Der Mensch der Zivilisation ist
der formlos durch Großstädte flutende Pöbel, die wurzellose Masse, Agorabesucher Roms, der moderne Zeitungsleser, der ‚Gebildete’, … Anhänger eines Kultus des geistigen Mittelmaßes und der Öffentlichkeit der Kultstätte … Die Zivilisation ersetzt Ideen durch Zwecke, Symbole durch Programme … Die Quantität ersetzt die Qualität, die Verbreitung die Vertiefung … Sie wertet ihre Mittel nach der Zahl der Erfolge. Sie setzt an die Stelle des Denkertums früherer Zeiten die intellektuelle männliche Prostitution in Rede und Schrift.
Die spezifische weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung, die ‚Zerstreuung’ … die Ablösung der geistigen Anspannung durch die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des ‚Vergnügens’ und die ‚Aufregung’ des Spiels und der Wette … das kehrt in allen Weltstädten der Zivilisationen wieder. Kino, Expressionismus, Theosophie, Boxkämpfe, Niggertänze, Poker und Rennwetten – man wird das alles in Rom wiederfinden.
Man weiß, von welcher Semantik Spenglers Begriff der Zivilisation ist: eine mitunter lang anhaltende Niedergangsphase des Abblühens großer Kulturen, deren einst inspirativen Kräfte, vor allem die religiösen und künstlerischen, erschöpft sind, nur mehr matter Nachklang, so daß sich der Mensch mit seiner inneren Öde in epigonale Ersatzformen flüchtet.
Wenn vorher die scheinbar ideenloseste Macht noch in irgendeiner Weise der Idee dient, so ist in späten Zivilisationen selbst der überzeugendste Schein einer Idee nur die Maske für rein zoologische Machtfragen. (…) Bei Chaironea und bei Leipzig wurde zum letzten Mal um eine Idee gekämpft. Im I. Punischen Krieg und bei Sedan sind die wirtschaftlichen Momente nicht mehr zu übersehen.
Was bleibt? Hedonismus, so lange die Fülle der Waren und die Flutungen der billigen Unterhaltung ausreichen, eine sich überschminkende Degenration, alle Sorten Massenspektakel, dahinter aber große Langeweile, die nach Animateuren ruft und im „Kick“ schon ein Er-lebnis sieht. Beginnt etwa Fernsehkoch Markus Lanz die Sonnabendshow “Wetten dass …” zu moderieren, gerät diese “Premiere” bereits zum nationalen Ereignis! Wo der Kern faul ist, wird die Peripherie um so mehr aufgerüstet. Verkümmerung im glamourösen Outfit. Viel sämige Soße, wenig Frucht.
Wenn Walter Benjamin in einem Artikel zum Wandel der Photographie den Verlust der Aura beklagt, die durch lichtstärkere Objekte, also mehr Effekt, mittels fortgeschrittener Technik und laufender Reproduktion verschwindet, dann analysiert er ein verwandtes Thema. Ebenso Heidegger, der den Menschen durch die Verselbständigung technischer Prozesse in ein “Gestell” geklemmt sieht, reduziert zum Menschenmaterial, zum Humankapital, also zum “Bestand”, der nicht mehr bestellt. Dabei hatte Heidegger noch laute Maschinen im Blick, nicht mal die smarte Bildschirmwelt der Medien, diese allumfassende “Matrix”.
Aber: Wie liebenswert doch heute manches erschiene, was Spengler schon als Ausdruck tumber Dekadenz empfand. Der Zeitungsleser! Heute geradezu elitär eine kulturelle Mehrleistung erbringend, interessiert, orientiert, Urteile nachfragend und formulierend. Vorm Hintergrund dessen, daß Handschrift in Grundschulen als motorische Überforderung gilt, eine die Sprache beschädigende Rechtschreibreform als Zugeständnis an die Trottel der Nation erfolgte und den Durchschnittsabiturienten das Feuilleton der großen Blätter unverständlich bleibt, erscheint der homme de lettres mit der Zeitung, die es – seltsam anachronistisch! – immer noch gibt, bereits als letzter Vertreter der verdämmernden Hochkultur.
Alles andere mutet bedrückend gegenwärtig an, denn die Entsprechungen drängen sich auf: die Spaßgesellschaft, die Sucht nach immer stärkeren Reizen in immer höherer Frequenz, die abstrakte Leistung für Masse und Menge statt Qualität, schneller Gewinn, noch schnellerer Verschleiß, damit korrespondierend die Burn-out-Welle, ferner die Interferenzen der Bloggerei und Kurzzeit-Meldungen, das Übermaß der Bilder, das schrille Grelle, die Casting-Shows, überhaupt der Narzißmus und Akzelerationssexismus, nicht mehr nur Poker und Rennwetten, sondern gleich solche auf den Untergang von Staaten und Währungen. Vor allem aber: Die inflationäre Blähung der Objekt- und Konsumwelt, die Blasen, in deren Hohlheit das Wesentliche und Eigentliche verkümmert. Die Digitalisierung ermöglicht, daß die Gesellschaft dank der Vorstellungen generierenden Apparate weiterläuft, ganz so, wie ein Patient in der Anästhesie an medizinischen Aggregate noch stoffwechselt. Längst dürften sich mehr mit dem Apple-Logo identifizieren als mit Symbolen ihrer Nation. Apfel statt Adler!
