Wenn überhaupt, wurde am 16. Juni 2007 also die deutsche Einheit nur institutionell nachvollzogen, und zwar von einer politischen Kraft, die diese Einheit eigentlich nicht wollte, dann aber wohl oder übel akzeptieren mußte. Dabei ist bemerkenswert, daß der jetzige Fusionspartner aus dem Osten (also die PDS) damals als hervorstechendes Argument für den Erhalt der DDR die besonderen sozialen Errungenschaften nannte, während Lafontaine gegen die Wiedervereinigung jene Befürchtungen aufgriff, wonach neben materiellen Besitzständen vor allem der „europäische Lebensstil” sowie „liberale Qualitäten” der alten Bundesrepublik mit dem Beitritt Mitteldeutschlands auf der Strecke bleiben könnten.
Zutreffender ist da schon die nicht weniger euphorische Aussage, man habe mit der Gründung von „Die Linke” erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Gesamtheit der Sozialisten unter einem organisatorischen Dach vereint. Das umfaßt jetzt also von der westdeutsch demontierten WASG-Seite her jene dissidenten Sozialdemokraten und Gewerkschafter (Maurer, Troost, Ernst) als Apostel einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik mit Anleihen an die SPD der siebziger Jahre genauso wie die altgedienten SED-Kader mit nicht selten nachweisbarer Stasi-Vergangenheit (Bisky, Gysi, Brie).
Zumindest Oskar Lafontaine konnte mit solchen Parteigängern ein gutes Einvernehmen schon vorweisen, als jene noch treue Gefolgsleute der Sozialistischen Einheitspartei waren und er selbst noch als Hoffnungsträger der SPD fungierte. Ihm galt selbst SED-Chef Erich Honecker nicht nur als „verläßlicher Verhandlungs- und Sicherheitspartner”, sondern auch als sein „guter Bekannter”, dessen Forderung nach Anerkennung einer eigenen „DDR-Staatsangehörigkeit” er sich noch 1987 zu eigen machte. Schon der Jungsozialist Lafontaine hatte 1968 gegenüber SED-Vertretern sein Verständnis für die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Armeen der sozialistischen Bruderstaaten geäußert. Folgerichtig strich er als Ministerpräsident des Saarlandes 1988 auch die finanzielle Unterstützung seines Bundeslandes für die „Zentrale Erfassungsstelle” in Salzgitter, die zur Beweissicherung von DDR-Unrecht geschaffen worden war und der SPD-Linken längst als Hindernis beim „Wandel durch Annäherung” ein Dorn im Auge war.
In der positiven Bewertung der Existenz zweier deutscher Staaten waren sich SED und SPD-Linke also grundsätzlich einig, und so gab es gerade deshalb während der staatlichen Teilung eine Linke, die sehr wohl „gesamtdeutsch” war, obwohl (oder vielleicht: weil) sie betonte, daß „sozial vor national” (Lafontaine) rangiere. Schon damals hat der Gleichklang der Interessen etwa beim Thema „Nachrüstung” und „Friedenssicherung” ausgerechnet dem erklärten Nationalstaats-„Überwinder” Oskar Lafontaine den Vorwurf eingebracht, mit seiner antiwestlichen Position – etwa seinem gegen die US-Politik gerichteten Buch Angst vor den Freunden – nationalistischen Thesen Vorschub zu leisten. Ähnlich klingt es, wenn sein „Fremdarbeiter”-Diktum oder der Antiamerikanismus der Linkspartei kritisiert werden; bei Lafontaine lautet die Schlußfolgerung dagegen heute: „Ohne uns wäre die Rechte in Deutschland stark”. In der Juniausgabe der Zeitschrift Sozialismus heißt es über dieses Verdienst der neuen politischen Kraft: „Der Gründungskonsens der Linkspartei besteht denn auch darin, der Unterrepräsentation von Lohnabhängigen sowie von Beziehern von Transfereinkommen entgegenzutreten und deren mögliche Hinwendung zu rechtsradikalen Positionen zu verhindern. Artikulation und Verteidigung sozialer Interessen ist in dieser Perspektive ein Beitrag zur Demokratisierung der Bundesrepublik, die politisch gegenwärtig durch neoliberalen Totalitarismus mit der Option auf einen rechtsradikalen Antiliberalismus geprägt ist.” Kurz gesagt, bleibt „Antifaschismus” weiterhin ein wesentliches Kennzeichen der sozialistischen Linken, so wie es Gregor Gysi bereits 1990 erkannt hatte: Wenn es schon nicht mehr aussichtsreich war, für den Erhalt der DDR zu kämpfen, dann doch umso mehr gegen „die Rechten”.
Wohin?
