Der heute gängige Begriff von Kultur als Gesamtheit bestimmter individueller und kollektiver Eigenschaften und menschlicher Leistungen steht am Ende einer langen Entwicklung. Das lateinische Substantiv cultura (Ackerbau) geht bekanntlich auf colere zurück (dt. betreiben, pflegen, bilden, schmücken) und bezieht sich auf die Sachbereiche vom Körperlich-Materiellen bis zum Geistigen. Seine ursprüngliche Bedeutung war: Pflege der äußeren Natur, um deren Wirksamkeit zu erhöhen, deren Kraft zu organisieren, um so die Natur zu überwinden und zu beherrschen. Diese Bedeutung wurde auch auf das Individuum übertragen. Cultura bezog sich dabei stets auf eine bestimmte Qualität des Handelns, nämlich das sorgfältige Handeln. Das moderne Verständnis von »Kultur« als Resultat von Handlungen, als Gesamtheit der sozialen Lebensformen und ‑prozesse, der geistigen und materiellen Arbeitsmittel und ihrer Resultate bildete sich erst seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts heraus. Dabei wurde der Begriffsinhalt erweitert, und zwar durch die Übertragung des Wortsinnes vom Individuum (»Kultiviertheit«) auf das Volk, den Staat, den Wohnkreis, ja sogar die ganze Menschheit. »Cultur« wurde in diesem Sinn noch bis zur Romantik im Singular verwendet – man sprach noch nicht von »Kulturen«. Erst in der Romantik (Herder, »Volksgeist«) konsolidierte sich der Kulturbegriff zu jener modernen relativierenden, kulturvergleichenden Gestalt, die es möglich macht, heute im Plural von »Kulturen« zu sprechen.
Die Pluralform wird egalisierend verwendet, um die Vorstellung der Gleichwertigkeit der Leistungen von Kollektiven vor dem Hintergrund der Rahmenbedingungen ihrer historisch gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten zum Ausdruck zu bringen. Dieser moderne Kulturbegriff gewann erst im Zusammenhang mit der Herausbildung der Nation (als politischer Begriff) und des Nationalstaats seine heute allgemein akzeptierte Gestalt. Daher ist die egalisierend-kulturrelativistische Sicht auf »Kultur« irreführend: Man kann nicht einfach moderne und vormoderne menschliche Symbioseformen miteinander vergleichen, ohne den »historischen Ort« bestimmter Symbioseformen zu berücksichtigen. Kultur gewinnt nämlich ihre je besondere Form und Bedeutung aus den in der Gesamtlage miteinander verwobenen historischen, politischen, ökonomischen, sozialen und ideellen Faktoren und Voraussetzungen. Ein kurzer Blick auf den Verlauf der Menschheitsgeschichte und den Wandel der Bedeutung von »Kultur« macht dies deutlich.
Die Gliederung der Menschheitsgeschichte in drei Stadien hat sich als Ordnungsmuster bewährt. Das Problem der Art und Ausprägung der Kultur kann erst vor dem Hintergrund dieses Wandels verstanden werden. Unter der Voraussetzung, daß die Beschaffung der zum Lebensunterhalt notwendigen geistigen und materiellen Mittel zu allen Zeiten sichergestellt werden muß, empfiehlt sich die Periodisierung von Ernest Gellner, da sie von den grundlegenden Formen der Produktion und Reproduktion der Lebensbedingungen ausgeht. Damit ist kein ökonomischer Determinismus verbunden, denn die Produktionsweise bestimmt zwar die Probleme unserer Lebensgestaltung, nicht aber gleichsam automatisch die Lösungen, die wir für diese Probleme finden.
Gellner unterscheidet Voragrarische, Agrarische und Industrie-/ Marktgesellschaft voneinander. Die Voragrarische Gesellschaft beruht auf dem Prinzip des Gabentausches und der Gegenseitigkeit. Sie setzt mit den biotisch modernen Wildbeutern der jüngeren Altsteinzeit (ca. 60–40 000 v. Chr.) ein und umfaßt auch die frühen Pflanzergesellschaften und die Hirtenkulturen. Das Clansystem ist in diesem Stadium entstanden. Aufgrund der diesen menschlichen Symbioseformen inhärenten Flexibilität können sie sich in den Rahmen umfassender politischer Ordnungen einfügen, daher überdauern sie in großer Mannigfaltigkeit bis in die Gegenwart.
Voragrarische Gesellschaftsstrukturen gewinnen Anpassungsvermögen und Dauerhaftigkeit aus dem Umstand, daß das Individuum, um produzieren und sich reproduzieren zu können, auf die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft angewiesen ist, in die es hineingeboren wird und deren Mitglied es in der Regel lebenslang bleibt. Diese Gemeinschaft ist im Besitz der dinglichen und ideellen Produktionsmittel. Der französische Ethnosoziologe Marcel Mauss hat bereits 1925 ausgeführt, daß es in der Voragrarischen Gesellschaft nicht auf die Respektierung der »kulturellen Unterschiede « im modernen Sinn ankomme, sondern auf die Bezeugung von Loyalität, Gegenseitigkeit im Geben und Nehmen, Fürsorge, Gefolgschaftstreue. Kultur – Bräuche, Werte, Normen, Verhaltensmuster – entspringt damit gleichsam den überlebenswichtigen menschlichen Beziehungen.
