Sekundiert wurde ihm vom aktuellen Staatschef Medwedjew, der von Versuchen der »Umdeutung der Geschichte« im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sprach. Beiden Politikern ist die Sorge gemeinsam, es könne die Rolle der UdSSR bei der »Befreiung Europas vom Faschismus« in Frage gestellt werden, wie der deutschen Presse vielfach zu entnehmen war. Der Druck muß groß sein: Man hat sogar die Online-Publikation Zehntausender Dokumente angekündigt, die bisher unzugänglich waren.
Tritt man etwas zurück und betrachtet das Panorama, dann ist es zunächst einmal erstaunlich, wenn Rußland glaubt, dauerhaft geschichtspolitische Legitimation aus den Kriegserfolgen seines Vorläufers UdSSR ziehen zu könen. Unbestritten war die Sowjetunion eines der aggressivsten und mörderischsten Gebilde der Menschheitsgeschichte. Ihr Stalinismus verschuldete den Krieg von 1939 mit. Er hinterließ in Rußland und in vielen Nachbarstaaten Leichenberge und eine verrottende Industrie. Dies war westlichen Historikern schon vor 1989 weit-gehend bekannt. Darüber hinaus konnte in den Wirren des Zusammenbruchs Anfang der neunziger Jahre und der kurzzeitigen Öffnung der Moskauer Archive neues dokumentarisches Material erschlossen werden. Die UdSSR hat demnach zweifelsfrei auf den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hingearbeitet und beabsichtigte, 1941 mit einem Angriff auf die deutschen Streitkräfte in ihn einzutreten. Aus beiden Gründen täte das heutige Rußland prinzipiell gut daran, sich eine andere Legitimation zu verschaffen.
Dennoch halten die Geschichtspolitiker in Rußland an der Traditionswürdigkeit der stalinistischen Ära und an dem Bild eines deutschen »Überfalls« fest. Es ist ihnen, wie ein Blick in die deutsche Presse aus Anlaß von siebzig Jahren »Unternehmen Barbarossa« zeigt, dabei gelungen, dieses Bild seit 1945 und trotz des Zusammenbruchs der UdSSR stark zu exportieren. Spiegelbildlich für diese Entwicklung stehen etwa die in Rußland genannten und in Deutschland akzeptierten Opferzahlen auf sowjetischer Seite. Nannte die Prawda 1946 noch eine Zahl von sieben Millionen sowjetischen Toten, so stieg diese Angabe der Sowjetregierung während der Nachkriegskonferenzen der Siegermächte auf etwa zwölf bis dreizehn, um sich dann über kurze Zwischenstationen auf die jahrzehntelang in allen Schulbüchern zu findende Angabe von zwanzig Millionen einzupendeln. In der Ära Gorbatschow begann man dann, seit Mitte der achtziger Jahre offiziell von siebenundzwanzig Millionen zu sprechen, jene Zahl, die jetzt wieder regelmäßig in der bundesdeutschen Presse gedruckt wurde. Welche Zahl zutreffend wäre, darüber kann und muß an dieser Stelle nichts gesagt werden. Ihre stete, bereitwillig nachvollzogene Erhöhung spiegelt jedenfalls trefflich den russischen wie den bundesdeutschen Umgang mit dem Rußlandfeldzug.
Denn auch wenn sich im Baltikum, in Rumänien, in der Ukraine sowie in Rußland selbst die Stimmen mehren, die auf den verbrecherischen Charakter des Sowjetsystems hinweisen und es offen ablehnen, sich von Moskau aus den früheren Massenmord plus jahrzehntelanger Unterdrückung als Teil eines Unternehmens zur Befreiung suggerieren zu lassen, so fehlt dieser notwendige neue Ton in der Bundesrepublik weitgehend. Der deutsche Rußlandfeldzug galt der bundesdeutschen Presse im Juni 2011 mehrheitlich als »verbrecherischer« Vernichtungskrieg. Daß er gegen ein Regime geführt worden war, welches seine Vernichtung vollauf verdient und den Krieg zudem selbst eröffnet hatte, wurde überwiegend ausgeblendet.
