Geschichte als Psychogramm

Wenn sich DER SPIEGEL zum 70. Jahrestag des „Unternehmen Barbarossa“ einzig der obersten Feldherren der befeindeten Mächte widmet...

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

und über die rest­li­chen an die­sem Krieg Betei­lig­ten nur Opfer­zah­len in Mil­lio­nen­hö­he zu ver­mel­den weiß, wird der Krieg nicht anschau­lich. Um dies zu ver­mei­den, hat die BILD einen ande­ren Weg beschrit­ten: Sie hat in Koope­ra­ti­on mit dem Volks­bund Deut­sche Kriegs­grä­ber­für­sor­ge eine fünf­tei­li­ge Serie über den Ruß­land­feld­zug initi­iert, in der jeweils ein deut­scher und ein sowje­ti­scher Sol­dat das Gesche­hen an der Front schildern.

Die­se Zeit­zeu­gen sind in ihrem Urteil deut­lich zurück­hal­ten­der als die all­wis­sen­den Jour­na­lis­ten und eta­blier­ten His­to­ri­ker von heu­te. Der Rot­ar­mist Wasir Tascha­jew berich­tet etwa über die Nacht zum 22. Juni 1941: „Den gan­zen Tag hat­ten wir unse­re Stel­lun­gen in Sicht­wei­te der Deut­schen ver­mint. Sta­lin hat­te zwar noch Tage zuvor vom Frie­den mit Hit­ler gespro­chen. Doch irgend­et­was war in Gang. Die Wachen stan­den Tag und Nacht bereit.“ Damit bleibt die Fra­ge nach dem Prä­ven­tiv­krieg unge­klärt. Zugleich deu­tet die­se Aus­sa­ge an, wie schwie­rig sich eine Bewer­tung des Gesche­hens jener Tage gestal­tet, da selbst die direkt an die­sem Krieg betei­lig­ten Sol­da­ten nicht genau wuß­ten, wel­che macht­stra­te­gi­schen Über­le­gun­gen die Füh­rung ange­stellt hatte.

Sol­cher­lei pri­va­te Erin­ne­run­gen sind heu­te in allen mas­sen­me­dia­len For­ma­ten der Zeit­ge­schich­te reprä­sen­tiert. Sie sor­gen dafür, daß die als beleh­rend emp­fun­de­ne öffent­li­che Erin­ne­rungs­kul­tur auf­ge­lo­ckert und per­sön­li­che Iden­ti­fi­zie­rung ermög­licht wird. Den­noch kön­nen auch die­se Ele­men­te zu emo­tio­na­len Taschen­spie­ler­tricks miß­braucht wer­den. Der Psy­cho­lo­ge Donald E. Pol­king­hor­ne geht von einer „prä­n­ar­ra­ti­ven Qua­li­tät“ unse­rer ursprüng­li­chen Erfah­rung aus, die „ein Bedürf­nis nach Erzäh­lung nach sich zieht“. Jeder Zeit­zeu­ge legt sich also gera­de bei her­aus­ra­gen­den his­to­ri­schen Ereig­nis­sen bewußt oder unter­be­wußt klei­ne Geschich­ten zurecht, um das Gesche­he­ne zu ver­ar­bei­ten. Gera­de an der Schwel­le zum Unter­be­wuß­ten wird es frei­lich für den Zuschau­er bzw. Leser beson­ders inter­es­sant. Das Bes­te für einen Erzäh­ler ist es also, wenn am Ende des Zeit­zeu­gen­be­richts noch ein paar Trä­nen kul­lern. Sich der Wahr­heit ver­pflich­tet füh­len­de His­to­ri­ker wie Ste­fan Scheil haben nun min­des­tens genau­so gute Sen­so­ren für prä­n­ar­ra­ti­ve Emp­fin­dun­gen von Zeit­zeu­gen. Aller­dings nut­zen sie sie nicht direkt zur Emo­tio­na­li­sie­rung, son­dern wol­len Ängs­te, Über­zeu­gun­gen und Absich­ten ihres Unter­su­chungs­ge­gen­stan­des ent­schlüs­seln. Aus die­sem Grund fragt Scheil völ­lig zurecht: „Befürch­te­te der spä­te­re Kriegs­geg­ner Deutsch­land einen sol­chen Angriff bereits Jah­re vor dem Kriegs­aus­bruch in öffent­li­chen wie inter­nen Äuße­run­gen sei­ner Ver­ant­wort­li­chen? Ja.“

