bedeutet es nichts anderes, als daß man das, was man bewahren will, erst durch eine Umwälzung der Verhältnisse schaffen muß. Hugo von Hofmannsthal bezeichnet deshalb in seiner berühmten Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation »eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könne«, als das Ziel der Konservativen Revolution. Er bettet diesen Prozeß nicht nur in die Gegenbewegung zu 1789 und zur Romantik ein, sondern sieht ihn auch gegen die Renaissance und Reformation gerichtet. Was im ersten Moment fragwürdig klingt, klärt sich, wenn man diese historischen Phänomene unter dem Aspekt der Spaltung betrachtet: in Volk und Elite, in Lutheraner und Katholiken, wobei insbesondere diese Spaltung eine schwere Bürde für die deutsche Nation darstellte.
Hofmannsthal geht es um die Synthese: »daß der Geist Leben wird und Leben Geist, mit anderen Worten: zu der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zu einer wahren Nation«. Hier schimmert die alte Frage »Was ist deutsch?« oder »Was ist des Deutschen Vaterland?« durch. Gleichzeitig wird aber auch der ungeheure Anspruch an diese »innere Gegenbewegung« deutlich. Letztlich geht es um nichts weniger als die (Wieder-)Herstellung einer völkischen Einstimmigkeit auf geistiger Grundlage, den alten Traum von der fraglosen Einigkeit, von der einen Mitte und der Aufhebung der Gegensätze im Gemeinwesen.
Wenn man diesen Anspruch mit den Schriften der gemeinhin unter dem Begriff der KR zusammengefaßten Autoren abgleicht, wird man zunächst kaum Entsprechungen finden. Bei den Köpfen, die aus der Masse herausragen, finden wir, etwas zugespitzt, den skeptischen Blick auf eine Endzeit (Spengler), die Pose des Kampfes um des Kampfes willen (der frühe Ernst Jünger) und die katholische Kirche als Institution des Konservativen (Carl Schmitt). Am ehesten wird der Anspruch von Hofmannsthal noch in den Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann eingelöst, der die Demokratie nicht zuletzt deshalb ablehnt, weil sie Unfrieden stifte und Gemeinschaft zerstöre. Allerdings spricht er noch nicht von Konservativer Revolution, sondern von einer Reform: »Konservativ sein heißt nicht, alles Bestehende erhalten zu wollen: die Konservativen beteuern ihre Bereitwilligkeit zu Reformen. Konservativ sein heißt: Deutschland dennoch deutsch erhalten zu wollen …«. Diesen Gedanken hat dann Moeller van den Bruck in seinem Dritten Reich aufgenommen und letztendlich in die Revolution gewendet. Er spricht aber auch von der »dritten Partei«, die zwar die Partei aller Deutschen sein soll, ja aber dennoch »Partei« und nicht Reich oder Staat ist.
Der Anspruch bei Mann, Moeller van den Bruck und Hofmanns¬thal ist dennoch ähnlich: Die Synthese, der dritte Weg, die Kultur solle die Grundlage des Erhaltenswerten bilden. Keiner meint damit eine Restauration der Vorkriegsverhältnisse. Daß nicht mehr von Reform geredet wird, liegt an den Zeitbedingungen. Der sichtbarste Ausdruck der Zerrissenheit war die Revolution von 1918, die eine Nation, die vier Jahre lang weitestgehend einträchtig gegen den Rest der Welt gekämpft hatte, in den Bürgerkrieg führte. Gegen eine Revolution aber, so die Überlegung, komme man nicht mit einer Reform an.
Dieser Gedanke ist an die Perspektive gebunden, aus der die Konservative Revolution nach 1918 beschworen wird. Im Gegensatz zu anderen konservativen Revolutionären, seien es Augustus oder der Reichsfreiherr vom Stein, sitzt man nicht an den Hebeln der Macht. Man ist in der Rolle des Unterlegenen, der mit ansehen muß, wie diejenigen, die herrschen, alles zerstören, woran man selber glaubt. Daß man zu einem Umsturz aufrufen muß, um das Ganze zu retten, ist ungewohnt, da man sich natürlicherweise der Elite zugehörig fühlt, die aber durch Schwäche oder Ungerechtigkeit keine Entfaltungsmöglichkeit bekommt. Im Hintergrund steht das Zeitalter der Massen, das konservative Positionen in die Opposition zwingt und ihr scheinbar nur den revolutionären Weg offenläßt.
Hofmannsthal zieht die Linie zu den Vorfahren der Konservativen Revolution, zur Romantik und ihren Ausläufern, und sieht darin eine unheilvolle Tradition, die jedoch durch das 19. Jahrhundert ein ganz anderes Gesicht bekommen habe. Es gehe den »Suchenden« nicht mehr darum, dem Leben zu entfliehen, sondern darum, den Raum des Lebens zu sichern. Dennoch: Alle Prozesse, die sich im 20. Jahrhundert entfalten, sind im 19. Jahrhundert angelegt. Das beginnt mit dem Einheitsstreben in den Befreiungskriegen und hört bei Nietzsche auf. Wie sehr man sich bereits damals, nach Nietzsche, als Epigone fühlte, bringt Gottfried Benn zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann sagen: breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese.« Diese Beziehung hat auch der Rezeption der Konservativen Revolution, wenn deren Protagonisten im Schnitt auch etwas jünger als Benn waren, enge Grenzen gesetzt.
