Zweierlei Chaos

Letzte Woche erschien in der Welt eine wichtige Reportage von Freia Peters: "So chaotisch geht es an deutschen Schulen zu".

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Wer den Arti­kel noch nicht kennt, soll­te ihn unbe­dingt lesen. Peters zeich­net ein recht trost­lo­ses Bild der Ber­li­ner Klassenzimmer.

Eine bestän­dig gereiz­te Atmo­sphä­re, auf­ge­la­den mit sozia­len, kul­tu­rel­len und eth­ni­schen Span­nun­gen, Prü­ge­lei­en, Mes­ser­ste­che­rei­en, nied­ri­ge Aggres­si­ons­schwel­len, Über­grif­fe, Van­da­lis­mus, ein kras­ser Umgangs­ton gegen­über Mit­schü­lern und Leh­rern sowie unter­ir­di­sche Schul­leis­tun­gen gehö­ren zum Alltag.

Die Erzie­her wie Sozi­al­ar­bei­ter haben weit­ge­hend die Kon­trol­le ver­lo­ren, wäh­rend Poli­zei­ein­grif­fe nicht sel­ten sind. Daß in die­sen Schu­len der Aus­län­der­an­teil exor­bi­tant hoch ist, ver­steht sich von selbst. Das ist der vor­läu­fi­ge Zwi­schen­stand einer kata­stro­pha­len Ent­wick­lung, die man als gra­vie­ren­den Rück­schritt ver­bu­chen muß.

Herr Peule­ke ist seit 1979 Leh­rer. Bes­ser gewor­den ist seit­dem nichts. „Als ich vor 32 Jah­ren als Jung­leh­rer anfing, war die Mehr­heit mei­ner Schü­ler leis­tungs­wil­lig und leis­tungs­fä­hig. Es gab nur eine klei­ne Grup­pe von Klein­kri­mi­nel­len, die sich aber inner­halb der Schu­le im All­ge­mei­nen unauf­fäl­lig ver­hielt“, sagt Herr Peuleke.

„Der Anteil sehr leis­tungs­schwa­cher Schü­ler ist von Jahr zu Jahr gestie­gen. Vie­le schwän­zen. Wenn ein Vier­tel der Schü­ler fehlt, ist es ein ganz nor­ma­ler Tag. Wenn die Kin­der nach der sechs­ten Klas­se aus der Grund­schu­le zu uns kom­men, beherr­schen vie­le nicht mal den Stoff einer vier­ten Klasse.“

(…)

Sabi­ne Espe ist seit 20 Jah­ren Leh­re­rin. „Die Situa­ti­on ist deut­lich schlech­ter gewor­den“, sagt sie. „Die Kin­der sind auf­fäl­li­ger, demo­ti­vier­ter.“ Das Pro­blem sei nicht unbe­dingt, dass die Kin­der schlecht deutsch sprä­chen – sie spre­chen genau­so schlecht die Spra­che ihrer Eltern. Es sind im Grun­de sprach­lo­se Menschen.

Das ist die Quit­tung für drei­ßig, vier­zig Jah­re Mas­sen­ein­wan­de­rung inkom­pa­ti­bler Schich­ten und halb­her­zi­ge Inte­gra­ti­ons­po­li­tik einer­seits, für die Auf­lo­cke­rung päd­ago­gi­scher Prin­zi­pi­en zu Unguns­ten des Leis­tungs- und Auto­ri­täts­prin­zips andererseits.

Die­se Ent­wick­lun­gen sind eng ver­bun­den mit einem mas­si­ven demo­gra­phi­schen Wan­del, der die Fol­ge einer mul­ti­kul­tu­ra­lis­ti­schen Poli­tik ist. Es zeigt sich, daß das Sys­tem ab einer bestimm­ten Aus­län­der­quo­te beginnt, dys­funk­tio­nal zu wer­den. Und daß “Aus­gren­zung” und Grup­pen­po­la­ri­sie­run­gen (also alles das, was die Lin­ken “Ras­sis­mus” nen­nen) auf allen Sei­ten zu fin­den sind – in der Tat ist all dies bei den Deut­schen, die inner­lich ver­sprengt sind und eher auf Abtauch­stra­te­gien set­zen, am schwächs­ten ausgeprägt.

Vor 20 Jah­ren noch gab es an den Schu­len Ber­li­ner Stadt­tei­le wie Kreuz­berg oder Schö­ne­berg eine Quo­te von rund 30 Pro­zent Kin­dern nicht­deut­scher Her­kunft. Das klapp­te. Auch die Kin­der auf der Haupt­schu­le spra­chen gut deutsch. Jetzt, sagt die Deutsch­leh­re­rin Sabi­ne Espe, sei das Niveau total abge­sackt. Soge­nann­te Bio-Deut­sche, also Kin­der zwei­er deut­scher Eltern, gibt es in der 8. ISS kaum.