Dies gilt ebenso für die Agrarischen Gesellschaften. Darunter versteht Gellner die alten Zivilisationen, die vor ca. 5–6000 Jahren in die Geschichte eintraten und die in Europa in Gestalt der vielgestaltigen, großen und kleinen dynastischen Reiche und Herrschaften bis an die Schwelle der Moderne reichten. Auch die Ordnung der Agrargesellschaften wird durch ein komplexes Gefüge von Patronage‑, Gefolgschafts- und Klientelsystemen untermauert. Hinzu tritt die Vorstellung einer durch die Gottheiten gegebenen Hierarchie von Rängen und sozialen Schichten. Dieser Art der Gesellschaftsverfassung entspricht ein differenzierter Polytheismus; sie ist aber auch mit monotheistischen Glaubenssystemen vereinbar (Heiliges Römisches Reich, Osmanisches Reich), wo der Herrscher zwar kein Abkömmling Gottes sein kann, aber sein weltlicher Stellvertreter oder »Schatten«.
Die Agrargesellschaft hängt von der Bewahrung eines komplexen Rangsystems ab, daher ist es wichtig, daß die unterschiedlichen Ränge und Schichtenzugehörigkeiten durch Umgangsregeln sicht- und spürbar werden, zu denen auch rhetorische Formeln und Vorschriften zählen. Die Mitglieder einer sozialen Schicht sind bestrebt, sich so deutlich wie möglich von der jeweils unteren und oberen Schicht zu unterscheiden. Die Agrargesellschaft fördert aus diesen Gründen die kulturelle Differenzierung, wobei die Kommunikation sowohl der Mitglieder einer bestimmten Schicht untereinander als auch die Kommunikation zwischen den Schichten klaren Regeln unterworfen ist. Adlige duellierten sich grundsätzlich nur mit anderen Adligen. Daher ist die Agrargesellschaft die prototypische multikulturelle Gesellschaft. Ihr kultureller Pluralismus verträgt sich gut mit stabilen, hierarchisch regulierten und nach Berufsständen organisierten Systemen. Tätigkeit und gesellschaftliche Stellung werden von Generation zu Generation weitervererbt.
Vormoderne und moderne Gesellschaften unterscheiden sich signifikant voneinander, denn in den vormodernen Gesellschaften ist »Kultur« die Resultante wichtiger Beziehungen, die der Ethik der Konzentrischen Ordnung unterliegen. In der modernen Gesellschaft stiftet dagegen »Kultur « Beziehungen; hier gilt das Primat des Allgemeinen. Die Interessen der Allgemeinheit – der Bürgerschaft, des Staates, der Nation – stehen höher als die Privatinteressen. Welthistorisch betrachtet, so der Soziologe Trutz von Trotha, kann man jedoch die moderne Vorstellung vom Primat des Allgemeinen im staatlichen und öffentlichen Raum nur als »exotisch« bezeichnen. Der interkulturelle und historische Normalfall ist die »konzentrische Ordnung« der sozialen Welt. »In der konzentrischen Ordnung gilt der Vorrang der primären Beziehungen: Am meisten fühlt man sich dem – ganz wörtlich genommen – Nächsten verpflichtet; je größer und inklusiver die soziale Einheit wird, desto mehr nimmt der Grad an geschuldeter Loyalität ab … Typischerweise ist der Nächste auch das Mitglied des ›Volkes‹ oder der ›Ethnie‹, der wir angehören. Sie sind es, denen wir Loyalität schulden; vorrangig ihnen gegenüber gilt der Grundsatz der Gegenseitigkeit … Die konzentrische Ordnung kennt nicht die Trennung zwischen dem Allgemeinen und Besonderen im Bereich des Öffentlichen; sie ist im Gegenteil eine Ordnung der Privilegien«.
Unter den Bedingungen der Moderne (Aufklärung, Säkularisierung, Industrialisierung) verändern sich das Beziehungsgefüge der Menschen zueinander und damit die Bedingungen der Kommunikation grundlegend: Das Erkennen löst sich von der Autorität sowohl der Schrift als auch der Gesellschaft. Nicht mehr transzendente Mächte und ihre irdischen Vertreter sind haltgebende Instanzen, sondern die bedeutungsgebende Kultur als Funktion des Zusammenhalts der Gesellschaft. Loyalität schuldet man nicht mehr den Eltern, dem Haushaltsvorstand, dem Lehnsherrn, dem Herrscher, dem Clan usw., sondern der Nation und ihrer Kultur. Nationen werden als Träger einer je eigenen Kultur begriffen, die zum Gegenstand der Verehrung wird. Damit gewinnt der moderne Begriff von Kultur eine identitätsstiftende Bedeutung, die ihm zuvor nicht zukam.
