Nach Lizentiat und Promotion widmeten Sie Ihr nächstes Buch 1976 der Reflexion als soziales System. Sie entwerfen darin eine Reflexions-Systemtheorie der Gesellschaft, weil zur Vermittlung des individuellen Handelns mit dem politischen System die praktische Reflexion nötig sei. Was ist darunter zu verstehen und wie ist das Buch mit der enthaltenen Habermas-Kritik aufgenommen worden?
„Praktische Reflexion” bedeutet erstens gelebte oder vollzogene Reflexion im Unterschied zur theoretisch nachträglichen. Diese letztere hat „nur” die Aufgabe, die gelebte Reflexion zu rekonstruieren. Wenn diese allerdings gar nicht als Reflexion erkannt wird, sondern beispielsweise als präreflexives Ego und einfacher Bewußtseinsstrom, kann sie auch nicht adäquat rekonstruiert werden. Praktisch ist die Reflexion zweitens insbesondere als interpersonale: Das zwischenmenschliche Verhältnis ist ein Reflexionsverhältnis: Ich reagiere auf dein Verhalten wie deine Erwartungen und umgekehrt. Wir verändern uns darin gegenseitig. Diese Veränderung ist das praktische daran. Dort ist die Reflexion zuhause, die nicht nur „unter dem Hirnschädel wuchert”, wonach Marx suchte, die nicht bloß verschiedene Interpretation der Welt ist. Von hier aus müssen die Strukturen der Gesellschaft und deren Veränderung verstanden und angefaßt werden.
Was Habermas und seine Gläubigen angeht: Unter der Herrschaft des „herrschaftsfreien Dialogs” wurden meine früheren Entwürfe ignoriert. Ignorieren ist bekanntlich das Einfachste. Erst im neuesten Buch Handlungen. Das periodische System der Handlungsarten habe ich Habermas durch einen „Offenen Brief” persönlich herausgefordert.
Schon vor dreißig Jahren stand also das Problem der Demokratisierung der Demokratie im Mittelpunkt Ihrer Überlegungen. Seitdem ist viel passiert, Mauerfall und Wiedervereinigung haben zur sogenannten „Berliner Republik” geführt. Haben wir die Demokratie, wie Sie sagen, „von einem Nachkriegsimportartikel zu etwas eigenständig Durchdachtem und Gelebtem” entwickeln können?
Kurze und einfache Antwort: Nein! Zwar war die „Kritische Theorie der Gesellschaft” sehr populär und hätte eine große Chance der Realisierung von Philosophie dargestellt, aber es fehlte die konstruktive Substanz. Mit bloßer Kritiktheorie läßt sich nichts dauerhaft bewegen.
Ihr Vorschlag, den Sie 2003 in Ihrem Buch Revolution der Demokratie als „idealtypische Demokratiedefinition” präzisierten, läuft auf eine Viergliederung der Demokratie hinaus. Können Sie uns kurz erläutern, was es damit auf sich hat?
Die Viergliederung ergibt sich aus der Stufenstruktur der menschlichen Reflexion: erstens einfache Intention, zweitens einseitig-subjektive Reflexion, drittens doppelt-gegenläufige kommunikative Reflexion und viertens systembildende Metakommunikation. Daraus folgt für das große soziale System die Unterscheidung der Subsysteme: erstens Wirtschaft, zweitens Politik im engeren Sinne, drittens Kultur und viertens Grundwertesystem. Dieser latenten Gliederung unserer Gesellschaft muß explizit durch Institutionen Rechnung getragen werden, angefangen bei unabhängig voneinander gewählten Parlamenten für jede Ebene. Ähnlich wie ein einzelner Mensch nicht richtig „ticken” kann, wenn er nicht wenigstens implizit eine Wertstufenordnung einhält (A. Maslow), kann eine moderne Gesellschaft nicht befriedigend funktionieren, ohne explizit, also durch geeignete Institutionen, dieser Werte-Ordnung Rechnung zu tragen. Deshalb die allseits beklagte Dominanz der Wirtschaft, deshalb die Lähmung unseres Parteiensystems, das diese Unterschiede nicht berücksichtigt.
