Wer die Biographie Hansjoachim von Rohrs, die jetzt von seinem Sohn in einem schmalen Band vorgestellt wird (Hans Christoph von Rohr: Ein konservativer Kämpfer. Der Agrarpolitiker und NS-Gegner Hansjoachim von Rohr, Stuttgart: Hohenheim 2011, geb., 164 S., 16.90 €), verstehen will, muß nicht nur die turbulente deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts einbeziehen, sondern sich auch frei machen von deren stereotyper Deutung. Man hat es mit einem Gegen-Bild zu tun.
Hansjoachim von Rohr wurde 1888 auf dem elterlichen Gut Demmin in Pommern geboren. Seine Familie – der Vater war ehemaliger Gardeoffizier – gehörte zu den einflussreichen Kreisen des ostelbischen Landadels. Der junge Rohr lernte zu Hause wie im Internat rasch, dass diese Herkunft verpflichtete, daß man sich nicht nur auf die preußischen Tugenden berufen, sondern daß man sie verkörpern mußte. Zu den frühen Prägungen gehörte auch das Christentum; Rohrs Glaube war pietistisch gefärbt, aber nicht auf Innerlichkeit, sondern auf Dienst an der Allgemeinheit – dem Vaterland – ausgerichtet.
Er studierte nach dem Abitur an den Universitäten Heidelberg, Berlin und Greifswald Volkswirtschafts- und Rechtslehre. Eigentlich war für ihn eine Laufbahn als Jurist vorgesehen, aber nach dem überraschenden Tod seines älteren Bruders mußte Rohr das väterliche Gut übernehmen. Unter den Bedingungen des Kaiserreichs hätte sein Lebensweg damit ein gebahnter sein können, nach dem Zusammenbruch von 1918 sah er sich zu einer Neuorientierung gezwungen. Rohrs Beitritt zur DNVP, die er von 1925 bis 1932 im preußischen Landtag vertrat, und zum Landbund, dem er als Vorsitzender im heimatlichen Pommern eine starke Position verschaffte, hatte aber nichts mit Ressentiments und Nostalgie zu tun, mehr mit dem Widerwillen gegen ein parlamentarisches System, das handlungsunfähig war und preußischen Maßstäben nicht genügte. Rohr gehörte zwar zum Umfeld Hugenbergs, neigte aber im Zweifel zu praktikablen Lösungen und hielt nichts von einem Konfliktkurs um jeden Preis.
Man erfährt in dem Band relativ wenig über seine weitergehenden politischen Zielvorstellungen, aber aus dem Zusammenhang ergibt sich, daß Rohr in der Endphase der Weimarer Republik für ein autoritäres Präsidialregime eintrat. Er betrachtete die Landwirtschaftspolitik Brünings als verfehlt, die die Bauern in die Arme der NSDAP trieb, und suchte nach dessen Sturz Einfluß zu nehmen, um einen Kurswechsel zu erreichen. Die Reichskanzlerschaft Hitlers war aus seiner Sicht die am wenigsten wünschenswerte Alternative, und den Posten als Staatssekretär in der neuen Regierung übernahm er nur auf Drängen Hugenbergs; im übrigen opponierte Rohr von Anfang an und unternahm was in seiner Macht stand, um das Eindringen der Partei in die Verwaltung zu verhindern. Nach dem Rücktritt Hugenbergs konnte er sich aber nur noch bis zum September 1933 im Amt halten und wurde nach heftigen Konflikten mit dem neuen Landwirtschaftsminister Darré entlassen.
Was dann folgte, war in vieler Hinsicht typisch für die konservative Resistenz in der NSZeit. Nachdem Rohr seinen Häschern entkommen konnte, die ihn bei der sogenannten Niederschlagung des Röhmputsches liquidieren sollten, zog er sich auf sein Gut zurück. Er versuchte mit seiner großen Familie ein möglichst unauffälliges Leben zu führen. Direkte Verbindung zum Widerstand gab es nicht. Aber seine religiösen Überzeugungen und sein Standesbewusstsein brachten ihn doch regelmäßig in Konflikt mit dem System. Dessen Träger beobachteten nicht nur die ideologische Abweichung mit Mißtrauen, sondern versuchten auch die Ressentiments der »kleinen Leute« gegen den »Reaktionär « zu nutzen. Erfolgreich waren sie nicht; die Inhaftierung Rohrs nach dem gescheiterten Hitlerattentat, 1944, war nur die Konsequenz eines Generalverdachts.