Dabei liegt die Schu­le in Frie­den­au, einem gut bür­ger­li­chen Stadt­teil Ber­lins mit statt­li­chen Mie­ten – nicht etwa in den aus­ge­wie­se­nen „Pro­blem­kiezen“ wie Neu­kölln oder Wed­ding. Rund 85 Pro­zent der Kin­der sind NDH – nicht deut­scher Herkunft.

Wenn im Ethik-Unter­richt 25 Kin­der sit­zen, sind viel­leicht drei von ihnen kei­ne Mus­li­me. „Chris­ten gibt es hier nur ganz weni­ge“, sagt eine Ethik­leh­re­rin. Deut­schen­feind­lich­keit ist ein Pro­blem, ganz ein­fach weil die Deut­schen in der Min­der­heit sind. Es gibt eine gro­ße Grup­pe ara­bi­scher Schü­ler, vie­le kom­men aus dem Liba­non, eini­ge von ihnen ent­stam­men den in Ber­lin bekann­ten kri­mi­nel­len Großfamilien.

„Es gibt eine Grup­pe von rund 20 Schü­lern, die sich gar nichts mehr sagen las­sen“, sagt Eng­lisch-Leh­rer Peule­ke. „Sie legen ein schlim­mes Ver­hal­ten gegen­über Leh­rern und Mit­schü­lern an den Tag. Als Grup­pe stel­len sie einen gewis­sen Macht­fak­tor dar. Sie kön­nen ihre Mit­schü­ler unter­drü­cken, da sie auf den Schutz durch die Grup­pe zäh­len kön­nen. Die Deut­schen hal­ten nicht so zusam­men und sind in der abso­lu­ten Min­der­zahl. Wenn sich ein Deut­scher etwa mit einem Liba­ne­sen anlegt, hat der oft kei­ne Chance.“

Die Ara­ber haben auf dem Schul­hof sozu­sa­gen Heim­vor­teil. Als Inte­gra­ti­ons­schü­ler Erkan neu­lich den Hof sau­ber mach­te, fluch­te er: Wenn jetzt noch ein Deut­scher kommt und den Hof wie­der dre­ckig macht!

Da wer­de er lan­ge suchen müs­sen, sag­te Peule­ke. Denn es gibt eben kaum deut­sche Schü­ler an der 8.Integrierten Sekundarschule.

(…)

Lalin ist neu in der Klas­se, seit einem Monat, sie ist Analpha­be­tin und erst im ver­gan­ge­nen Jahr aus den Ber­gen Kur­di­stans nach Deutsch­land gekom­men. Mena ist gera­de ver­hei­ra­tet wor­den. Dani­el, ein Deut­scher, ein schüch­ter­ner, kräf­ti­ger Jun­ge, duckt sich weg. Bloß nicht auf­fal­len, ist sei­ne Devi­se. „Man muss sich durch­bei­ßen“, sagt er leise.

(…)

An der Wand der Klas­sen­räu­me hän­gen noch die Bil­der und Tex­te vom letz­ten Pro­jekt­the­ma: Mes­ser machen Mör­der. Mes­ser ist die Tötungs­waf­fe Num­mer eins. Fast alle, die ein Mes­ser tra­gen, waren schon ein­mal Opfer. Als Alter­na­ti­ve wer­den Kampf­sport und Fuß­ball­ver­ei­ne vorgeschlagen.

Eini­ge Schü­ler haben einen Clan gebil­det, üben gro­ßen Druck aus und erpres­sen ande­re Schü­ler, ihnen etwa die neu­en Turn­schu­he für die Sport­stun­de abzu­ge­ben, wäh­rend die­se dann bar­fuß Fuß­ball spie­len müss­ten. Gene­rell gibt es eine star­ke Ten­denz aus­zu­gren­zen. Die Migran­ten iden­ti­fi­zie­ren sich eher mit ihren Her­kunfts­län­dern. Die Ara­ber kämp­fen gegen die Tür­ken. Und bei­de gegen die Deutschen.

Man könn­te noch end­los aus die­sem Arti­kel zitie­ren,  um zu zei­gen, daß sich die Ana­ly­sen, die von Sezes­si­on im Netz und ande­ren Blogs seit Jah­ren geleis­tet wer­den, wie­der ein­mal voll­auf bestätigen.

Wol­len wir das Gan­ze noch mit einem aktu­el­len Arti­kel von Zeit-Feuil­le­ton-Chef Jens Jes­sen kon­tras­tie­ren. Für die­sen näm­lich wären die von Peters geschil­der­ten Zustän­de wohl ein auf­re­gen­der Fort­schritt gegen­über den lang­wei­li­gen, ver­klemm­ten deut­schen Hecken von vor noch 20 Jah­ren. Wir erin­nern uns alle noch an Jes­sens apar­te, vor einem Lenin-Bild­chen vor­ge­tra­ge­ne Ver­tei­di­gung der Mün­che­ner U‑Bahn-Schlä­ger gegen­über “deut­schen Spie­ßern”, mit­hin also dar­an, daß es sich hier­bei um eine der wider­wär­tigs­ten Gestal­ten unter den zeit­ge­nös­si­schen Mei­nungs­ma­chern handelt.