So unbegründet es im ersten Moment klingt, so hat sich doch im Wilhelminischen Kaiserreich, einem der besten Staaten, die es auf gesamtdeutschem Boden gegeben hat, bereits der Spalt aufgetan, den Hofmannsthal und all die anderen nach 1918 wieder schließen wollten. Nietzsche hat es bereits in den Unzeitgemäßen Betrachtungen auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt, daß diese Kultur es verlernt habe, zwischen echt und unecht, zwischen tot und lebendig zu unterscheiden und »ihr der gesunde, männliche Instinkt für das Wirkliche und Rechte verlorengegangen« sei. Georg Simmel hat das unter den Begriff der »Tragödie der Kultur« gefaßt, die darin bestehe, daß die vernichtenden Kräfte aus dem zu vernichtenden Wesen selbst kämen. Die Kultur, das selbständige Objektive, in dem der Geist das Subjekt zu sich selbst hinführen will, braucht die Subjekte für sich selbst und pervertiert auf diese Weise die Subjekt-Objekt-Synthese. Nietzsche wurde als Zeuge dieses Prozesses verstanden, der schließlich der kalten Philosophie der Abstraktion, die mit dem Leben nichts mehr gemein hatte, zum Opfer fiel.
Aus diesem Widerspruch resultierte aber auch frühzeitig, seit der Gründerzeit, die sogenannte Lebensreformbewegung, die man damit zu den unmittelbaren Vorläufern der Konservativen Revolution zählen muß. All die Gruppen und Gedanken der KR sind nicht plötzlich 1918 dagewesen, sondern wurden angelegt in der Mischung aus Kulturkritik und Lebensreform, von der die letzten Vorkriegsjahrzehnte geprägt waren. Aus der bunten Palette der Lebensreformbewegung, die vom Vegetarismus bis zum Pazifismus, von der Eugenik bis zur Jugendbewegung reicht, lassen sich daher gemeinsame Einsichten destillieren. An erster Stelle steht dabei die Erkenntnis, daß aus der Höherentwicklung der technischen Kultur nichts dergleichen für die Subjekte folgen muß, sondern daß sie sich dem Fortschritt zunehmend unterwerfen müssen und die Freiräume kleiner werden. Daraus folgt die innerliche Lossagung des einzelnen, die unbewußt von der Einsicht getragen ist, daß sich auch die festgefügteste Ordnung irgendwann einmal erschöpft haben wird. Es bedarf daher neuer Bindungen.
Ein Glücksfall der Lebensreformbewegung war, daß sie sich in einem Staat entfaltete, der politikfreie Räume anerkannte und damit die Möglichkeit eröffnete, gesellschaftliche Wirkungen zu entfalten, ohne parteipolitisch gebunden zu sein oder sich entsprechend zu bekennen. Das meiste spielte sich in diesen Schutzräumen ab. Der namensgebende Begriff des Lebens wurde zum Maßstab, der an die Hervorbringungen von Wissenschaft und Literatur anzulegen war. Besonders in ihm kommt die Bedeutung des 19. Jahrhunderts für die geistige Synthese, die Hofmannsthal anspricht, zum Ausdruck. Ernst Jünger hat in diesem Sinne nicht die Bestrebungen der Wissenschaft, das Leben zu erklären, als den wesentlichen Zug dieser Zeit ausgemacht, sondern das Spiegelbild dieses Prozesses: »das Leben, vordringend in den wissenschaftlichen Raum, um sich mit dem Geschrei der Märkte, dem Haß der Blutsgemeinschaften und dem Toben der politischen Kämpfe in ihm anzusiedeln«. Auch das entfaltete sich erst endgültig nach dem Zusammenbruch von 1918.
Damit hatte sich die beschauliche Welt der Lebensreform erledigt, weil ab jetzt alles politisch war. Das Erbe der Lebensreform konnte auf diese Art nicht angetreten werden, da man es sich mit anderen politischen Strömungen teilen mußte. Vieles von dem, was damals dem Leben dienen wollte, wurde dadurch zu einer »verkappten Religion«, die vorgab, die ganze Welt aus einem bestimmten Punkt heilen zu können. Die KR war vor dieser Gefahr nicht gefeit, viele Verstiegenheiten, ihre Sterilität und Lebensfremdheit haben hier ihren Ursprung. Im Grunde war die KR aber, von etlichen Verbalradikalismen abgesehen, eher auf eine Reform als eine Revolution aus. Zwar bringt sie eine gewisse Unversöhnlichkeit dem System gegenüber zum Ausdruck, doch spielt sich diese eben nicht auf der Straße, sondern in den Zeitschriften und Büchern ab. Zu beidem, zur Reform als auch zur Revolution, fehlten ihr die Mittel: zur Reform die Macht (wenn man von der kurzen Phase der aussichtslosen Präsidialkabinette absieht), zur Revolution die Massen. Welchen Weg man indes nicht gehen wollte, war gerade der von Hofmannsthal vorgeschlagene: die Nation vom Grund aufbauend, jeder einzelne bei sich anfangend, um sowohl dem Geist als auch dem Leben gerecht zu werden.
Damit hat sich die Konservative Revolution – unabhängig der Verfolgungen, die sie im Dritten Reich zu erleiden hatte, und unabhängig der Verdächtigungen, denen sie bis heute ausgesetzt ist – auch selbst der Möglichkeit beraubt, das verbindende Glied zwischen Lebensreform und Kommunitarismus zu sein, was sie in der Rede Hofmannsthals durchaus war. Wenn man die Konservative Revolution auf diesen Kern zurückführt, bleibt zumindest ihr großer Anspruch bestehen. Es ging ihr nicht um entweder Revolution oder Erhaltung und auch nicht um einen faulen Kompromiß aus beidem. Es ging ihr um ein Sowohl-Als-auch, sowohl um Revolution als auch um Bewahrung. Die Entscheidung darüber, was es umzustürzen und was es zu bewahren gilt, muß immer wieder neu getroffen werden.