Dies hängt mit der Entwicklung der modernen Industrieproduktion und der Marktwirtschaft zusammen: Nur ein verschwindender Teil der Güter wird privat produziert und vom Produzenten gleich verbraucht. Das Gros der Konsumgüter durchläuft den Markt als Waren. Zum einen müssen daher die Produktivkräfte so entwickelt sein, daß eine Minderheit von Lebensmittelproduzenten ausreichend Nahrung für die gesamte Gesellschaft erzeugen kann und zum anderen muß die politische Macht damit einverstanden sein oder es notgedrungen zulassen, daß ein wesentlicher Teil der Produktion frei auf dem Markt angeboten werden kann. Diese Produktionsbeziehungen müssen ideologisch durch entsprechende philosophische oder religiöse Überzeugungen als Ausdrucksformen der Leitidee des Primats des Allgemeinen stabilisiert werden (Liberalismus, instrumentelle Vernunft, »protestantische Ethik«). Die politische Arena, in der dies alles stattfindet, bildet der sich in Form einer allgemeinen Referenzkultur artikulierende Nationalstaat, der durch Schulwesen, Symbole, Vereine getragen wird und sich zuerst in Westeuropa entwickelt hat. In der modernen Industriegesellschaft wurde die alte qualitativ-ständische Arbeitsteilung zwischen den Gesellschaftsklassen aufgelöst und durch eine mobile und homogene Bevölkerung aus spezialisierten, funktionsbestimmten Fachleuten ersetzt. »Der kulturelle Pluralismus verträgt sich gut mit der Existenz bäuerlicher Gemeinschaften und mit stabilen und hierarchisch geordneten berufsständischen Systemen, bei denen Tätigkeit und gesellschaftliche Stellung von einer Generation zur nächsten weitervererbt werden. Hingegen verträgt er sich außerordentlich schlecht mit mobilen Bevölkerungen, deren Kultur von einem staatlich überwachten Erziehungssystem abhängt« (wiederum Gellner: Pflug, Schwert und Buch). Die für große Agrarstaaten typische und auch nützliche kulturelle Mannigfaltigkeit wurde zum Problem für mobile und aufgrund des allgemeinen Schulwesens literate Bevölkerungen.
Die Antwort auf dieses Problem gaben Nation und Nationalstaat. Sie sind historisch junge Erscheinungen, die unlösbar mit Säkularisierung, bürgerlicher Gesellschaft und Marktwirtschaft verbunden sind. Die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts gingen von der angenommenen oder zu schaffenden Übereinstimmung zwischen einem Gebiet und einer ethnisch-sprachlichen – also kulturell bestimmten – Gruppe aus. Ihren historischen Sinn gewinnt die Nationalbewegung durch die Schaffung lebensfähiger Wirtschaftsräume; daher spielte der Nationalgedanke ja auch in den Schriften der Schöpfer des Marxismus-Leninismus eine bedeutende Rolle. Die marxistisch-leninistische Theorie ist markant national ausgerichtet, die gegenwärtigen »Linken«, zumindest in Deutschland, haben das vergessen.
Die Etablierung von Parallelkulturwelten in modernen nationalstaatlich verfaßten Kommunikationsräumen weist zurück auf den Ständestaat; sie zerstört die kommunikativen Grundlagen lebensfähiger moderner Wirtschaftsräume und schadet damit nicht zuletzt auch den Interessen der arbeitenden Bevölkerung. Daher stieß ja auch die Forderung des austromarxistischen Theoretikers Otto Bauer, den Nationalitäten im Habsburgerrreich die »nationalkulturelle Autonomie« im Schulwesen und der Pflege der eigenen Sprache zu gewähren, auf den kompromißlosen Widerspruch der Theoretiker des klassischen Marxismus-Leninismus. Der soll damit nicht verteidigt werden, aber dieser Sachverhalt zeigt, daß der Nationalgedanke an sich eben nicht »rechts« ist, sondern eine notwendige Folge der Modernisierung. Wer sich als Professor oder Politiker, Publizist oder PastorIn an »bunten Republiken« erfreut, verrät einen infantilen Mangel an Einsicht in das Zusammenspiel von Kultur und moderner Gesellschaft. Denn unterhalb dieser nationalen Referenzkultur bleibt zwar Raum für die kulturelle Mannigfaltigkeit regionaler Dialekte und Brauchtumsformen. Diese Unterschiede dürfen aber keine politische Rolle spielen; der Schirm der verallgemeinerten nationalen Referenzkultur muß aufgespannt bleiben, der einzelne muß sich, bei allen realen kulturellen Unterschieden, dieser Kultur zugehörig fühlen. In Jugoslawien etwa brach Anfang der neunziger Jahre dieser Schutzschirm zusammen. Dieses Beispiel macht deutlich, daß die Nation ein fragiles Gebilde ist. Wer ihre Grundlagen in Frage stellt, aus Naivität, Unkenntnis oder politischem Kalkül, fügt dem Gemeinwesen Schaden zu.