Beide Untersuchungen ergänzen sich, auch wenn sie verschiedene Themen und verschiedene Fragestellungen behandeln. Die Arbeit von Wells untersucht in erster Linie das Verhältnis der keltischen und germanischen Völker zum Imperium und betont gegen die übliche Auffassung, daß weder die einen noch die anderen als kulturlos zu begreifen sind und sehr wohl über eine entwickelte Gesellschaft, Sprache und Religion verfügten; die Kelten lebten jedenfalls in einer Sozialordnung, die der der mediterranen Welt sehr ähnlich und keineswegs in jeder Hinsicht unterlegen war. Sicher bestand im Fall der Germanen ein größerer Abstand, aber auch sie glichen nicht dem Ideal- oder Zerrbild des „Wilden”. Entsprechend kritisch fällt Wells’ Wertung der zivilisierenden Wirkung römischer Herrschaft über die „indigenen europäischen Völker” aus. Er betont die brutalen Aspekte der Niederwerfung und Machtausübung, ohne zu verkennen, wie bereitwillig viele Kelten und Germanen den römischen Lebensstil annahmen. Dieses Phänomen war vor allem bei den Eliten zu beobachten, die als erste zur Kollaboration übergingen; die Masse der Bevölkerung hielt länger an den Traditionen fest. Interessanterweise bot das die Möglichkeit für eine spätere Neustiftung alter Identitäten.
Wells selbst vergleicht derartige Prozesse ausdrücklich mit denen, die in der heutigen Welt ablaufen. Im Grunde, so seine These, geht es hier wie dort um Anpassung an eine „Globalisierung”, die man sich nur nicht als finalen Zustand vorstellen dürfe, sondern als dynamischen Vorgang, der von zahllosen Unwägbarkeiten mitbestimmt werde. Wie groß dabei die Gefahr eines katastrophalen Umschlags ist, kann man dem Buch von Ward-Perkins entnehmen. Er behandelt jene „Völkerwanderung”, die mit dem Übergang der Goten über die Donau im Jahr 376 begann und mit der Gründung des karolingischen Großreichs im 8. Jahrhundert endete. Ward-Perkins geht es vor allem um die Widerlegung der modischen These von einer „Transformation” der antiken römischen Gesellschaft in ein Frühmittelalter, die nahelegt, es habe sich eigentlich nur ein schiedlich-friedlicher Wandel vollzogen. Er betont demgegenüber die Massivität des Bruchs, und seine Argumente sind eindrucksvoll. Dabei spielen objektive, durch archäologische Funde erhärtete, Daten eine wichtige Rolle. So verweist Ward-Perkins nicht nur auf den Größen- und Gewichtsschwund der Haustierrassen, sondern auch auf den Verlust zentraler technischer Kenntnisse. Eine Amphore, wie sie in dem berühmten Fürstengrab von Sutton Hoo als würdige Beigabe eines angelsächsischen Edlen geborgen wurde, war in besserer Ausführung Massenware der römischen Zeit, die man achtlos zerschlug, sobald sie ihrem Zweck – dem Import von spanischem Olivenöl etwa – gedient hatte; ein Kirchengebäude wie das von Alt-St. Peter, das Anfang des vierten Jahrhunderts errichtet worden war, ließ sich schon wegen seiner Größe in den folgenden Jahrhunderten nicht mehr errichten, die meisten Sakralbauten erreichten kaum das Ausmaß ihres Chorraums.
Neben solchen Befunden steht dann die Interpretation der – zum Teil sehr schmalen – Quellenbasis in bezug auf das Verhältnis zwischen Römern und neuen Herren. Vorstellungen, hier habe es rasch einen Ausgleich gegeben, erteilt Ward-Perkins eine klare Absage. Seiner Meinung nach begann alles mit dem schleichenden Zusammenbruch des Imperiums an den Rändern. Man überließ die Provinzialen nach und nach sich selbst, wer nicht in die sicheren Gebiete ausweichen konnte, mußte selbst für seinen Schutz sorgen. Es bildeten sich in den von Militär entblößten Territorien Bürgerwehren, und einzelne war lords rissen die Macht an sich. Von Dauer waren solche Aushilfen aber nicht, die eindringenden Germanen konnte man so nicht abwehren, es blieb deshalb kaum etwas anderes als Unterwerfung und Anpassung. Der Preis dafür war hoch. Ward-Perkins verweist nicht nur auf jenen römischen Adligen, der selbst Gotisch lernte und seinen Söhnen gotische Vornamen gab, um sich den Mächtigen angenehm zu machen, sondern auch darauf, daß noch um 500 die Lex Salica das Leben eines Franken im Gefolge des Königs für doppelt so wertvoll hielt wie das eines Römers; ähnliche Beispiele für ein ausgebautes und langlebiges Apartheidsystem sind auch aus anderen Germanenreichen bekannt, genauso wie immer wieder aufflammende Pogrome der Einwanderer gegenüber den Autochthonen.
Wer also meint, man könnte Spätantike und Frühmittelalter als beruhigendes Beispiel für eine kulturelle Metamorphose betrachten, sieht sich mit einem Exempel ganz anderer Art konfrontiert: dem Zusammenbruch eines Systems in Folge von Dekadenz im Inneren und wachsendem äußerem Druck, der sich gleichermaßen über friedliche Einwanderung und militärische Bedrohung aufbaute. Zu einem „Kompromiß” zwischen Germanen und Römern kam es jedenfalls erst nach einem sehr langwierigen und konfliktreichen Umbau, und ohne Zweifel mußte dabei die eine Seite ungleich mehr geben als die andere.
Mit einem gewissen Amüsement gibt Ward-Perkins eine Liste von 210 Gründen wieder, die schon als Ursache für den Niedergang Roms genannt wurden: von Aberglaube, Absolutismus, Ackersklaverei über Hauptstadtwechsel, Hedonismus, Homosexualität bis zu Willenslähmung, Wohlstand, Zentralismus, Zölibat, Zweifrontenkrieg. Er selbst glaubt nicht daran, daß es einen einzelnen Grund für den Kollaps gegeben hat, aber ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren. Als Historiker scheut er monokausale Erklärungen und überhaupt die Ableitung billiger Handlungsanweisungen aus geschichtlichen Beispielen, wenngleich er in seinem letzten Satz mahnt, „nicht genauso selbstgefällig zu sein” wie die Römer. Solche Selbstgefälligkeit ist ohne Zweifel eine dauernde Versuchung für den Menschen der westlichen Gegenwart, aber ganz ungebrochen tritt sie kaum jemals auf. Wie ein Vorsatzblatt hat man in das Buch von Ward-Perkins die Wiedergabe eines Stichs von Gustave Doré aus dem Jahr 1873 gesetzt, der einen Mann auf einem Säulenstumpf sitzend zeigt – irgendwann in der Zukunft -, und der sinnend oder zeichnend auf die Überreste einer europäischen Metropole schaut, so wie die Bildungsreisenden die Ruinen des antiken Roms betrachteten. Das Bild bringt eindrucksvoll jenes Bewußtsein der Sterblichkeit der eigenen Zivilisation zum Ausdruck, das die Europäer seit Gibbons Werk über den Untergang des römischen Imperiums nicht mehr loswerden können.