Der wichtigste Unterschied besteht zwischen jenen, an die sich die Reden des Philosophen Johann Gottlieb Fichte vor genau zweihundert Jahren gewandt hatten und denen, für die sie heute in Erinnerung gerufen werden sollen: „Anders als Fichte kann man mit ‚Reden an die Nation‘ zunächst niemanden ansprechen, weil niemand weiß, was ‚die Nation‘ ist.” (Willms). Den tieferen Grund dieses Mangels sieht Sander darin, daß unsere „Urteilskraft unter fremdes Recht” geraten sei: Deutschland ist nicht einfach physisch besetzt, sondern psychisch fremdbestimmt. Deshalb laute die gegenwärtige Frage, ob die Deutschen „ihre Identität wiederfinden” können. Die zentralen Begriffe, an denen sich der Unterschied des Publikums festmachen läßt, sind Nation und Identität oder, zusammengefaßt, nationale Identität, mithin etwas, das erst im 19. Jahrhundert entstanden ist.
Als die Französische Revolution eine geistige Tatsache geworden war, an der die Bestände gemessen werden mußten und Napoleon dem Rest Europas demonstrierte, wie leicht das Band zwischen Herrscher und Volk reißen konnte, begann in Deutschland die Einsicht zu reifen, daß auch unter Deutschen neue Gesetze wirkten, eine neue Epoche begonnen hatte: „Nur in demjenigen Zeitalter, in welchem die Begeisterung als eine zum Handeln treibende Naturkraft verschwunden ist und lediglich die klare Einsicht herrscht, tritt der Gelehrte an die Spitze der Fortschöpfung der Welt.” So faßte Fichte 1811, in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, zusammen, was in den Jahren nach 1806, dem Jahr der Niederlage gegen Napoleon, geschehen war. Wie wäre es sonst zu erklären, daß seitdem ein Jahn, ein Schleiermacher, ein Arndt und eben ein Fichte den Ton vorgaben?
Es fand keine Neuschöpfung statt. Das, was jetzt zur deutschen Nation wurde, hatte ja gemeinsame Wurzeln und bis 1806 auch einen Kaiser gehabt. Aber ihnen war, wie Kleist schrieb, die „Kraft der Herzen” abhanden gekommen: „sie reflektierten, wo sie empfinden oder handeln sollten”. Die Vorsehung hat die Deutschen also deshalb „so grimmig aus ihrer Ruhe aufgeschreckt”, damit sie wieder lernten, nach den höchsten Gütern zu streben: „Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe und Treue, Schönheit, Wissenschaft und Kunst.”
Aus keinem anderen Grund legte Fichte im besetzten Berlin den Grundstein zu einer deutschen Nationalerziehung, als er seine Reden hielt. In seiner ersten Rede setzte er voraus, daß die Zuhörer „mit eigenen Augen den Mut haben, redlich hinzusehen, auf das was da ist, und redlich sich zu gestehen, was sie sehen, und daß sie jene häufig sich zeigende Neigung, über die eignen Angelegenheiten sich zu täuschen” ablegen. Es sei „mannhafte Kühnheit, das Übel fest ins Auge zu fassen, es zu nötigen, standzuhalten, es ruhig, kalt und frei zu durchdringen, und es aufzulösen in seine Bestandteile.” Nur so könne man des Übels Meister werden und es erfolgreich bekämpfen. Der erste Schritt zur Besserung sei die Erkenntnis der Lage.
