So ist der Kampf der Tunesier, Libyer und Ägypter gegen die autokratischen Regime ihrer Länder ohne Zweifel ein Kampf um Selbstbestimmung. Selbstbestimmung heißt, entsprechend den eigenen Wünschen, Zielen und Werten zu leben; diese müssen aber nicht identisch mit dem sein, was wir in Europa »Demokratie« nennen, erst recht nicht mit dem, was wir »Freiheit« nennen. In einem islamischen Land kann Selbstbestimmung durchaus auch darin bestehen, entsprechend den Gesetzen der Scharia zu leben.
Westlich geprägten Menschen ist der Dreiklang von (individueller) Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie bei Nennung eines dieser Begriffe die beiden anderen unausgesprochen mit meinen.
Für Muslime ist ein Rechtsstaat ein Staat, der das Recht durchsetzt; das Recht aber steht, da von Allah gegeben, nicht zur Disposition des Gesetzgebers, auch nicht des gewählten. Demgemäß bedeutet Demokratie auch nicht, daß um Lösungsalternativen gerungen, sondern höchstens, daß die Regierung gewählt wird; und Freiheit ist ein Attribut des Kollektivs, nicht des Individuums: die Freiheit der islamischen Gemeinschaft von nicht- und unislamischer Herrschaft. Für den Einzelnen ist sie die Freiheit, ein Allah gefälliges Leben zu führen, das nicht durch westlich geprägte Versuchungen und Zwänge kompromittiert wird.
So gesehen, ist es nicht einfach Heuchelei, wenn etwa die Führer der Muslimbruderschaft versichern, sich am Aufbau eines demokratischen Staates beteiligen zu wollen. Sie meinen damit nur etwas anderes als wir, und selbstverständlich wissen sie, daß westliche Journalisten den Unterschied verkennen, weil sie auf zwei Dogmen fixiert sind, die in einem islamischen Kontext keine Rolle spielen: zum einen auf das Dogma, Politik sei primär eine Angelegenheit des Staates: Darin spiegelt sich die als Selbstverständlichkeit verinnerlichte Säkularisierung wider; zum anderen auf die Vorstellung, eine legitime, gute, gerechte Ordnung sei eine Frage abstrakter und formaler Regeln – Demokratie versus Monarchie, Kapitalismus versus Sozialismus, Rechtsstaat versus totalitäre Herrschaft etc.
Dem Islam und der auf ihm beruhenden Kultur sind beide Ideen fremd; er beansprucht, das Gesamtgefüge der Gesellschaft zu regeln. Eine Gesellschaft ist »gut«, wenn sie nach den Normen der Scharia funktioniert, egal ob diese durch staatliche Gesetzgebung oder sozialen Zwang durchgesetzt werden. Herrschaft ist legitim, wenn sie inhaltlich den islamischen Normen entspricht, egal ob der Herrscher gewählt ist oder nicht.
Eine Gesellschaft unterliegt der Scharia, wenn sie faktisch von diesen Normen beherrscht wird, wenn Christen faktisch Menschen minderen Rechts sind, wenn faktisch niemand mehr vom Islam abfallen oder auch nur ein Glas Wein trinken, wenn faktisch keine Frau mehr unverschleiert aus dem Haus gehen kann. Auf dem geduldigen Papier der Verfassung mag dann stehen, was will.
Dies ist nicht etwa graue Theorie: Die galoppierende Re-Islamisierung der Türkei vollzieht sich direkt aus der Gesellschaft heraus; der Staat beschränkt sich unter der Regierung der Islamisten im Wesentlichen darauf, die Hindernisse zu beseitigen, die der gesellschaftlichen Selbst-Islamisierung im Wege stehen. Was sich durch die Brille liberaler westlicher Journalisten als »Demokratisierung« und »Liberalisierung« ausnimmt – etwa die Zurückdrängung des Militärs – gehört zur Strategie eines Islamismus 2.0, die von der Muslimbruderschaft voraussichtlich kopiert werden wird.
Freilich: Die ägyptische Gesellschaft besteht nicht nur aus der Muslimbruderschaft, die arabischen Völker nicht nur aus Islamisten. Und was ist mit den Angehörigen der »Generation Facebook«, die sich in den Protesten der letzten Wochen so deutlich zu Wort gemeldet hat, und die doch (scheinbar? anscheinend?) einem westlichen Lebensstil zuneigt? Nun, es ist eine Binsenweisheit, daß Revolutionen selten von denen vollendet werden, die sie begonnen haben. Am Ende setzt sich der durch, der die zugkräftigeren Parolen hat, und es gibt keinen Hinweis darauf, daß Abstrakta wie »Freiheit und Demokratie«, die in diesen Ländern nicht einmal als Parolen verwurzelt sind, geschweige denn als gelebte Wirklichkeit, sich gegen die Forderungen eines politischen Islam durchsetzen können, der an tiefverwurzelte Idealvorstellungen von einer guten und gerechten Gesellschaft appellieren kann.
Für die jungen Leute dort ist der Westen zudem eine eher materielle als ideelle Verheißung. Keine Frage: Europa ist das Land ihrer Träume, aber nicht wegen seiner »Werte« – die aus islamischer Sicht keine sind –, sondern weil man dort besser lebt. Es wäre aus ihrer Sicht widersinnig, Europa gleichsam als Konzept zu importieren. Näherliegend ist, einfach dorthin auszuwandern; eben dies erleben wir zur Zeit. Und selbst denen, die vor der Enge und dem Druck muslimischer Gesellschaften und auf der Suche nach Entfaltungschancen nach Europa fliehen, wird der Kulturschock nicht erspart bleiben. Alle Erfahrung zeigt, daß die Sehnsucht nach Vertiefung der muslimischen Identität durch das Leben im Westen eher gestärkt als geschwächt wird.
