Doch Sergio Romano beschäftigt sich nicht mit dem historischen Antisemitismus, genausowenig will er die Literatur über den Holocaust vergrößern. Sein Thema ist der Umgang mit der Vergangenheit und die Gefahr, die daraus erwachsen könnte. In seinem Brief an einen jüdischen Freund (Berlin: Landt Verlag 2007. 240 S., geb, 29.90 €) wendet sich der italienische Diplomat und Schriftsteller gegen eine quasireligiöse Überhöhung der Shoa – um einem neuen Antisemitismus vorzubeugen. Für einen Teil des Judentums, so Romano, sei der Holocaust nicht nur der zentrale Teil des vergangenen Jahrhunderts, vielmehr manifestiere sich durch ihn das Böse in der Geschichte, und zwar das Böse selbst – eine Art „Gegengott”, den es mittels Gedenkveranstaltungen, Mahnmalen, Museen, Zeugnissen der Betroffenheit und Bitten um Vergebung zu bannen gelte.
Der Holocaust werde dadurch aber der normalen Geschichtsschreibung entrissen, es gebe die Tendenz, ihn gleichsam zu kanonisieren. Er erscheine so nicht mehr als ein geschichtliches Ereignis, sondern als gemeinsame Schuld ganzer Nationen und Religionen. Eine jede Verallgemeinerung, so seine These, rufe jedoch früher oder später eine nicht minder radikale und ausschließende Reaktion hervor. Romano weist in seiner Analyse nicht nur auf neuere antisemitische Phänomene hin: etwa auf den Haß gegen den israelischen Staat und seine Politik. Sein Gespür für politische Zusammenhänge und Konstellationen sowie seine hervorragenden Kenntnisse der jüdischen und europäischen Geschichte erhellen dem Leser auch einige bekannte Stereotypen: Natürlich, es gibt diese „jüdische Internationale”, denn das Judentum ist seit über zwei Jahrtausenden verstreut in alle Teile der Welt. Seit Moses Montefiore (1784–1885) begann diese weltweite Diaspora auch für eine jüdische Heimstatt zu wirken, der Antisemitismus des neunzehnten Jahrhunderts machte ihr das zum moralischen Gebot. Die Siedler in Palästina konnten fortan auf die Solidarität ihrer europäischen und amerikanischen Glaubensbrüder bauen: 1917 gewann Chaim Weizmann das britische Establishment für die Idee der Rückkehr ins Heilige Land. Die Balfour-Deklaration war gleichsam der Dank an die amerikanischen Israeliten: Sie hatten die Alliierten im Kampf gegen die Deutschen unterstützt.
Später führte Hitlers Rassenwahn selbst assimilierte Juden, wenn nicht nach Palästina, so jedoch in die Diaspora zurück. Viele von ihnen engagierten sich für das junge Israel und heute stehen sie genauso in der Pflicht: Herzls „Judenstaat”, in feindlicher Umgebung errichtet, braucht internationalen Rückhalt und natürlich informelle Diplomatie. Und je brutaler Israel seine politischen und militärischen Schlachten schlägt, um so entschiedener verteidigt sie die Diaspora – Loyalität, direkt proportional zur ungelobten Politik des gelobten Landes. Für Romano zeigen sich hier die fatalen Folgen einer Sakralisierung der Shoa: Denn nichts rechtfertige den Aggressor so sehr wie die Erinnerung an erfahrene Gewalt – aber neue Theorien von der zerstörerischen „jüdischen Internationale” seien damit gewiß. Der Holocaust als mythisches Zentrum des zwanzigsten Jahrhunderts – nach Sergio Romano wirkt das wie ein Bumerang: Menschen, Institutionen, ja ganze Länder würden ausschließlich nach der Rolle beurteilt, welche sie in diesem Zusammenhang gespielt hätten, früher oder später landeten alle auf der Anklagebank: früher Deutschland, gestern die Schweiz, heute Frankreich, morgen die USA.
Aber die Gesetze der Politik sind dauerhaft in Kraft, manchmal schaffen sie fragwürdige Koalitionen und begünstigen dadurch neue Ressentiments. Romano, der lange Zeit bei der NATO und in Moskau Botschafter war, erweist sich in seinem Buch immer wieder als politischer Beobachter par excellence: Wollten bestimmte Kreise nicht 1986 den österreichischen Bundeskanzler Kurt Waldheim schwächen, nur weil der eine sowjetfreundliche Politik betrieb? Und versuchten nicht andere später die Schweizer Banken auf den internationalen Finanzmärkten auszubooten? In beiden Fällen brauchten sie nur eine Frage stellen: Was habt ihr getan während der Zeit des Dritten Reiches? Für Sergio Romano ist das eine Strategie: Nach einer langen Geschichte der Schikanierung und Verfolgung sei die Erinnerung an den Völkermord eine Art Versicherungspolice, der beste Schutz vor einem „Rückfall”. Dabei vertritt er durchaus die Ansicht, der Holocaust sei ein „einzigartiger Vorgang, der sich von allen Massenmorden des zwanzigsten Jahrhunderts unterscheidet”. Aber er plädiert für eine „laizistische Geschichtsschreibung”, die den Genozid an den Juden genauso behandelt wie jede andere „unerhörte Tragödie auch”.
Als Sergio Romanos Lettera a un amico ebreo 1997 in Italien erschien, löste er eine leidenschaftliche Debatte aus: Man warf dem Autor unter anderem vor, oberflächlich und leichtfertig gearbeitet zu haben und alte antisemitische Klischees zu bedienen. Andererseits erhielt das Buch auch viel Lob. Es sei von jenem liberalen Geist geprägt, hieß es, dessen Grundlage die unerschrockene Kritik bilde. Gewiß, das Urteil von Romanos Gegnern hat manches für sich: Der Autor versammelt in diesem glänzend geschriebenen Essay vor allem persönliche Sichtweisen, er stützt sich dabei weniger auf empirisches Material. Seine Analogien sind brillant, doch zuweilen sprunghaft und mitunter lassen sie bestimmte Dinge nur erahnen, statt vollends Gewißheit zu geben. Aber kann man heute auch etwas anderes erwarten, da nur der Gedanke an eine entsprechende Recherche sofort mit dem Verdikt des Antisemitismus belegt werden würde? Wie dem auch immer sei, das Buch wird kaum einen neuen Historikerstreit auslösen, wie mancher vielleicht dachte. Aber für eine Theorie des modernen Antisemitismus liefert es erste Ansätze. Es wäre zu begrüßen, wenn man sie künftig aufnimmt.
Im übrigen hatte Sergio Romano Gelegenheit, sein Buch in der hervorragenden Übersetzung von Martina Kempter in Deutschland vorzustellen – im Oktober im Jüdischen Museum zu Berlin. Obwohl die Simultanübersetzung Romanos Thesen nur verknappt und mißverständlich wiedergab, blieb die Atmosphäre ruhig und entspannt. Fast hatte man den Eindruck, als sei die Diskussionslust vom Rauschen der Lautsprecheranlage verschluckt worden. Allerdings zeigte sich eine Vertreterin des Museums empört über die Reflexionen Romanos. Nachfragen ergaben, daß die Museumsleitung anfangs gar nicht wußte, wen sie eingeladen hatte. Als es später offenkundig geworden sei, habe man das Ansinnen zurückgewiesen, die Sache wieder abzusagen. Man sei auch ein Ort für kontroverse Diskussionen, hieß es.