Sie plädieren also nicht dafür, wie andere Demokratiekritiken der letzten Jahre, beispielsweise Demokratie. Der Gott, der keiner ist von Hans-Hermann Hoppe, den Staat aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen und alles in einer „Utopie der Selbstverwaltung” münden zu lassen. Welche Rolle spielt der Staat in Ihrer „Realutopie”?
Ich halte die Flucht in Bürgerbewegungen, die nicht gleichzeitig eine Neuordnung des Staates anzielen, für schlechte Utopie und ziemlich gefährlich. Staat ist nichts anderes als die umfassende Rechtsgemeinschaft. Das Verhältnis von Bürgergesellschaft und Staat als ein Gegeneinander aufzufassen, ist immer ein Krankheitssymptom.
Sie haben sich mit der Idee der Viergliederung mit einer Partei an den Berliner Abgeordnetenhauswahlen im letzten Jahr beteiligt. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht, und sehen Sie weiterhin Chancen, Staat und Gesellschaft auf diesem Wege zu verändern? Was sagen Sie jungen Leuten, die vor der Entscheidung stehen, sich in einer Partei zu engagieren?
Das Bündnis mit der „Humanwirtschaftspartei” war zu schmal. Darüber hinaus hat sich in mir der Gedanke verstärkt: Nur von den geistigen Grundlagen her können wir unsere Gesellschaft und Demokratie grundlegend weiterentwickeln, also nicht mit vordergründiger Pragmatik. Das Konzept der Viergliederung ist natürlich sehr umfassend und geht in die Tiefe. Aber es ist doch verständlich für eine Mehrheit der Bevölkerung. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis auch die „Pragmatiker” unter den politisch Interessierten und Kritischen begreifen, daß „Revolution der Demokratie” nur von den geistigen Tiefen her – „von Grund auf” – gemacht werden kann. Also, ich engagiere mich nicht mehr praktisch, wo diese Gründe nicht wirklich erfaßt werden und würde auch den Jüngeren so raten. Abgesehen davon, daß anders auch gar keine Chancen bestehen. Aus demselben Motiv, Politik mit Geist zu verbinden, habe ich meine jüngst erschienene Hölderlin-Interpretation im Titel daran anklingen lassen: Revolution aus Geist und Liebe.
Sie haben dieses Ihr jüngstes Buch über Hölderlins Hyperion Rudolf Bahro gewidmet, der vor bald zehn Jahren verstarb. Als sein Nachfolger haben Sie von 1998 bis 2002 Sozialökologie gelehrt. Was verbinden Sie mit Bahro und seinem Entwurf einer Sozialökologie?
Ich glaube zwar, in theoretischer Hinsicht weiter zu sein als Rudolf Bahro. Was ich jedoch einmalig bei ihm finde, ist seine konstruktiv gemeinte, also nicht in Gewalt und bloße Verweigerung abdriftende Radikalität und Weite, seine Art, Politik und Geist zusammenbringen zu wollen und nach der Möglichkeit zu forschen, wie „der Blitz des Gedankens in den naiven Volksboden einschlagen kann” (Hölderlin / Marx). Man kann sich heute lange umsehen nach solchem Charisma. Zu seinen Lebzeiten, jedenfalls, solange er noch Kraft hatte, haben wir uns wohl gegenseitig unterschätzt. Deshalb habe ich der von Ihnen erwähnten Widmung hinzugefügt: „Bei Hölderlin, dem weltlichen Revolutionär vom Geiste her, könnten wir uns wiedertreffen in vertiefter Freundschaft.”
Sie haben in Anlehnung an Fichtes fünf Epochen der Vernunftgeschichte davon gesprochen, daß wir noch immer „im Stadium der negativen Befreiung von äußerlichen Autoritäten und zugleich im Stadium der vollkommenen Sündhaftigkeit” stehen. Kann uns der Deutsche Idealismus in dieser Lage helfen?
Der Deutsche Idealismus ist für mich keine historisch abgeschlossene, konservierbare Größe. Er war wesentlich nichts anderes als Reflexions-Systemtheorie und lebt in deren Weiterentwicklungen vital weiter. In dem Sinne kann er uns nicht bloß helfen, sondern ist entscheidend zukunftsträchtig. Dazu müssen wir allerdings das bloß historisierende Verhältnis zu ihm aufgeben, das in den Philosophischen Fachbereichen heute vorherrscht. Wir müssen an denselben, weiter gewachsenen Problemen auf neuen Stufen weiter denken. Dann erst gewinnt das sorgfältige Textstudium seinen vollen Sinn: Es wird zur unvergleichlichen Kraft- und Erleuchtungsquelle, vielmehr zu vergleichen mit unserem eigenen genauen Blick auf die Erfahrungswirklichkeit.
