndes Bestehen geschlossen werden kann.