Rohr überlebte und wurde 1945 aus dem Gefängnis befreit. Die Sieger sahen ihn als unbelastet an und betrauten ihn für kurze Zeit mit Verwaltungsaufgaben. Rohr stand aber keinen Moment in der Versuchung, sich von seinen Landsleuten zu distanzieren und aus seiner Stellung Gewinn zu ziehen. Man registriert beeindruckt, mit welcher Energie er in der Folgezeit nicht nur daran ging, eine neue Existenz zu gründen, sondern auch, mit welcher Souveränität er eine Position bezog, die für ihn nur auf der politischen Rechten zu finden war. Er beteiligte sich an einigen Reorganisationsversuchen, mußte aber schließlich einsehen, daß in der Bundesrepublik kein Platz für eine konservative Partei war (etwa durch Verschmelzung von Freidemokraten und DP).
Das schmerzte Rohr, erklärt aber auch seinen Beitritt zur FDP. Deren Stellung im Parteienspektrum der frühen Bundesrepublik macht diesen Schritt durchaus nachvollziehbar. Ungewöhnlich war der Entschluß dagegen für einen Agrarpolitiker, noch ungewöhnlicher die Neigung Rohrs – als bekennender Konservativer – zentrale Positionen seines Lagers in Frage zu stellen. Er irritierte schon früh mit seiner Forderung nach einer markt- und umweltorientierten Landwirtschaft, überhaupt seiner »agrarpolitischen Opposition«, der er als Herausgeber der Stimmen zur Agrarwirtschaft ein Sprachrohr verschaffte, dann mit dem Vorschlag, die Stalin-Note »auszuloten« und über die Blockfreiheit Deutschlands nachzudenken, dem Verlangen, einen Ausgleich mit Polen anzustreben, und erst recht mit seiner Unterstützung der Regierung Brandt-Scheel.
Rohr unterschied dabei strikt zwischen deren Innenpolitik, die er wegen der Sympathie für die Neue Linke als fatal betrachtete, und deren Außenpolitik, die er als Schritt in die richtige Richtung ansah, weil sie Bewegung in die Deutsche Frage bringen konnte. Schon in seinem ersten Beitrag für die Zeitschrift Konservativ heute nahm Rohr Bezug auf den Warschauer Vertrag und erklärte es zur Pflicht jeder realistischen Außenpolitik, die tatsächliche Lage anzuerkennen; »die Wahrung eines Rechtsstandpunktes nach der totalen Kapitulation von 1945 und den 25 Jahren danach« habe »nur noch leichtes Gewicht«. Das sei auch das Ergebnis der falschen Strategie Adenauers, der mit seiner Politik der Westbindung und freiwilligen Isolation gegenüber dem Osten jede Möglichkeit verspielt habe, operative Deutschlandpolitik zu betreiben. Auch die Hoffnung der Vertriebenen auf einen Friedensvertrag teilte Rohr nicht. Sollte es dazu kommen, schrieb er, würden den Inhalt die Siegermächte diktieren, die an einer Grenzrevision keinerlei Interesse hätten.
In einem letzten Aufsatz für die Zeitschrift, der kurz vor seinem Tod am 10. November 1971 erschien, widmete er Gottfried Treviranus, dem deutschnationalen Politiker der Weimarer Zeit, Minister und Kontrahenten Hugenbergs, einen ehrenden Nachruf. In dem stand der Satz »Diener seines Vaterlandes bis zum letzten Tag«. Man könnte ihn auch über Rohrs Leben setzen. Hans Christoph von Rohr hat seinem heute fast vergessenen Vater mit diesem Buch ein Denkmal gesetzt. Wenn etwas einzuwenden ist, dann, daß es kurz ist. Man hätte gerne mehr und noch genaueres erfahren über diesen »konservativen Kämpfer«.