Die Übermacht Napoleons, der die Fürsten nur noch von seinen Gnaden abhängig hielt, machte es offensichtlich, daß es eines stärkeren Bandes für die Nation als das des Herrscherhauses bedurfte. Fichte argumentierte in diesem Sinne gegen die Annahme, es genüge den Fürsten zu erziehen und staatspolitisch zu unterweisen: „Wie will man sich denn versichern, daß man auf eine der Erziehung zum Fürsten überhaupt fähige Natur treffen werde; oder, falls man auch dieses Glück hätte, daß dieser, den kein Mensch nötigen kann, gefällig und geneigt sein werde, Zucht annehmen zu wollen?” Statt dessen solle sich die Erziehung an die ganze Nation wenden, zu der auch der Fürst gehöre. Fichte forderte die allgemeine Erziehung ihrer Mitglieder zur Sittlichkeit im gemeinschaftlichen Handeln. Denn der größte Feind und die „Wurzel aller Verderbtheit” sei die Selbstsucht, die es auszutreiben gelte. Die bisherige Erziehung, die Fichte mit für das Unglück verantwortlich machte, sei oberflächlich und nicht in der Lage gewesen, ihre Zöglinge mit einer „heißen Liebe und Sehnsucht” zu erfüllen und habe zudem nur die bereits gebildeten Stände betroffen.
Fichte vertraute in seinem Programm der nationalen Erziehung, das er in der Folge entwickelt, auf die Regeln der Erziehungskunst, die gleichsam dem Zufall der Natur abhelfen könnten. Nicht Anlagen, sondern Erziehung sollen den Menschen ausmachen, und daher rührt auch die drastische Forderung, die Kinder aus den Familien zu nehmen, um sie ungestört von der Selbstsucht der Eltern und ihrer Umgebung in Gemeinschaft mit anderen Kindern erziehen zu können und sie dann wieder in die große Gemeinschaft zu entlassen. Hier klingt an, was seit Rousseau immer wieder, zuletzt in Bernhard Buebs Lob der Disziplin, als Ausweg vorgestellt wird: die Kinder den unfähigen Eltern und der verdorbenen Kultur wegzunehmen und im Sinne des Staates, der Tugend so zu erziehen, daß aus ihnen keine Egoisten würden. Sie könnten anschließend alles in diesem Sinne selbst ergreifen und ein „erzognes Volk” bilden.
Damals wie heute stellen sich zwei Fragen: Wer soll erziehen? Und: Wie soll erzogen werden? Fichte hatte darauf eine einfache Antwort: Erziehen solle der Staat. Und wenn er dazu nicht in der Lage sei: die Gutsbesitzer, die Städte und die Kirche. An Pestalozzi geschulte Lehrer sollten für die Durchführung gewonnen werden. Fichtes Zeitansatz belief sich auf fünfundzwanzig Jahre, bis die neue Generation erzogen sein würde. Bis dahin müßte man sich behelfen und in Selbsterziehung üben.
Es fällt heute schwer, die beiden Fragen ebenso simpel zu beantworten: Denn die Notwendigkeit der Erziehung an sich wird in Frage gestellt, und darüber hinaus ist die Suche nach verbindlichen Erziehungsidealen innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft ein unmögliches Unterfangen.
Deutschland hat aber auch die Erfahrung von zwei Versuchen im Rücken, die in Ansätzen das taten, was Fichte vorschwebte und damit scheiterten, weil der staatliche Erzieher voller ideologischer Selbstsucht war. Deshalb hat sich die dahinterstehende Frage aber nicht erledigt: Welche Eigenschaften muß ein Staat haben, damit er dem Einzelnen seinen Freiheitsraum entziehen darf?
Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang bis heute Platons Theorie der Gerechtigkeit, die „ein bewußter Versuch ist, die gleichheitlichen, individualistischen und protektionistischen Tendenzen seiner Zeit zu überwinden und die Forderungen des Stammes durch die Entwicklung einer totalitären Sittenlehre wiederherzustellen” (Popper). Unter der zentralen Tugend der Gerechtigkeit nimmt Platon „noch einmal den Kampf gegen den Individualismus” auf, „um für die ‚Gemeinde‘ und die ‚vernünftigen Gedanken‘, ‚das mittlere Leben‘, die ‚Stadt mit der untadeligen Verfassung‘ zu kämpfen” (Benn). Aus dem liberalen Blickwinkel ist Platons Denken Ausdruck des Totalitarismus. Aus konservativer Sicht formuliert er eine Notwendigkeit. Es herrscht jedoch weitestgehend Einigkeit darüber, daß bestimmte Tugenden für das Zusammenleben der Menschen und damit den Staat existentiell sind, ohne die es nicht geht. Darüber, wie der Mensch zu diesen Tugenden kommt, ist man sich nicht einig. Wie Platon ist auch Fichte der Überzeugung, daß der Mensch jedenfalls zu diesen Tugenden erzogen werden muß.