Naturgemäß überwiegt bei den Sozialdemokraten noch der Groll gegen den abtrünnigen Ex-Vorsitzenden, überwiegt die Angst vor dem weiteren Verlust von früheren Wählern und Anhängern aus dem Gewerkschaftsmilieu, überwiegt der Ärger, nun bundesweit eine neue Konkurrenz bekommen zu haben, durch welche (erneut) die eigene Profilierung von links herausgefordert wird. Ohne Zweifel schadet „Die Linke” aktuell am meisten der SPD, die bei der Bürgerschaftswahl in Bremen im Vergleich zur letzten Bundestagswahl mehr als ein Drittel ihrer Wähler einbüßte, während die Linkspartei auf Anhieb den Einzug in Fraktionsstärke schaffte und in bundesweiten Umfragen derzeit bei zehn Prozent liegt. Das legt eine Zusammenarbeit momentan nicht gerade nahe. Auch kann die SPD in nächster Zeit ohne politischen Gesichtsverlust weder von den Reformen im Sozialsystem unter der Regierung Schröder noch von ihrer Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr abrücken, während umgekehrt genau dies „Die Linke” zur conditio sine qua non einer Zusammenarbeit mit der SPD macht. Aber trotzdem müssen die landauf, landab vernehmbaren feierlichsten Schwüre prominenter SPD-Vorstände, man werde niemals auf Bundesebene mit der Linkspartei zusammengehen, als leere Hülsen gewertet werden.
Die Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit den Postkommunisten war über Jahre ein sozialdemokratischer Grundkonsens nach der Wiedervereinigung; das war allein schon aus zwei Gründen nachvollziehbar: Erstens mit Blick auf die eigene Parteigeschichte, also auf die Zwangsvereinigung mit der KPD in der sowjetisch besetzten Zone und auf den entsprechend kämpferischen Widerstand seitens der West-SPD unter Kurt Schumacher. Und zweitens unter Berücksichtigung des Erbes der Bürgerrechtsbewegung in der DDR des Jahres 1989, das über die SDP in die gesamtdeutsche SPD eingeflossen ist. Doch solche wohlbegründeten Distanzierungen hielten der Versuchung in Gestalt einer Machterringung via Mehrheitsbeschaffung durch die PDS nicht lange stand. Im Mai 1998 ließ sich Reinhard Höppner (SPD) seine Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt von der ehemaligen DDR-Staatspartei tolerieren, im November desselben Jahres bildete sein Parteifreund Harald Ringstorff in Mecklenburg-Vorpommern gar die erste rot-rote Koalition. Seinem Beispiel folgte im Jahre 2001 die SPD in der Hauptstadt, die eine Große Koalition platzen ließ und seitdem mit der PDS regiert.
Gesetzt den Fall, daß mittelfristig die entscheidenden (personenbezogenen) Animositäten zwischen der Führungsriege einer durch weitere Wahlschlappen entmutigten SPD und der Linkspartei nicht mehr als so gravierend wahrgenommen werden, steht garantiert ein sozialdemokratischer „Hoffnungsträger” – Klaus Wowereit(?) – parat, der unter Verweis auf positive Erfahrungen in der Landespolitik seine Partei zum Abwurf solchen Bedenkenballasts ermuntern wird.
Denn trotz der Einbußen, die die Sozialdemokraten hinnehmen müssen, verändern sich die strukturellen Mehrheitsverhältnisse nicht zuungunsten der Parteien links der Mitte. Bereits bei der Bundestagswahl 2005 haben die Verluste von SPD und Grünen in etwa dem Gewinn entsprochen, den die PDS verbuchen konnte. Die Schwäche der eigenen Partei in eine Stärke des „linken Lagers” umzumünzen – darin könnte für die SPD dereinst die Verlockung eines „strategischen Schwenks” hin zum rot-rot-grünen Bündnis auf Bundesebene liegen, wie Stefan Dietrich in der FAZ mutmaßte. Tatsächlich hatten bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 zum letzten Mal die bürgerlichen Parteien gemeinsam eine Mehrheit im Parlament; eine Legislaturperiode später kamen Unionsparteien und FDP nur noch auf 48,4 Prozent und bei der letzten Wahl war das Verhältnis 45 Prozent „rechts” zu 51 Prozent „links”. In aktuellen Umfragen hat sich diese Tendenz zugunsten von Rot-Rot-Grün noch verstärkt.