Womit wir bei der zweiten, der internationalen Dimension des Islamismus 2.0 wären: Die Muslimbruderschaft verfolgt schon lange beharrlich und konsequent das Ziel, die muslimischen Migrantengemeinden in Europa als Speerspitze und Brückenkopf der Islamisierung des Kontinents auszubauen.
Wiederum etwas, was der homo liberalis in seinem notorischen Unverständnis für den tiefen religiösen Ernst der Islamisten nicht glauben kann und nicht wahrhaben will: Es geht ihnen nicht einfach darum, die Verhältnisse in einem Land, etwa Ägypten oder der Türkei, umzukrempeln. Sie sind nicht einfach eine politische Bewegung, die sich nach Art der deutschen C‑Parteien ein religiöses Mäntelchen bloß umhängen würde. Sie wollen, daß die Welt dem Gesetz Allahs gehorcht. Sie sind, wenn man so will, keine Stalinisten, sondern Trotzkisten: Sie wollen die Weltrevolution.
Die Muslimbrüder vertrauen ebenso wie die türkische AKP darauf, und dies aus guten Gründen, daß das Wachstum der muslimischen Gemeinden im Westen bei entsprechender Betreuung und Begleitung ganz von alleine zur Islamisierung des europäischen Kontinents führen wird, und zwar unabhängig davon, ob die einzelnen Migranten persönlich besonders fromm sind oder nicht: Entscheidend ist, daß diese Gesellschaften Parallelgesellschaften sind und bleiben; dann bleibt der Islam ganz von selbst die Leitidee zuerst dieser Gesellschaften, schließlich auch der alternden Mehrheitsvölker, die nach und nach zu Minderheiten werden.
Die türkischen Islamisten machen vor, wie man mit den Illusionen westlicher Liberaler spielt: Die »Liberalisierung « und »Demokratisierung« der Türkei dient nicht nur deren eigener Islamisierung, sondern auch der Europas: Sie soll der Türkei, also vor allem türkischen Migranten, den Weg in die EU ebnen; daß sie obendrein EU-Gelder in die Türkei leitet, ist ein willkommener Nebeneffekt.
Die Politik der Islamisten, Europa für Migranten zu öffnen, finanzielle Hilfe von der EU zu kassieren, den Staat aus der Gesellschaft hinauszudrängen, entspricht auch den Wünschen des liberalen Flügels der Opposition, etwa des eher linksgerichteten tunesischen Oppositionspolitikers Moncef Marzouki, der bei seiner Rückkehr aus dem Exil sagte: »Unser Platz ist der euro-mediterrane Raum. Für den Westen ist es einfacher, mit Demokraten zu kooperieren.«
Ob es »einfacher« ist, steht auf einem anderen Blatt; für europäische Politiker war die Kooperation mit Diktatoren bequem genug, sogar Gaddafi bis vor wenigen Wochen die Stange zu halten.
Richtig ist aber, daß es unter westlichen Eliten die Neigung gibt, die Verbreitung von »Freiheit und Demokratie « als oberstes politisches Ziel zu proklamieren, und zwar auf Kosten der Interessen ihrer eigenen Völker. Dies ist der Hintergrund, wenn zum Beispiel der für Integration und Nachbarschaftspolitik zuständige tschechische EU-Kommissar Štefan Füle Europa zur »Demut« auffordert, weil es »die demokratischen Kräfte der Region nicht lautstark genug unterstützt« habe; den aufbegehrenden Völkern bescheinigt, »im Namen unserer gemeinsam geteilten Werte« zu kämpfen; daran die Forderung knüpft, ungeachtet der Sorgen über wachsende Migration und stärkere »Sichtbarkeit« von Islamisten, »diese Risiken (zu) überstehen, ohne unser gemeinsames langfristiges Ziel aus den Augen zu verlieren: ein demokratisches, stabiles, wohlhabendes und friedliches Nordafrika«; und zu diesem Zweck den Zustrom von Arbeitsmigranten aus Nordafrika noch zu erleichtern und zu fördern ankündigt.
Selbstverständlich erwähnt er nicht, daß zu den »Risiken«, die wir zu »bestehen« haben, unter anderem gehört, daß wir am Ende womöglich kein »demokratisches, stabiles, wohlhabendes und friedliches Nordafrika « haben werden, in jedem Falle aber ein ruiniertes Europa. Wie in einem Lehrbuch über globalistische Ideologie führt Füle uns vor, wie ein utopischer, also ein buchstäblich unverorteter Liberalismus – der bloß »gemeinsam geteilte Werte« kennt, aber keine Völker mit Interessen, einer bestimmten Kultur und einer bestimmten Geschichte –, wie also ein solcher Liberalismus die Zerstörung ganzer Völker und Kulturen forciert. Im Kontext dieser Ideologie kann sich die Frage gar nicht stellen, warum die Demokratie in Nordafrika uns wichtiger sein soll als die Existenz der Völker Europas.
»Demokratie«, oder vielmehr etwas, was man als solche verkaufen kann, wird es als Folge der Revolution in Nordafrika wahrscheinlich geben; die Schleusen für Migrationsströme von dort nach Europa und für Finanzströme in umgekehrter Richtung werden geöffnet werden; die bisher schleichende Islamisierung Europas wird ein ungeahntes Tempo aufnehmen. Dies alles wird geschehen, weil die entscheidenden Akteure – die EUEliten, die Islamisten, die nordafrikanischen Staaten und ihre Völker – ein Interesse daran haben. Die Völker Europas, bestehend aus fast 500 Millionen Menschen, haben kein Interesse daran. Aber niemand wird sie fragen.