Doch der Grat für eine solche Erziehung ist schmal. Wie eine genaue Untersuchung von Fichtes Reden zeigt, münden sein revolutionäres Geschichtsverständnis, sein Machbarkeitsglaube und seine Tugendorientierung in die Vorstellung vom „Neuen Menschen”. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß Fichte seine Überlegungen in einer konkreten Situation vorträgt, in der die Selbstbehauptung der deutschen Nation von oberster Priorität war, hinter der alle sonstigen Belange zurückzutreten hatten.
Das hat, wie auch die gegenwärtige Fichte-Forschung mittlerweile anerkennt, nichts mit Chauvinismus zu tun. Er möchte die deutsche Selbstsucht besiegen und die Deutschen so zur Freiheit führen. Diese ist offenbar nicht ohne Zwang zu haben, weil der Begriff der Freiheit sonst ein einseitiger bleiben muß. Zur Freiheit muß erzogen werden.
Vor vierzig Jahren hat der Schriftsteller Gerhard Nebel zu diesem Paradox einige gültige Überlegungen formuliert. Nebel erkennt, daß „Adam des Druckes und der zügelnden Hand bedarf, und daß ihn die totale Freiheit entarten und unmenschlich werden läßt”. Autorität und Disziplin seien im abklingen. So werde es schwieriger, nach oben zu schauen, zu verehren, ein Charisma wahrzunehmen. Die Ursache liegt laut Nebel in der Leugnung des Außen, Gottes, das in die abgesicherte Welt einbrechen kann: „Zucht heißt also, den Menschen in die Helle und die Strahlung eines Außen stellen.” Dazu sei väterliche Autorität notwendig: „Das Kind wird und muß fühlen, daß die hier oder dort notwendige Härte aus der Liebe stammt, und daß Liebe notwendig Strafen einschließt. Das Kind hat einen Anspruch darauf, gefordert, bemüht, gestraft zu werden, weil es sich nur so zum geistigen Dasein durchgliedert.” Nur dadurch, durch Erziehung, kann die Befreiung aus seiner nackten Existenz und der simplen Ansicht erfolgen.
Es geht Nebel um die klassischen Tugenden: Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit, zu der noch die Weisheit und die Demut zu zählen sind, ohne die kein Staat existieren kann und die im Einzelnen geweckt werden müssen. Ohne Tugend gibt es den erbarmungslosen Konkurrenzkampf, ist der Mensch des Menschen Wolf (Hobbes). Die griechische arete ermöglichte es dem Einzelnen, seine soziale Rolle auszufüllen, in der christlichen Tradition setzen die Tugenden den Menschen in die Lage, sein spezifisches menschliches telos zu erreichen. Der Kommunitarist Alasdair MacIntyre definiert Tugend als eine „erworbene menschliche Eigenschaft”, deren Besitz und Ausübung es uns ermöglicht, die höchsten Güter zu erreichen, die sich dadurch auszeichnen, daß ihr Erwerb allen dient, da bei ihnen Gutsein und Erfolg nicht auseinanderfallen.