Der SPD eröffnete sich so also eine weitere Option mittels einer linken Mehrheit an der Macht zu bleiben beziehungsweise diese zu erringen; ganz abgesehen davon, daß ein Zusammengehen mit der FDP oder – notfalls – der Union nicht ausgeschlossen wäre. Solche Gedankenspiele werden umso realistischer, je stärker der sogenannte „Konzentrationsgrad” der Volksparteien zugunsten der „Kleinen” weiter abnimmt. Daß der Union da eigentlich nur die FDP bleibt, die bei Landtagswahlen nicht selten die Fünfprozenthürde fürchten muß, macht ihre mißliche Lage bewußt. Mittelbar könnte den Christdemokraten der Aufstieg der Linkspartei also mehr schaden als der SPD. Vor diesem Hintergrund ist auch das regelmäßig in der Öffentlichkeit zelebrierte „Nachdenken” einiger CDU-Granden über eventuelle schwarz-grüne Koalitionen weniger eine auf politischen Übereinstimmungen fußende Option als vielmehr ein Zeichen von Nervosität. Wenn absolute Mehrheiten immer unwahrscheinlicher werden, verbleiben der Union in dieser Konstellation nur mehr mögliche Koalitionspartner, die – so unterschiedlich sie auch sein mögen – links von ihr stehen. Auf die Position eines divide et impera mit der Chance, aus der parteipolitischen Zersplitterung der Linken langfristig profitieren zu können, wie dies den Bürgerlichen in Frankreich durchaus schon gelungen ist, sollten sich CDU und CSU nicht verlassen. Zumal noch nicht einmal in Ansätzen zu erkennen ist, daß sie das Erfolgskonzept des französischen Präsidenten Sarkozy übernehmen (könnten), mit einem inhaltlich prononciert rechten Wahlkampf die Wähler vom radikalen Rand zu sich zu holen.
Ebenso trügerisch wäre die Hoffnung, das Thema Linkspartei sei nur ein politisches Strohfeuer und erledige sich spätestens mit der weiteren konjunkturellen Erholung von selbst. Denn Vorsicht scheint geboten bei Prognosen, die ein baldiges Ende der neuen Linken vorhersehen. Sicher wird die Partei vor Zerreißproben stehen, wenn orthodoxe Marxisten (Ost) auf keynesianisch argumentierende Sozialstaatsverfechter (West) treffen, das Lager der „Systemoppositionellen” gegen den Flügel der „Reformer” in Position geht oder man sich über die Frage eines möglichen Mitregierens in die Haare bekommt.
Solche Auseinandersetzungen gab es in der „alten” PDS auch schon; weder sie noch die Schlappe bei der Bundestagswahl 2002 haben ihr Ende eingeläutet. In ihrem (noch) aktuellen Parteiprogramm hat sich die Linkspartei diesbezüglich nämlich eines sehr pragmatischen „Sowohl-als-auch” bedient: „In der PDS haben sowohl Menschen einen Platz, die der kapitalistischen Gesellschaft Widerstand entgegensetzen wollen und die gegebenen Verhältnisse fundamental ablehnen, als auch jene, die ihren Widerstand damit verbinden, die gegebenen Verhältnisse positiv zu verändern und schrittweise zu überwinden.”
Gewarnt seien auch all jene, die beruhigt meinen, mit der Linkspartei werde es trotz eventuell zu verzeichnender Überraschungserfolge in den Ländern ein ähnliches Ende nehmen wie bei den meisten rechten Fraktionen, die dem Groll der Wähler gegen die Volksparteien ihren Aufstieg verdankten, sich sodann aber meist selbst zerfleischten und rasch in die Bedeutungslosigkeit (zurück-)sanken. Dem ist entgegenzuhalten, daß selbst die Politneulinge der (westdeutsch dominierten) ehemaligen WASG meistens dennoch alte Hasen im Geschäft sind. Das gilt nicht nur für die Prominenten wie Lafontaine oder den früheren Vorsitzenden der SPDLandtagsfraktion in Baden-Württemberg, Ulrich Maurer, sondern sogar für die große Zahl derer, die sich zuvor in diversen erfolglosen linken Kleinstgruppierungen getummelt haben. Vor allem kann „Die Linke” auf etwas zählen, was bei „den Rechten” nur rudimentär vorhanden ist: eine feste Verwurzelung im nahestehenden Milieu. Von Gewerkschaften über Sozialverbände bis zu „Antifa”-Gruppen stehen hier Vorfeldorganisationen bereit, die ideelle und personelle Verstärkung bieten können. Erinnert sei nur an das Beispiel der Grünen, die sich trotz heftigster parteiinterner Auseinandersetzungen, anarchischer Zustände im Gründungsstadium, diversen programmatischen Häutungen und herber Wahlrückschläge als Partei (und Koalitionspartner) links der SPD behaupten konnten.
Daß Lafontaine auch als SPD-Kanzlerkandidat 1990 trotz der damals im ganzem Land herrschenden nationalen Euphorie („Wir sind ein Volk!”) an seiner maximal skeptischen Haltung zur Wiedervereinigung festhielt, galt manchen Beobachtern damals schon als ein deutliches Anzeichen dafür, daß er „eine Position vertrat, die in breiteren Schichten der Mitglieder und der Anhängerschaft der SPD geteilt wurde” (Dieter Groh / Peter Brandt). Eine solche Gewißheit scheint der Saarländer auch bei seinen heutigen politischen Positionen zu haben, ungeachtet der Tatsache, daß er die Zustimmung der sozialdemokratischen Basis jetzt von außen her erobern muß. Seine Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht. Der verstorbene SPD-Vordenker Peter Glotz meinte einst feststellen zu können, die „Linke will keine Linke und die Rechte will keine Rechte mehr sein”. Bezogen auf erstere ist diese Feststellung mit Sicherheit unzutreffend.