Der Soziologe Wilhelm Hennis hat vor kurzem in einem Interview die These vertreten, daß der „kulturkritische Geist des Widerspruchs” die Deutschen lange Zeit von anderen Nationen unterschieden hätte. Worin sehen Sie die Besonderheit Deutschlands? Gibt es einen deutschen Weg in die Moderne?
In Deutschland ist eine bestimmte Reflexionskultur am stärksten ausgeprägt worden, mit allen Gefahren und Chancen. Ich interpretiere Hölderlin genau so, wenn er im vorletzten Brief seines Hyperions, dem skandalösen Klage- und Anklagebrief über die Deutschen, sprechen läßt: „Ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen.” Das ist nach meiner Deutung die Zerrissenheit der Reflexion, die das „schö ne Leben” spaltet und alle möglichen Spaltungen hervorbringt. Es gibt aber keinen anderen Weg, als diese schicksalhafte kulturelle (nicht blutsmäßige) Belastung als Gabe zu sehen und den Weg mutig zu Ende zu gehen. Daher nochmals die Bedeutung des Deutschen Idealismus, der für den sensiblen Heinrich Heine „eine wichtige, das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit war, und erst die spätesten Enkel werden darüber entscheiden können”.
Diese Stellung der Reflexion war übrigens auch mein tiefster Diskussionspunkt mit Bahro, wie man in seinem Nachwort zum Sprung aus dem Teufelskreis nachlesen kann. Nicht zufällig schließt sich hier der Kreis zum Anfang dieses Interviews. Was die Moderne angeht, so haben wir noch gar nicht begriffen, daß sie nichts anderes als die Epoche der reflexiven Differenzierungen ist, nicht zuletzt der Differenzierung der oben genannten Subsysteme. Wir müssen diese Moderne produktiv und bewußt zu Ende führen und ihre Hausaufgaben erledigen – statt uns etwa mit einigen französischen Essayisten und ihren deutschen Nachahmern in eine vage Postmoderne hinein flüchten zu wollen.
Zu dieser Vollendung der Moderne gehört die theoretische und praktische Durchführung der philosophischen Reflexion unabdingbar dazu. Insofern geht es keineswegs um einen deutschen Sonderweg in die Moderne. Vielmehr müssen sich die Deutschen vom scheinbaren Schlußlicht zur Lokomotive einer endlich durchdachten, nein, praktisch durchgeführten Moderne machen. Genauso sahen es umrißhaft bereits Hölderlin, die deutschen Idealisten wie auch Marx. Wir müssen also, in aller Demut, endlich und mit Verspätung unsere Berufung begreifen. Das war bei der geistlosen Durchführung von industrieller Revolution und katastrophal regressiver Bewegung nach dem Ende der Weimarer Republik gerade nicht der Fall. Die deutschen „Sonderwege” waren meist suchende oder tragische Abirrungen von ihrer eigenen Berufung zu einer Einheit von ganzheitlicher Tiefe und reflexiver Klarheit, was aber die Kritiker dieser Sonderwege am wenigsten begreifen.
Auch wenn es die Philosophen laut Hegel nicht mit dem Prophezeien zu tun haben, möchte ich Sie nach einem Ausblick auf Deutschlands Zukunft fragen. Werden uns Migration, Technikfolgen und Terrorismus auf einen Dritten Weg zwingen?
Wenn Sie mit „Drittem Weg” ein Wirtschaftssystem meinen, das weder kapitalistisch noch „sozialistisch” im verfehlten Sinne ist, bin ich einverstanden. Darum ging es uns ja auch mit der „Humanwirtschaft”. Doch sind die Perspektiven, wie angedeutet, eben viel umfassender als allein wirtschaftlich. Ich glaube aber nicht, daß wir uns zu irgend etwas noch zwingen lassen müssen. Zwang wäre wieder Mangel an Einsicht und Mut, ihr zu folgen. Unsere Berufung und Chance sehe ich gerade in der Verwirklichung von Einsichten.