Jour­na­lis­ten und His­to­ri­ker der Zeit­ge­schichts­re­dak­tio­nen gehen anders mit die­sen Prä­n­ar­ra­ti­ven um. Sie rekon­stru­ie­ren ver­mut­lich auf­ge­tre­te­ne Gefüh­le von his­to­ri­schen Akteu­ren, um Psy­cho­gram­me  zu zeich­nen. DER SPIEGEL weiß, daß Hit­ler am Tag vor dem „Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa“ die „Anspan­nung anzu­se­hen“ war. Er sei „unru­hig in sei­ner Woh­nung in der alten Reichs­kanz­lei umher­ge­ti­gert“. Spä­ter habe er gesagt: „Die Unge­wiß­heit las­te­te wie ein Grau­en auf mir.“ Auch Joseph Goeb­bels hat sei­ne Anten­nen auf den Gemüts­zu­stand des Füh­rers aus­ge­rich­tet. Die­ser sei, so erzählt uns DER SPIEGEL, „voll­kom­men über­mü­det“ gewe­sen, als Goeb­bels ihn an jenem Abend besuch­te. Doch neben dem Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter muß auch ein Repor­ter des Nach­rich­ten­ma­ga­zins live dabei gewe­sen sein, denn: „Hit­ler will noch eini­ge Stun­den lang schla­fen, doch es gelingt ihm nicht. Auch Goeb­bels fin­det kei­ne Ruhe.“ Spä­ter stellt sich in dem Bei­trag her­aus, daß Klaus Wieg­re­fe auch Sta­lin in den Kopf schau­en kann: „Man wird das Phä­no­men Sta­lin nie ver­ste­hen kön­nen, wenn man nicht jene Prä­gun­gen beach­tet, die aus der Zeit im Unter­grund resul­tie­ren: das Miss­trau­en, die Vor­sicht, die Härte.“

Der Zweck die­ser Psy­cho­gram­me liegt aller­dings nicht dar­in, die Aus­ma­ße poli­ti­schen Han­delns zu ver­deut­li­chen, denn natür­lich hät­te Hit­ler allen Grund „ner­vös“ zu sein, wenn er sich bei sei­ner Ent­schei­dung über „Krieg und Frie­den“ der Ver­ant­wor­tung für das deut­sche Volk und die ihm unter­stell­ten Sol­da­ten bewußt wird. Man könn­te ihm dies sogar als posi­ti­ven Cha­rak­ter­zug aus­le­gen, weil die Anspan­nung doch eigent­lich bewei­sen müß­te, daß sei­ne Plä­ne in schlaf­lo­sen Näch­ten abge­wo­gen wur­den. Das gilt auch für Sta­lin: „Miss­trau­en, Vor­sicht und Här­te“ sind Eigen­schaf­ten, die jeder Staats­mann unbe­dingt braucht. Doch dem SPIEGEL geht es um etwas ande­res: Die Ner­vo­si­tät Hit­lers und das Miß­trau­en Sta­lins sol­len der Beweis für das ins­ge­hei­me Wis­sen der Dik­ta­to­ren um ihre Ver­bre­chen sein. Hit­ler und Sta­lin waren „Tod­fein­de Brü­der im Geis­te“. „Para­noi­ker waren bei­de“, heißt es wei­ter. Der Argu­men­ta­ti­on des SPIEGEL zufol­ge hät­ten bei­de guten Gewis­sens sein kön­nen, wären sie in die­ser Zeit ein­fach fried­li­che Demo­kra­ten gewe­sen. Da dies nicht der Fall war, müs­se es psy­cho­lo­gi­sche Ursa­chen bei die­sen Ver­wirr­ten geben, die zu Schlüs­sel­mo­men­ten her­vor­tre­ten. Damit wer­den die Emo­tio­nen Hit­lers und Sta­lins aus einer gut­mensch­li­chen Ver­blen­dung der Gegen­wart her­aus ein­sei­tig inter­pre­tiert. Die emo­tio­na­le Kulis­se, die der Bei­trag von Wieg­re­fe auf­baut, gerät so zur Kaf­fee­satz­le­se­rei aus Banalitäten.

Die­se wir­ken noch gro­tes­ker, blickt man ins SPIE­GEL-Archiv. Vor zwei Jah­ren ver­öf­fent­lich­te das Maga­zin in sei­ner Jubi­lä­ums­aus­ga­be zum 70. Jah­res­tag des Kriegs­be­ginns („Der Krieg der Deut­schen. Als ein Volk die Welt über­fiel“) schon ein­mal eine Hit­ler-Home­sto­ry. Schon damals stell­te der Repor­ter fest: „Der obers­te Nazi ist nervös.“

Die Ver­knüp­fung von Pri­vat­sphä­re und Öffent­lich­keit ist eines der wich­tigs­ten Mit­tel, um Ein­füh­lungs­ver­mö­gen der His­to­ri­ker bzw. Jour­na­lis­ten zur Schau zu stel­len. Gera­de hier zeigt sich jedoch, ob es nur um die durch­aus legi­ti­me Dar­stel­lung von beleg­ten Emo­tio­nen geht oder ob hier ein Stil­mit­tel zur Anwen­dung kommt, damit der Leser „gut“ von „böse“ kor­rekt unter­schei­det. Letz­te­ren Ein­druck hin­ter­läßt auch ein Bei­trag des Mos­kau­er Schrift­stel­lers Vik­tor Jero­fe­jew als Teil der Titel­ge­schich­te des Cice­ro. Jero­fe­jew, des­sen Vater einer der Über­set­zer Sta­lins war, ent­wi­ckel­te selbst eine Distanz zur Sowjet­uni­on. Trotz­dem hat er ein völ­lig unge­trüb­tes Ver­hält­nis zum „Gro­ßen Vater­län­di­schen Krieg“. Er schreibt: „Die rus­si­schen Sol­da­ten haben dei­ne Groß­mutter ver­ge­wal­tigt? Groß­ar­tig! Das war Ver­gel­tung! Die Bom­bar­die­rung Dres­dens – Ver­gel­tung! Der miss­lun­ge­ne Anschlag auf Hit­ler, das war ledig­lich ver­spä­te­te Feig­heit, Angst vor der Zukunft, und kein Heldentum!“