So lautet die Frage: Was erhält und stärkt die Tugenden, was zerstört und schwächt sie? Nur die Ausübung stärkt die relevanten Tugenden, nur die Erziehung erhält sie. Es gibt daher keine Möglichkeit, sie sich äußerlich anzueignen. Fichte verwendet dafür den Begriff der Bildung: „Alle Bildung strebt an die Hervorbringung eines festen, bestimmten und beharrlichen Seins, das nun nicht mehr wird, sondern ist, und nicht anders sein kann, denn so wie es ist. Strebte sie nicht an ein solches Sein, so wäre sie nicht Bildung, sondern irgendein zweckloses Spiel; hätte sie ein solches Sein nicht hervorgebracht, so wäre sie eben noch nicht vollendet.” Die Ermahnung zum Guten zu streben, kann dann entfallen. Die geistige Entwicklung bringt „sittliche Bildung an den Zögling” und schafft damit Handlungssicherheit.
Tugend (und damit auch die Bildung) beinhaltet das Gefühl für Traditionen, das sich in der Urteilsfähigkeit ausdrückt, wie die Grundsätze in einer bestimmten Situation anzuwenden sind, damit sie nicht in einen moralischen Rigorismus und damit der Lebensfeindlichkeit münden. Nicht um Gehäuse geht es, sondern um das „geistige Leben”, das sich in jeder Situation neu bewähren muß. Ein Anspruch, den Kant Fichte gelehrt hat. Moralische Stärke besteht in „Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit” werden soll.
Im Nachlaß heißt es: „Sey rechtschaffen. Entehre dich selbst nicht; sey theilnehmend gegen iederman und leist ieden das Seine. Handle so, daß, wenn du öffentlich gesehen würdest, du geachtet, geduldet und geliebt würdest.” Damit sind wir bei einem Problem angelangt, das Fichte ebenso gesehen hat: Was passiert, wenn die Öffentlichkeit es beklatscht, wenn jeder seinen Vorteil ausnutzt und der Ehrliche der Dumme ist? Es braucht eine transzendente Verankerung des Handelns: „Die Erziehung zur wahren Religion ist somit das letzte Geschäft der neuen Erziehung.”
In dieser Hinsicht sind uns die Hände gebunden. Aber, und das sollte uns hoffnungsvoll stimmen, es lag auch nicht in Fichtes Hand. Die Bedeutung seiner Reden für uns hat andere Gründe. Es ist zunächst eine Erinnerung an einen Anspruch, den es immer noch einzulösen gilt. Er besteht in einer uns eigentümlichen Art und Weise, die Welt zu betrachten und sich zu ihr zu stellen. Der Deutsche Idealismus und damit Fichte sind der deutlichste Ausdruck dieser Art zu denken, die die Wirklichkeit höher schätzt als die Realität und weiß, daß das, was wir sehen und anfassen können, nicht alles ist was existiert. Als Erinnerung daran sind Fichtes Reden aktueller denn je. Ob sie noch einmal ihre Wirkung entfalten können, bleibt fraglich. Deutschland ist zwar kein besetztes Land mehr, wie es 1807 und 1978 (wir erwähnten Willms) der Fall war. Aber es ist letztendlich, nachdem es wieder frei denken könnte, einer umfassenden Selbstaufgabe anheimgefallen, die bis in den letzten Winkel unseres Denkens vorgedrungen ist. Deshalb weht uns Wehmut an, wenn Fichte die ungeborenen Nachfahren die gegenwärtigen Deutschen beschwören läßt: „Ihr rühmt euch eurer Vorfahren (…) und schließt mit Stolz euch an eine edle Reihe. Sorget, daß bei euch die Kette nicht abreiße: machet, daß auch wir uns eurer rühmen können, und durch euch, als untadeliges Mittelglied hindurch, uns anschließen an dieselbe glorreiche Reihe. Veranlasset nicht, daß wir uns der Abkunft von euch schämen müssen (…).” Jede Generation muß sich, auch unter den schwersten Lasten, die ihnen die Geschichte aufgebürdet hat, entscheiden. Ohne nationale Identität droht die endgültige Fellachisierung. Das ist dann der Fall, wenn selbst die letzte „Traditionskompanie” aufgerieben ist.