Aber dennoch: Auch hierzulande nahm man wahr, daß das eindimensionale Geschichtsbild in der Luft hängt – die Fakten haben ihm längst den Boden entzogen. Und so kam es um den 22. Juni herum zu Versuchen, die Eindimensionalität zu retten. Die Tageszeitung Die Welt empörte sich in Gestalt Sven Felix Kellerhoffs über Autoren wie Gerd Schultze-Rhonhof und Stefan Scheil. Zwar seien ihre Gedankenketten »abstrus«, aber sie hätten Widersprüche in den gängigen Meinungen aufgezeigt, das wurde zugegeben. Dies wird hier nicht aus Eitelkeit erwähnt, sondern aus zwei Gründen, die in diesem Zusammenhang sehr schön illustrieren, wie das heute herrschende Geschichtsbild geschaffen wurde und welche Folgen es hat. Denn die Welt empfahl lauthals und mehrmals das neue Buch von Rolf-Dieter Müller über Hitlers geheime Pläne zum Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1939 als Antidot gegen Scheil und Schultze-Rhonhof, ja als eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre zum Zweiten Weltkrieg überhaupt. Rolf-Dieter Müller ist nun jemand, der als Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA) in nicht unbedeutender Funktion die Schieflage des Geschichtsbilds vorangetrieben hat und dies auch in dieser neuen Veröffentlichung tut. Hitlersche Überfallpläne im Jahr 1939 sind nämlich nirgends nachweisbar. Sie würden auch überhaupt nicht in die damalige politische Lage passen. Also produziert Müller sie kurzerhand selbst.
Der Leser erfährt: »Reichsaußenminister Constantin Freiherr von Neurath versicherte dem amerikanischen Botschafter William C. Bullitt am 18. Mai 1936, daß aus Hitlers Sicht die Feindschaft zur UdSSR unüberwindbar sei und er nur so lange ruhig bleiben wolle, bis die Westbefestigungen fertiggestellt seien.« (S. 79) Als Quelle für diese Behauptung, wonach Hitler nach Bau der Westbefestigungen gegen die UdSSR vorgehen wollte, gibt Autor Müller die Protokolle des Nürnberger Tribunals an, genaugenommen Band 37, Dok. 150‑L, S. 588–592, eine englischsprachige Aufzeichnung Bullitts über das Gespräch mit von Neurath.
Dort steht allerdings folgendes: »Wir sprachen über die Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetregierung. Von Neurath gab an, daß er die Feindschaft zwischen beiden Ländern für absolut unüberwindbar halte. Er sagte, daß die Sowjetunion Nazi-Deutschland als das Haupthindernis für eine Eroberung Europas durch den Kommunismus ansehen würde. Daher könne es kein Ende der Feindseligkeit zwischen beiden Staaten geben.« (S. 590) In der Gesprächsaufzeichnung Bullitts steht also so ziemlich das exakte Gegenteil dessen, was Autor Müller behauptet. Die UdSSR wird von Neurath als Aggressor und Ursprung der Feindschaft genannt, wie auch in den Äußerungen und Denkschriften Hitlers aus dieser Zeit, die Müller ebenfalls falsch wiedergibt.
Wir haben es hier also erstens mit einer glatten Quellenfälschung zu tun, auf die grundsätzlich möglichst deutlich hingewiesen werden muß. Das gilt zumal, wenn ein derartiges Produkt in den großen Printmedien unisono gelobt wird, was übrigens kein Einzelfall ist. Hätte sich die bundesdeutsche Publizistik zur Kenntnis der Fakten bereit gefunden, wäre diese Geschichtsblase so niemals entstanden. Zweitens aber wird gerade an der Art, wie dies präsentiert und angenommen wird, die Struktur der gegenwärtigen Blase sichtbar. Die lachhafte Behauptung, es könne ein deutscher Außenminister wie von Neurath zum damals wichtigsten amerikanischen Diplomaten in Europa quasi salopp gesagt haben, »wenn der Westwall fertig ist, überfallen wir Rußland«, rutscht nicht nur einem beamteten Historiker des MGFA aus der Feder. Nein, dieser Unsinn passiert auch mühelos die angeblich vorhandenen Qualitätskontrollen der deutschen Medien.
Es kann mithin in der Bundesrepublik über die Außenpolitik des Deutschen Reiches und das Verhalten seiner Streitkräfte – derzeit – praktisch alles behauptet werden, wenn es nur entsprechend negativ ausfällt und gewissermaßen noch eine Schippe auflegt: noch mehr Verbrechen, noch mehr Tote, noch frühere Überfallpläne. Eine Glaubwürdigkeitsprüfung findet ernstlich gar nicht statt. Dies ist die Bilanz, die man aus der Darstellung des 70. Jahrestags des Angriffs auf die UdSSR in den großen deutschen Medien ziehen kann. Daher müssen sich Putin und Medwedjew derzeit nur wenig Sorgen über eine Gefährdung der Weltordnung durch eine Änderung des Geschichtsbilds machen, die etwa aus Deutschland kommen könnte. Aber Deutschland ist ja bekanntlich nicht allein auf der Welt.