Welch eine visionäre Kraft nicht nur in der Systematik und Idee von Spenglers Jahrhundertwerk, sondern gleichfalls welch faszinierende Treffsicherheit in Vergleich und Metaphorik: Theosophie, Boxkämpfe, Niggertänze. Also die metaphysische Sehnsucht in ihrer Ersatzbefriedigung durch Esoterik und Fantasy, Harry Potter und Vampire, Trend- und Fun-Sportarten und die Exotik-Träume der „weißen Massai“. Ja, das findet man im untergangsgeweihten Rom wohl in Entsprechungen wieder, das drängt sich heutzutage allerdings sehr gegenwärtig, nur eben nicht geistesgegenwärtig auf.
Niedergänge pflegen eine Kultur des bloßen Machens. Es wird deklariert, zertifiziert und prämiert, was eigentlich längst wertlos ist. Methode stets vor Inhalt, Präsentation vor Substanz, Show der Superstars vor Können! Die dümmlichste aller pädagogischen Parolen: Das Lernen lernen! Wer überhaupt etwas „macht“, gilt als Talent, als „kreativ“, also irrtümlich als schöpferisch. Der Kaiser ist mit großen Gepränge nackt unterwegs, aber das Kind, dem das auffällt, ist in der Ganztagsschule interniert. Alle anderen bewundern seine vermeintlich neuen Kleider. Nichts stört das permanente Lob, die große Inklusion von allem und jedem, den Dauerapplaus; alles ist hochspannend, ungeheuer interessant, total witzig.
Nicht nur die Religion verliert ihre Gläubigen, wenn sie nicht – wie der Islam – ideologisiert, nicht nur die Künste verarmen zum Design, auch die großen Fragen und Antworten der Naturwissenschaft gehen immer weniger etwas an. Hauptsache, alles funktioniert, die Betriebssysteme fahren stabil hoch und man beherrscht die enge Lichtung seines „Seyns“ in der Weise, daß Einkommen und Karriere noch stimmen. Nietzsche bliebe unverstanden: Wer ein WARUM zum Leben hat, erträgt fast jedes WIE.
Zur Behandlung von Problemen etabliert sich eine Kultur des Euphemismus, die jede Kritik therapeutisch abmildert, damit sich bloß niemand diskriminiert und nicht gleichgestellt fühlt. Permanente Verschiebungen sorgen dafür, daß existentielle Probleme um der guten Stimmung des Wahlvolkes willen umgangen werden und man pauschal Demokratie, Zivilgesellschaft, und Humanität beschwört. Selbst wenn die Korrekten zu Gender-Mainstreaming, Energiewende, Beschneidungsproblematik sowie Helmpflicht für alle alles gesagt hätten, wäre noch nicht eine Existenzfrage berührt. Überall Initiativen, Wettbewerbe, neue bunte Flyer. Fallen trotzdem harte, etwa soziale Ungerechtigkeiten ins Auge, so vertraue man bitte auf einen noch zu leistenden Reifeprozeß des Gesamtgesellschaftlichen in der vermeintlichen Einhelligkeit des guten Willens. Die ideelle Stagnation selbstermutigt sich in der permanente Feier der von ihr festgelegten besten aller möglichen Welten.
Martin Höfer
Sätze wie Einschüsse. Danke dafür! Optimisten würden diesen Gesamtvorgang wohl einfach als Fortschritt bezeichnen und darauf verweisen, daß Kulturen und Lebensumstände einem steten Wandel unterzogen sind. In Jahrhunderten betrachtet bleibt indes nur ein technischer Fortschritt, der alles andere - das Eigentliche - in sich aufsaugt und austrocknet. Bei solchen Worten stelle ich mir indes stets die Frage, wie dieser Konsens aufgebrochen werden kann? Was kann man unternehmen gegen Niedergang und Scheuklappen des Einzelnen im Massenheer? Noch mehr "neue bunte Flyer" bringen da wohl nichts, und auch die lobenswerten Aktionen von KSA und Identitären sprechen außerhalb des eigenen Milieus nur wenige an. Wie hält man einer Gesellschaft den Spiegel vor, wenn der Betrachter darin sich selbst und seine Scheinwelt nicht mehr zu erkennen vermag?