Jes­sen liebt die schnei­di­ge, “unbür­ger­li­che” Pose, die­se typi­sche Kom­pen­sa­ti­ons­krank­heit links­li­be­ra­ler Intel­lek­tu­el­ler, so auch in sei­nem Arti­kel “Die Metro­po­le als Feind”. Dar­in ver­paßt er den Ber­li­ner Grü­nen eine aufs Dach, weil sie an bie­der­mei­er­li­che, regres­si­ve, pro­vinz­ku­sche­li­ge Sehn­süch­te appel­lie­ren wür­den, statt so wie er das  “präch­ti­ge Cha­os und die ner­vö­se Här­te des Urba­nen” abzufeiern.

Das krau­ti­ge Durch­ein­an­der, das in jeder Groß­stadt von selbst ent­steht, das Kios­ke wach­sen und ster­ben, deut­sche Arbei­ter­kieze in ori­en­ta­li­sche Basa­re ver­wan­deln, bür­ger­li­che Vier­tel ver­step­pen, von intel­lek­tu­el­len Neu­sied­lern ein­neh­men und schließ­lich von Inves­to­ren wie­der­auf­fors­ten lässt, das Getö­se der Tou­ris­ten und die schril­le Far­big­keit der Ein­wan­de­rer­mi­lieus – es ist offen­bar zu viel für die schwa­chen deut­schen Nerven.

Was für ein Bild von Gesell­schaft herrscht, wenn es auf kei­nen Fall das Bild sein darf, das sich in den Dis­har­mo­nien, den Unge­reimt­hei­ten, den Par­al­lel­wel­ten einer stän­dig neu besie­del­ten und umge­nutz­ten Groß­stadt abbil­det? Darf nicht ein­mal ein Zip­fel­chen des­sen, was über­all auf der Welt, in Lon­don wie in São Pau­lo, in New York wie in Mexi­ko-Stadt, zur Selbst­ver­ständ­lich­keit einer Metro­po­le gehört, sich auch in Deutsch­land zei­gen? Kann man nicht damit leben, dass jen­seits der Geset­ze des Staa­tes in allem Übri­gen die Geset­ze der Sub­milieus und Sub­struk­tu­ren leben?

São Pau­lo, New York, Mexi­co City.  Spä­tes­tens hier ent­puppt sich die­se gan­ze her­ab­las­sen­de Anti-Spieß­bür­ger-Pro­sa als pein­li­cher Kitsch auf höhe­rer Ebe­ne, geschrie­ben von einem Mann, der zu den Bes­ser­ver­die­nen­den in die­sem Land gehört, und der es sich garan­tiert leis­ten kann, sei­ne Kin­der, sofern er denn wel­che hat, vor all den Ber­li­ner Schu­len voll “ner­vö­ser Här­te” zu bewah­ren. Aus der Fer­ne hat er gewiß auch leicht reden, die Höl­le der Fave­las von Rio, die Ban­lieues von Paris und die Vor­städ­te von Nea­pel oder die Slums und Ver­bre­chens­ra­ten von Mexi­co City unge­heu­er kitz­lig und span­nend zu fin­den und von deren “präch­ti­gem Cha­os” zu schwär­men. Noch schö­ner wäre es aller­dings, wenn er auch dort­hin zie­hen wür­de, damit er all die­se unse­rem Land wärms­tens emp­foh­le­ne Pracht aus­gie­big genie­ßen kann.

Hier insze­niert sich einer aus sei­nem hoch­do­tier­ten Ses­sel her­aus als unbe­quem, kan­tig, vita­lis­tisch, geis­tig über­le­gen, hart­ge­sot­ten, als unru­hi­ger, küh­ner Geist, der es die­sen zwang­haft sicher­heits­süch­ti­gen Zim­per­lie­sen­k­lem­mikar­tof­feln mal so rich­tig zeigt, wäh­rend er offen­bar wie die meis­ten Lin­ken ein im Grun­de aus­ge­spro­chen harm­lo­ses und ein­fäl­ti­ges Bild von der Wirk­lich­keit und dem “Cha­os” hat, das er so sexy findet.

Der Rest von uns kann inzwi­schen Gott dank­bar sein, daß Ber­lin trotz allem noch weit ent­fernt davon ist, wie Lon­don oder Paris sein, von süd­ame­ri­ka­ni­schen Metro­po­len ganz zu schwei­gen. Wenn wir schon dabei sind, könn­te Gott uns bit­te auch gleich vor Schreib­tisch­ver­bre­chern wie Jes­sen bewah­ren, die fahr­läs­sig fata­len Expe­ri­men­ten das Wort reden, die ande­re dann aus­ba­den dürfen.

 

“Deut­sche Opfer, frem­de Täter” in der Edi­ti­on Antai­os bestellen. 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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