Das Gesamt­kon­zept des Cice­ro sieht es vor, den Tri­umph über den bösen „Herr der Welt“ her­aus­zu­ar­bei­ten. Des­halb darf Jero­fe­jew hier sei­ne Glo­ri­fi­zie­rungs­re­de auf den „guten“ rus­si­schen Sol­da­ten abhal­ten – ohne Raum für Dif­fe­ren­zie­run­gen, Ein­schrän­kun­gen oder Brü­che. Auf die his­to­ri­sche Rich­tig­keit kommt es daher über­haupt nicht mehr an. Dies wird an einer Stel­le beson­ders deut­lich, an der sich ein pein­li­cher Feh­ler ein­ge­schli­chen hat, der sym­pto­ma­tisch für den gesam­ten Bei­trag ist: „Der Sieg Russ­lands über Deutsch­land hin­ge­gen ist der hells­te Fleck nicht nur in der sowje­ti­schen, son­dern in der rus­si­schen Geschich­te über­haupt. Nicht ein­mal der Sieg über Napo­le­on 1912 (sic!) hat­te eine so tief grei­fen­de Bedeutung.“

Jero­fe­jew baut das Bild eines kol­lek­ti­ven Krie­ges auf: Hier kämpft nicht wie im SPIEGEL Sta­lin gegen Hit­ler, son­dern Ruß­land gegen Deutsch­land. Gera­de die­se Tota­li­sie­rung nutzt er jedoch, um die Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen der Rus­sen in Ber­lin zu recht­fer­ti­gen. Die deut­sche Frau sei „der Inbe­griff des Sie­ges“ für einen rus­si­schen Sol­da­ten, weil die­ser von Poli­tik nichts ver­ste­hen wür­de. Er brau­che eine Aus­zeich­nung zum Anfas­sen. Die­se Tro­phäe müs­se mit aller Macht ver­tei­digt wer­den, denn die „Wahr­heit war auf der Sei­te der Russen“.

Eine Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung nach deut­schem Mus­ter mit einer Auf­lis­tung aller – auch indi­vi­du­el­ler – Ver­bre­chen paßt Jero­fe­jew nicht ins Kon­zept. Sein Ziel ist es, den „Mythos der Ein­zig­ar­tig­keit Russ­lands“ zu stär­ken. „Der Sieg über Deutsch­land gerät neu­er­dings zu einem kos­mi­schen Ereig­nis, zu einer uni­ver­sa­len Garan­tie für unse­re Zukunft, einem Kleb­stoff, der den poten­zi­el­len Zer­fall Russ­lands auf­hält“, betont der Schrift­stel­ler. „Wenn wir Deutsch­land besiegt haben, dann kön­nen wir alle besie­gen!“ Dafür ist jedes Mit­tel und jede emo­tio­na­le Ent­glei­sung recht. Jero­fe­jew macht damit genau das Gegen­teil der deut­schen Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­ger. Wäh­rend die­se die eige­ne Geschich­te über die Nega­ti­vi­ko­ne Hit­ler per­so­na­li­sie­ren und fra­gen, wie viel Hit­ler in jedem ein­zel­nen Nazi gesteckt hat, begrün­det er den posi­ti­ven Mythos sei­nes Lan­des mit der Kol­lek­tiv­kraft, die sich beson­ders dar­an zei­ge, daß sie in der Lage war, dem Feind auch noch das Intims­te (den weib­li­chen Kör­per) zu rauben.

„Ich will nicht behaup­ten, wir hät­ten wil­den Hass auf die Deut­schen emp­fun­den; für uns waren sie das­sel­be wie die India­ner für die Cow­boys: Man muss­te sie schlicht und ein­fach ver­nich­ten“, schreibt Jero­fe­jew. Aus die­sem Zitat und dem Abdruck im Cice­ro soll­te deut­lich wer­den, wie wenig es hier um einen publi­zis­ti­schen Kampf für mehr Mensch­lich­keit geht. Die Fest­le­gung von „gut“ und „böse“ ist das eigent­li­che Ziel, zu des­sen Errei­chung alle nach­voll­zieh­ba­ren Hin­wei­se auf die Ver­bre­chen der Alli­ier­ten vom Tisch gewischt werden.

Mor­gen endet die­se Ana­ly­se mit einem Bei­trag über:

Geschich­te in den Medi­en als „Kul­tur-Über-Ich“

Und hier geht es zum kapla­ken-Band von Ste­fan Scheil: Prä­ven­tiv­krieg Bar­ba­ros­sa. Fra­gen, Fak­ten, Antworten.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

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